Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.02.2004. Menschliche Zellen wurden erstmals geklont. Große Aufregung in der FAZ, selbst beim Theaterkritiker. In der NZZ wägt Faraj Sarkohi die Chancen auf eine samtene Revolution im Iran ab. In der FR schreibt Richard Wagner einen Nachruf auf Gerhard Schröder - außerdem verteidigt die FR Romuald Karmakars umstrittenen neuen Film. Die taz erkundet dasVerhältnis von Migrantenkindern zur Nazizeit.

FAZ, 13.02.2004

Große Aufregung: "Menschliche Embryonen in Südkorea geklont", meldet der Aufmacher auf Seite 1 der FAZ. Erstmals gelang es südkoreanischen Forschern, sogenannte Blastozyten zu erzeugen, fortgeschrittene Enbryonen mit etwa 200 Zellen, und hieraus Stammzelllinien anzulegen, wie das Team um den Biologen Woo Suk Hwang in der heutigen Ausgabe von Science berichtet. (Man darf einen Artikel lesen, allerdings nach umständlicher Registrierungsprozedur).

Schon auf Seite 1 der FAZ kommentiert Christian Schwägerl: "Begierig werden in diesen Scharlatan-Kreisen die neuen Informationen gelesen."

Auf Seite 1 des Feuilletons zeigt sich der Genforscher und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ernst-Ludwig Winnacker recht skeptisch über den Sinn des "therapeutischen Klonens", von dem man sich erhofft, dass es etwa Parkinson-Patienten helfen könnte. Medizinisch gibt es hier noch einen unüberwindlichen Berg von Hindernissen. Und auch praktisch wäre die Sache nicht einfach: "Erstens müssten Linien geklonter embryonaler Stammzellen für jeden Patienten immer neu hergestellt und auf ihre Verwendbarkeit getestet werden. Zweitens ergäbe sich das Problem der Eizellspende...Drittens haben therapeutisches und reproduktives Klonen dasselbe Zwischenprodukt, so dass mit Versuchen dieser Art der erste Schritt zum reproduktiven Klonen getan ist."

Christian Schwägerl fordert in einem zweiten Kommentar ein Innehalten und illustriert die Bedeutsamkeit des Moments wie folgt: "Goethe würde umgehend nach Seoul reisen, um einen Blick in die Kühlschränke des 'College of Veterinary Medicine' zu werfen. Nietzsche wäre vor Aufregung dem Infarkt nahe. Und Kant würde vielleicht aus Überwältigung für einen Moment aufhören zu denken." Auf Seite 2 des Feuilletons finden wir noch ein Gespräch, das Joachim Müller-Jung mit dem Molekularbiologe Rudolf Jaenisch führte: "Es ist wahnsinnig wichtig, dass diese Forschung von renommierten Einrichtungen gemacht wird und nicht von irgendwelchen Scharlatanen. Die Politik der Amerikaner und der Deutschen wird dazu führen, dass vieles im verborgenen gemacht wird, getrieben von kommerziellen Interessen."

Ferner weist Gerhard Stadelmaier darauf hin, dass das jüngste Theater den südkoreanischen Forschern weit voraus ist und in seinen Stücken regelmäßig Figuren wie Hitler klonen lässt, und bittet die Forscher, die Kunst nicht nachzuahmen. "Das wäre fade und unfair. Schon deshalb sollten die Wissenschaftler mit dem Klon-Unfug aufhören."

Weitere Artikel: Patrick Bahners stellt in der Leitglosse die Frage, ob es sich bei den Heiligen drei Königen vielleicht um Königinnen handelte. Dieter Bartetzko freut sich über das von den Architekten Hülsdell & Hallegger entworfene neue Halberstädter Rathaus. Gemeldet wird, das der Städtetag in einer symbolischen Entscheidung das eigenständige Kulturdezernat abschafft. Andreas Platthaus erinnert in einem Artikel zum Übernahmekampf um den Disney-Konzern daran, dass dieser schon öfter um sein Überleben kämpfen musste. Arnold Bartetzky berichtet über den immer hitzigeren Streit über die Bebauung des Leipziger Campus-Geländes um die abgerissene Universitätskirche und plädiert nochmals gegen "Kolhoffs Fiebertraum" (dieser Architekt will die Kirche neu bauen und in monumentalen Eigenbauten gefangen setzen). "B.E." erinnert an die "Frankfurter Küche", einen von Grete Schütte-Lihotzky (1897-2000) in der Weimarer Zeit entworfenen Vorläufer der Einbauküche - eines der letzten existierenden Exemplare aus der Küche von Adornos Schwägerin Helene Calvelli-Adorno gelangte jetzt ins Germanische Nationalmuseum Nürnberg.

Auf der Berlinaleseite bespricht Andreas Kilb Theo Angelopulos' neues Opus "Die Erde weint" im Wettbewerb. Außerdem geht's um den japanischen Action-Film "Hard Luck Hero" (von Andreas Platthaus dringend empfohlen), um polnische und ungarische Filme im Forum. Und Verena Lueken beginnt ihre Kritik von Helga Reidemeisters feministischem Dokumentarfilm "Texas - Kabul" mit dem denkwürdigen Satz: "Frauen wollen niemals Krieg, Amerikaner immer."

Auf der Sachbuchseite wird einmal die Rezensionsroutine durch eine Debatte unterbrochen. Ein von dem Innsbrucker Althistoriker Christoph Ulf herausgegebenes Buch , "Der neue Streit um Troia", versucht den Akademikerstreit um die Ausgrabungen in Troia zu resümieren. Besprochen wird er einerseits von Joachim Latacz ("Troia und Homer"), einem emeritierten Gräzisten der Universität Basel, und Wolf-Dietrich Niemeier, die auf der Seite des Tübinger Prähistorikers und gegenwärtigen Ausgräbers Troias Manfred Korfmann stehen, und andererseits von Hartwin Brandt, der auf der Seite des Korfmann-Kritikers Frank Kolb steht. Viel Spaß beim Auseinanderfieseln!

Auf der Medienseite stellt Verena Lueken den Berlinale-Dokumentarfilm "Control Room" von Jehane Noujaim vor, der den arabischen Nachrichtensender Al Dschazira im Blick hat. Michael Hanfeld schildert das zickige Verhältnis von Regierung und Bild-Zeitung. Und Jordan Mejias erklärt, "warum Disney die Übernahme droht".

Auf der letzten Seite stellt Hansgeorg Hermann anlässlich des griechischen Wahlkampfs fest: "Griechenlands Gesellschaft ist seit Jahrzehnten vom dynastischen Prinzip geprägt." Peter Rawert gratuliert dem "Mozart des Rechts" Karsten Schmidt, der sich in seinen Aufsätzen mit kniffligen Fragen wie den "Schiedsklauseln in Konnossementen unter einer Charterparty" befasst, zum Fünfundsechzigsten (das ist ja das allerneueste, nun kriegt man auch noch Artikel zum Fünfundsechzigsten!)

Besprochen werden ein Konzert des London Philharmonic Orchestra in Frankfurt, "Harry und Sally" mit Alyson Hannigan und Luke Perry im Haymarket Theatre, Thomas Ades Oper nach Shakespeares "Sturm" in London.

NZZ, 13.02.2004

Der iranische Schriftsteller Faraj Sarkohi wägt die Chancen auf eine "samtene Revolution" im Iran ab: "Nach mehreren Jahren der Desillusionierung hat sich die Bevölkerungsmehrheit von den Reformern um Präsident Khatami abgewandt. Man befürchtet, dass die progressiv orientierten Wähler den kommenden Parlamentswahlen aus schierer Frustration fernbleiben werden. Die Enttäuschung der Menschen über die religiösen Reformer führte jedoch nicht dazu, dass sie sich gänzlich von der Politik abwandten. Während der Streit der religiösen Reformer mit dem Wächterrat weitergeht, sucht die Bevölkerungsmehrheit nach anderen Wegen.... In Iran haben mehr als zehn Millionen Menschen Zugang zum Internet. In den letzten zehn Jahren nahmen jährlich rund drei Millionen Iraner Englischunterricht."

Weiteres: Paul Jandl schwärmt von der "epischen Gemächlichkeit" des österreichischen Schriftstellers und Moralisten Antonio Fian, in dessen Händen das Dramolett "nicht weniger eine Waffe der Notwehr als bei Thomas Bernhard" sei, und Klaus Bartels verschafft uns Orientierung zwischen "Orient" und "Okzident".

Besprochen werden die Francois-Morellet-Ausstellung "Morellet (+ ou -) intime" in Reutlingen, die Aufführung der Oper "The Tempest" von Thomas Ades an der Royal Opera London, Nancy Meyers' romantische Komödie "Something's Gotta Give" und Takeshi Kitanos Wiederbelebung des Samuraifilms "Zatoichi". Schließlich resümiert Claudia Schwartz die im Panorama und auf dem 34. Forum des jungen Films gezeigten Filme, die "die Welt mit fremden Augen sehen".

FR, 13.02.2004

Trotz einiger Makel ist für Rüdiger Suchsland Romuald Karmakars "Die Nacht singt ihre Lieder" (wir berichteten) ein seltener Lichtblick auf der Berlinale: "In seinen starken Augenblicken wirkt das alles wie bei Fassbinder oder Bergman, in seinen schwachen aber leider wie ein Derrick aus den späten 70ern." Aber der bisher schönste Film des gesamten Wettbewerbs ist Kim Ki-Duks visuelle Passionsgeschichte "Samaria" (wir berichteten), die merkwürdige Liebesgeschichte zwischen einem Zuhälter und einer Prostituierten.

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Richard Wagner schreibt schon mal einen Nachruf auf Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Deutschland zwangsgerettet hat. In Times mager wundert sich Peter Michalzik nicht nur über das Demokratie-Verständnis, sondern auch das Kant-Verständnis, das Politikverständnis und das Menschenbild von Franz Frey, dem Unterbezirksvorsitzenden der Frankfurter SPD.

Und einige Meldungen: Die Bayern sind die besseren Preußen: Der bayerische Kunstminister Thomas Goppel hat sich amüsant gegen eine Umbenennung der Stiftung des Preußischen Kulturbesitzes in "Stiftung des Deutschen Kulturbesitzes" ausgesprochen. Die diesjährigen Erich-Schelling-Preise für Architektur und Theorie gehen an Benjamin Foerster-Baldenius und Manuel Castells. Es ist noch unklar, ob Martin Walser den Verlag wechselt.

Auf der Medienseite gibt sich Christian Schlüter skeptisch, was die bevorstehende 3sat-Philosophie-Reihe (heute Kant in vierfacher Ausfertigung zu seinem 200. Todestag) betrifft. Markus Brauck stellt Gert Scobel vor, der sich in der ersten Folge seiner neuen Kultursendung Delta auf die Suche "nach dem neuen Kant, dem unbekannten Kant und dem Kant von heute" macht. Aus Paris berichtet Hans-Helmut Kohl von den Folgen des Rohrkrepierers, der in Frankreich für Aufregung gesorgt hat: In den Abendnachrichten des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders France 2 hatte man den Rücktritt von Alain Juppe behauptet, der zeitgleich auf dem Privatsender TF1 erklärte, er würde im Amt bleiben. Nun muss nicht Alain Juppe gehen, sondern Nachrichten-Chef Olivier Mazerolle.

TAZ, 13.02.2004

Im Gespräch mit der Soziologin Viola B. Georgi hat Stefan Reinecke erfahren, dass für die in Deutschland lebenden Migrantenkinder der Umgang mit dem Holocaust sehr wichtig ist als Äußerung der Zugehörigkeit. "Sehr plastisch hat dies ein türkischer Jugendlicher beschrieben, der freiwillig an einer Fahrt zu einer KZ-Gedenkstätte in Tschechien teilgenommen hat. Dort, sagt er, hat er sich zum ersten Mal wirklich als Deutscher gefühlt." Für Georgi vertreten die Migrantenjugendlichen sogar eine Art Erinnerungs-Avantgarde: "Den vorherrschenden Erinnerungstypus bei Migrantenkindern kann man postnational oder postethnisch nennen - und ich habe Zweifel, ob dies bei deutschen Jugendlichen auch so ist. Diese postnationale Erinnerung hat keine national-kulturellen Bezüge. Kurzum: Für viele Migrantenkinder ist es unwichtig, dass die Täter deutsch und die Opfer jüdisch waren. Der Referenzpunkt ist die Menschheit. Die Täter waren Menschen, die den Opfern unermessliches Leid angetan haben - und deshalb interessiert es sie als Mensch, was damals geschah."

Weitere Artikel: Silke Burmester sucht verzweifelt nach einem "unaufrichtigen SPD-Politiker vom Kaliber Roland Kochs". Aus Paris berichtet Dorothea Hahn vom andauernden Streik der öffentlich-rechtlichen Radiosender. Und Robin Alexander erzählt, wie sein letzter Einkauf sein Schicksal doch nicht veränderte.

Besprochen werden zwei Alben: einmal "The Real New Fall Album Formerly, Country On The Click'" von den patriarchisch klingenden The Fall und Knarf Rellöm With The Shi Sha Shöllems popkritische Pop-Scheibe "Einbildung ist auch ne Bildung".

Auf den Berlinaleseiten gibt es ein Gespräch mit Catherine Breillat über ihren Film "Anatomie de lenfer"; "Das weibliche Geschlecht fasziniert und erschreckt zugleich. Die Frau in meinem Film bietet sich dem Blick des Mannes an und daraus entsteht Verführung, Anziehung. Da Amira Casar nicht alle Nahaufnahmen spielen wollte, habe ich dafür eine andere, stärker behaarte Frau engagiert. So sieht ihr Geschlecht beinahe wie der Alptraum eines Mannes aus."

Jan Distelmeier war dabei, als der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, Geoffrey Nowell-Smith und Peter Krämer über die Filme der New-Hollywood-Retrospektive diskutierten. Besprochen werden Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag "Gegen die Wand", der Dokumentarfilm "Final Solution" über die hindu-muslimischen Konflikte Indiens, "Out of the Forest", ein Film über die Massenerschießungen von Juden in Vilnius, Theo Angelopolous Wettbewerbsfilm "Die Erde weint" und "Avanim", ein Film des israelischen Regisseurs Raphael Nadjari.

Schließlich TOM.

SZ, 13.02.2004

Alex Rühle ärgert sich über die bayerischen Schulreformpläne und über deren Diät-Jargon: "Das G8 (Gymnasium in acht Jahren) soll angeblich weit weniger Stoff vermitteln als das alte Gymnasium; dennoch soll es laut CSU zum weltweiten 'Vorzeigestück' werden. Wo aber soll man den Deutschunterricht 'abspecken', wenn schon heute die Universitäten über das rudimentäre Ausdrucksvermögen vieler Abiturienten so entsetzt sind, dass sie über Eingangsprüfungen nachdenken? Und warum wird über den bayerischen Lehrplan, auf den man bislang mit Recht stolz war, plötzlich geredet wie über ein übergewichtiges Kind?"

Es gibt sie, die virtuelle Gesundheitsberaterin des deutschen Gesundheitsministeriums. Sie heißt Clara, und Kurt Kister hat sich mit ihr 'unterhalten': "Ich: Kant ist schon so lange tot. Clara: Die Liebe zur Weisheit zeichnet den Philosophen aus. Ich: Ach was, Weisheit. Ich möchte eine Atombombe. Clara: Respekt für Ihr Interesse an physikalischen Themen. Ich: Die würde ich auf Berlin werfen. Clara: Ich kann Ihnen keine Auskünfte zu einzelnen Krankenkassen geben. Ich: Ich glaube nicht, dass meine Krankenkasse eine Atombombe bezahlt. Clara: Das Sterbegeld und das Entbindungsgeld werden nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt."

Weitere Artikel: Thomas Kniebe beobachtet amüsiert, wie sich Berlin und Cannes um den Che reißen. Jörg Häntzschel entwirft ein Soziogramm des magischen Disney-Königreichs. "Chs" gratuliert Pop-Ikone Robbie Williams zum Dreißigsten, und dazu, dass er ihn noch erlebt hat. In der Kolumne erfahren wir von "pst", warum sich Hillary Clinton ihren Platz auf der Liste der 25 "härtesten Jungs Amerikas" verdient hat. Alexander Kissler prophezeit eine neue Epoche in der deutschen Biopolitik.

Besprochen werden die Münchner Gesamtaufführung von Wagners "Ring", Thomas Heises Film "Vaterland", Andras Schiffs klangmirakulöses Münchner Beethoven-Konzert, Peter Verhelsts "Romeo und Julia" am Schauspiel Frankfurt, labyrinthische Filme aus Asien im Berlinale-Forum, Fatih Akins "Gegen die Wand", Omar Naiims "The Final Cut" und Joshua Marstons "Maria voll der Gnaden" - alle im Berlinale-Wettbewerb, und Bücher - Hans-Heinrich Noltes Russlandsgeschichte, Colson Whiteheads Roman "John Henry Days", Robert Harris' Historienroman "Pompeji" und der Sammelband "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).