Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2004. In der SZ warnt Michael Lentz anlässlich des Kunkel-Falls vor einer "Tabupolizei" in den deutschen Feuilletons. Außerdem erinnert die SZ an einen kapitalen Irrtum Michel Foucaults, während die taz findet, dass Foucault bis heute recht hat. In der  NZZ warnt Boris Schumatsky vor neuem Chauvinismus in Russland. Und der 200 Jahre tote Kant gewinnt den FAZ-Gehirnstreit.

SZ, 11.02.2004

Viel drin heute: Der Schriftsteller (mehr) Michael Lentz befürchtet angesichts der jüngsten Feuilletondebatte über Thor Kunkel das Herannahen einer neuen Tabupolizei. "Autobiografie, Fiktion, Pornografie. Echte Literatur, kolportierende Literatur, dem Zeitgeist beischlafende Literatur. Das sind die Schnellkochtöpfe des Gerichts, das derzeit über die Einfalls- und Ausfallserscheinungen so genannter Neuerscheinungen b(e)rät. Manche Richtsprüche scheinen nicht nur mit heißer Nadel gestrickt zu sein. Welcher Art ist das suggerierte kulturelle Unbehagen, das die öffentliche Diskussion befällt, welche Angst greift hier Raum - und vor was? Kann das mal jemand sagen?"

Der Kollege Navid Kermani (mehr) erinnert an die iranische Revolution vor 25 Jahren, an Michel Foucaults kapitalen Irrtum und die revolutionären Untoten der Gegenwart. "Als hätte die Schallplatte einen Sprung, ist die Rhetorik der Revolution erstarrt zu einer unveränderlichen Litanei, die zu den Freitagspredigten und Aufmärschen, auf den Straßengemälden und im Staatsfernsehen aufgelegt wird, um das Schweigen zu übertönen. Und dennoch hört das Regime nicht auf zu existieren."

Weitere Artikel: Julia Encke träumt, dass dem versnobten Josef Ackermann der Proceß a la Kafka gemacht wird. Prinz Bernhard der Niederlande hat mit den Kritikern seiner bewegten Vergangenheit in einem Offenen Brief abgerechnet, berichtet Siggi Weidemann. Natürlich lesen wir auch von den zwei Männer auf der Berlinale: Tobias Kniebe stellt die Beiträge von Kim Ki-Duk und Patty Jenkins vor, während Hans Schifferle Filme von Akerman, Lifshitz und Veiel gesehen hat. Susan Vahabzadeh verrät Tom Tykwers weitere Pläne mit seinem Kurzfilm "True". Thomas Meyer spürt nach einem Vortrag des Philosophieprofessors Reinhard Brandt (mehr) in München, dass die Zeit der Geisteswissenschaften unwiderruflich abläuft.

Jorg Häntzschel hat läuten hören, dass die altehrwürdige New York Times Book Review auf modern getrimmt werden soll. "midt" denkt sich die Kultur als das Meer, um die Querelen um die Freiburger Theaterintendantin Amelie Niermeyer zu verstehen. "enc" gratuliert der Erfinderin des Minirocks Mary Quant (die englische und japanische Homepage) zum Siebzigsten. Wilfried Seipel, Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums in Wien, schreibt zum Tode des Ägyptologen Arne Eggebrecht. Patrick Krause verabschiedet den verstorbenen Philosophen Ernst Vollrath. Johannes Willms ist dem japanischen Romanisten Kazuo Kiriu sehr dankbar für die heldenhafte Erstellung einer digitalisierten Balzac-Konkordanz, die auch noch frei zugänglich im Netz zu benutzen ist. Und Lothar Müller erwähnt in einer kurzen Mitteilung die Legende, wie Beckett auf Godot gekommen ist (zu beiden Artikeln siehe auch unsere Magazinrundschau).

Auf der Medienseite entdeckt Nina Berendonk, dass die Zeitungshäuser nun gezielt auf ältere Leser eingehen. Besprochen werden heute nur zwei Bücher, und zwar Andreas Herberg-Rothes knappe, aber "gedankenreiche" Darstellung "Der Krieg. Geschichte und Gegenwart" sowie die Festschrift für Dieter Hennebo "Historische Gärten heute" (siehe auch unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 11.02.2004

Die FR befasst sich noch einmal mit der Causa Nordhoff (mehr dazu hier und hier). Die Amtszeit des umstrittenen Frankfurter Kulturdezernenten Hans-Bernhard Nordhoff (mehr) soll bis 2010 verlängert werden, was laut Christian Thomas einer Katastrophe gleich käme. "Tatsächlich muss man Nordhoffs Bilanz als eine stattliche Sammlung kommunaler Versäumnisse lesen. Dabei hat er seine Pflichtvergessenheit und Unterlassungen gleichermaßen verteilt, er hat sie auf die unterschiedlichsten Institutionen und Sparten in gewisser Weise flächendeckend ausgedehnt. Mal traf es das Schauspiel, mal das TAT, mal das Forsythe-Ballett, mal das Architektur-Museum, mal den Beltz-Nachlass, mal den Weggang Kasper Königs, mal die Initiative zu einem Ernst-May-Museum, mal den in die Kritik und ökonomisch unter Druck geratenen Buchmessestandort Frankfurt am Main."

Weitere Artikel: Michael Kohler erlebt auf der Berlinale den programmierten Skandal neben inszeniertem Elend. Rudolf Walther findet, dass Bernard-Henri Levy in seiner Reaktion auf die Kritik von William Dalrymple an seinem Buch über den Tod von Daniel Pearl eine ziemlich schlechte Figur macht. Hans-Jürgen Linke weiß nach einem Besuch der Technik-Museen in Mannheim und Berlin jetzt alles über E-Gitarren. Gabriela Vitiello stellt das internationale Fotoprojekt Vues Imprenables vor, in dem Bewohner sozial heruntergekommener Viertel ihre Lebenswelt mit einer Camera Obscura festgehalten haben. In Times mager echauffiert sich Silke Hohmann über Timberlake, Knowles und die ganze voyeuristische Verlogenheit der Popwelt. Gemeldet wird schließlich, dass der wunderbare österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr (mehr) mit dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis ausgezeichnet worden ist.

Besprechungen widmen sich Friedrich Cerhas und Peter Turrinis Oper über den "Riesen vom Steinfeld", John von Düffels "halbherzigem" Stück "Kur-Guerilla" an der Off-Bühne Wartburg, und Büchern, darunter Greg Palasts Schimpftirade auf das korrupte Amerika "Shame on you!", Jurij Mamlejews Roman "Die irrlichternde Zeit" sowie Adolf Frises Erinnerungen "Wir leben immer mehrere Leben." (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 11.02.2004

Dorothea Hahn unterhält sich auf der Meinungsseite mit Theo Klein (mehr) über die neue Gewalt gegen Juden in Frankreich. Der aber kritisiert auch die eigenen Glaubensbrüder. "Man sagt mir: Verteidigen Sie Ihre Ideen bei uns, aber veröffentlichen Sie sie nicht in Le Monde. Das ist die Mentalität des Ghettos, die jahrhundertelang unsere war. Das Ghetto ist ein Ort, wo die Juden zusammen sind und wissen, dass jenseits der Mauern Gegner sind, mit denen der Dialog unmöglich ist. Für die Beziehungen nach außen braucht das Ghetto einen Beschützer. Das ist heute Amerika. Scharons Räsonnement ist das Ghetto. Er sagt: Um die israelische Armee zu mobilisieren, brauche ich 48 Stunden. Also brauche ich Positionen, die weit vom Zentrum entfernt sind."

Jan Engelmann hat für das Feuilleton Michel Foucaults Studie über das Gefängnis neu gelesen und begreift das Zuchthaus als die "perfekte symbolische Form, die dem kapitalistischen Bedürfnis nach Normierung Rechnung trägt". In der zweiten taz entdeckt Clemens Niedenthal bestechende Parallelen zwischen Popgeschäft und Biermarkt (mehr). Die Krise kommt dem Pop gerade recht, denn sie ist sein Wesenszug, behauptet ergänzend Arno Frank auf der zweiten Meinungsseite. Bettina Gaus dagegen langweilt sich in ihrer Glosse bei "Christiansen" und fürchtet sich vor Guido Westerwelles Privatleben.

Auf der Medienseite ekelt sich Silke Mohr vor der Reality-Show Apprentice von Baulöwe Donald Trump: "die turbokapitalistische Selbstbeweihräucherung eines miesen Moguls". Und eine einsame Besprechung widmet sich der Ausstellung "Zeitgenössische Fotokunst aus Griechenland" im Berliner Kunstverein.

Und Tom nicht vergessen.

NZZ, 11.02.2004

Für den russischen Autor Boris Schumatsky mehren sich die Anzeichen, dass unter Wladimir Putin in Russland die liberale Phase zu Ende geht. "Die kulturelle Situation in Russland wird immer deutlicher von einer neuen 'nationalen Idee' geprägt", in der Kirche, Kultur und Kontrolle Hand in Hand gehen. "Heute reagieren die russischen Schriftsteller und Künstler auf die Anzeichen einer autoritären Wende nicht etwa mit erhöhtem politischem Engagement, im Gegenteil, die Intelligenz greift zu erprobten historischen Verhaltensmustern. Während sich eine Minderheit wieder auf eine Dissidentenexistenz vorbereitet, mehren sich in der russischen Kulturszene die Stimmen, die dem Staat eifrig ihre Dienste anbieten und um Geld betteln. Ein Begriff aus der sowjetischen Vergangenheit ist erneut in aller Munde: goszakaz - der staatliche Auftrag."

Alexandra Stäheli zieht eine recht zufriedene Zwischenbilanz der Berlinale - abgesehen von der "seltsam selbstreferenziellen Eröffnungsfeier, auf der vor allem Berlin als Hauptstadt des Films und der roten Teppiche bejubelt wurde". Das Motto sollte aber nicht, wie von Dieter Kosslick ausgegeben, "hope and humor" lauten, sondern "pain and politics". "So leuchten zerrüttete Ehen, verschleppte Kinder und verzweifelte Abtreibungen die eher persönlichen Problematiken dieses qualitativ insgesamt sehr befriedigenden Wettbewerbs aus."

Besprochen werden die "spektakuläre" Ausstellung farbiger Antiken-Skulpturen in der Münchner Glyptothek und Bücher, darunter zwei Publikationen zur Geschichte und Ideologie der Männlichkeit und Joseph O'Connors Roman "Die Überfahrt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 11.02.2004

Im Rahmen der FAZ-Gehirnmeisterschaften lässt der Philosoph Ottfried Höffe den 200 Jahre toten Kant auf der Seite des FC Willensfreiheit gegen die Determinatoren Wolf Singer und Gerhard Roth antreten. Das Spiel geht am Ende von Höffes schönem, wenn auch nicht ganz leichtem Text, 1 zu 0 für Willensfreiheit aus: "Ohne jeden moralisierenden Unterton bestimmt sich die Moral bei Kant als die absolute Höchstform des Guten. Und erst ihr entspricht der philosophische Begriff von Willensfreiheit. Nicht in einem Willensruck besteht sie, sondern in dem Umstand, dass der Wille keinem fremden, sondern dem eigenen Gesetz folgt. Dass man um eines Vorteils, vor allem des Überlebens willen gelegentlich unmoralisch handelt und beispielsweise lügt, hält jeder für möglich. Ebenso hält er es aber für möglich, die Lüge zu verweigern. Daher fährt Kant fort, über den Menschen zu sagen: 'Er urteilt also, dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.'" Könnte man es nicht dabei belassen?

Weitere Artikel: Andreas Rossmann sieht die Bewerbung Kölns als Kulturhauptstadt im Jahr 2010 in der Leitglosse recht skeptisch. Dieter Bartetzko wendet sich gegen einen vom Retro-Architekten Kollhoff zu verantwortenden Entwurf einer Kopie der Leipziger Universitätskirche, die von Kollhoff-Bauten aus der Expressionismuskiste umzingelt werden soll. Oliver Tolmein fragt: "Gegen wen kann der Internationale Strafgerichtshof vorgehen?"

Auf der Berlinale-Seite feiert Peter Körte Romuald Karmakars Film "Die Nacht singt ihre Lieder" nach einem Stück von Jon Fosse als "Folterkammerspiel". Tilman Spreckelsen würdigt die Beiträge des Kinderfilmfests. Und außerdem geht's um die Filme "Before Sunset" von Richard Linklater, "Demain, on demenage" von Chantal Akerman und "Baad Asss" von Melvin van Peebles in der Retrospektive.

Auf der Stilseite stellt Jürgen Dollase die These auf, dass "nur geschickte Taktik Bioprodukten Erfolg verschaffen" kann. Und Ingeborg Harms gratuliert Mary Quant, der "Mutter des Minirocks" zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite fragt Stephan Kuss, ob vom Online-Journalismus, der großenteils von Quereinsteigern ohne Voluntariat betrieben wird, jemals die Qualität, sagen wir, des FAZ-Feuilletons erreicht werden kann - aber immerhin kann man jetzt an der FH Darmstadt den Studiengang zum "Diplom-Online-Journalist" beschreiten.

Auf der letzen Seite erzählen Jerome Dwight Maryon und Susanne Klingenstein den Fall eines amerikanischen Ehepaars, das sich zerstritt und vor Gericht ging, weil sie mit künstlicher Befruchtung ein Kind bekam, das er nicht wollte. Karoline Stürmer berichtet von einer Veranstaltung der Leibniz-Gemeinschaft in Berlin, die der angstbereiten Öffentlichkeit die Angst vor der Nanotechnologie von vornherein nehmen will. Und Patrick Bahners erinnert an den großen Historiker Friedrich Meinecke.

Besprochen werden Achim von Borries' Film "Was nützt die Liebe in Gedanken" (mehr hier), das Stuttgarter "Eclat"-Festival für Neue Musik, ein Auftritt des stets noch aktiven Udo Lindenberg in Frankfurt und Schillers "Jungfrau von Orleans" in Düsseldorf.