Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2004. Die SZ konstatiert einen immer schwächeren Originalitätsbegriff in der neuesten Kunst, den sie sich aber immer teurer bezahlen lässt. Für die taz besucht Gabriele Goettle einen Experten für Kriminalgeschichte in Wien. Die NZZ warnt vor Glättungsgefahren bei der Übersetzung Paul Celans ins Ungarische. Die FAZ am Sonntag brachte ein Interview mit Sibel Kekilli über die von der Bild losgetretene Affäre um ihre Vergangenheit als Pornodarstellerin.

SZ, 23.02.2004

Angesichts der Frankfurter Warhol-Ausstellung macht sich Jörg Heiser lohnende Gedanken über den immer schwächeren Orginalitätsbegriff in der modernen Kunst. "Piero Manzoni (mehr) ließ 1961 neunzig Dosen mit 'Merda d?artista' anfertigen (so sehen sie aus) - ihr Preis war ihr Gewicht in Gold. Yves Klein (mehr) tauscht im Jahr darauf eine 'immaterielle Zone anschaulicher Sensibilität' gegen Goldbarren, die er sogleich in die Seine wirft, bevor der Käufer feierlich seine Quittung verbrennen musste. Luis Camnitzer (mehr) verkauft Ende der Sechziger seine Unterschrift zentimeterweise (darf's a bisserl mehr sein?). Und Elaine Sturtevant (mehr) überbietet sie alle mit der exakten Kopie der Kopie: sie bat bereits Mitte der Sechziger Warhol um dessen Siebdruckfolien, um damit Replikas seiner 'Blumenbilder' (Beispiel) zu machen, die ja selbst wiederum auf einer Kodak-Werbung basierten. Warhol willigte selbstverständlich ein." Dazu passt Richard Wagners Essay in der NZZ vom Wochenende.

Einen Einblick in die politische Gefühlswelt der Dänen bietet Christoph Bartmann in seinem Artikel über den dort gerade wogenden Kulturkampf. "Vielleicht sehnen sie sich nur nach ein bisschen mehr Sozialdemokratie und ein bisschen weniger bürgerlicher Offensive. Ein Indiz dafür könnte der sensationelle Erfolg einer Fernsehserie sein, die derzeit am Sonntagabend bis zu 50 Prozent der Bevölkerung vor den Bildschirm lockt und von der schon zu lesen war, sie könnte den Sozialdemokraten zum Wahlsieg verhelfen."

Weitere Artikel: Andrian Kreye sieht den Kampf um die Homo-Ehe in den USA als letzte Front der Bürgerrechtsbewegung. C. Bernd Sucher schwärmt von Robert Walser (mehr) und der Entdeckung von dessen Prosatexten für die Bühne. "jby" hält es mit Klaus Wowereit und einen Festakt für entlassene Ost-Wissenschaftler für unnötig. Thomas Lemke spürt dem Modewort "Gen" nach. Volker Breidecker berichtet im Krimistil, wie die blutige Verschwörung der Pazzi jetzt aufgeklärt wurde, nach 526 Jahren. Wilhelm G. Jacobs gedenkt des verstorbenen Philosophen und Kantianers Hermann Krings. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Filmemachers Jean Rouch.

Auf der Medienseite fürchtet Ralf Wiegand angesichts der Kündigung der Fotoredakteure in der taz Hamburg, dass sich die einst idyllische taz wie alle anderen in ein neoliberales Blatt verwandelt. Lesenswert sind auch Hans Hoffs Eindrücke von der "Verstehen Sie Spaß?"-Jubiläumssendung, mit Frank Elstner als "moderierende Ein-Mann-Uno-Schutztruppe".

Besprochen werden Atom Egoyans "verstörender" Film "Ararat" über den Völkermord an den Armeniern, zwei Münchner Ausstellungen über Italien als Exil von 1933 bis 1945 (mehr), und Bücher, darunter Hubert Winkels' "nicht immer beflügelte" Anthologie "Beste deutsche Erzähler 2003", eine Auswahl der Lyrik des persischen Mystikers Dschlaaluddin Rumi "Gedichte aus dem Diwan" sowie Judith M. Browns kritische Biografie der indischen Legende "Nehru" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 23.02.2004

Das Harald-Schmidt-Pensum haben Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt in Zürich erfüllt, als sie Jacques Offenbachs musikalische Boufferie "La Grande-Duchesse de Gerolstein" auf die Bühne brachten, berichtet Hans-Klaus Jungheinrich. Mehr aber auch nicht. Das Potenzial von Offenbachs frivoler Staaatsoperette schien selten durch. "Kaum etwas davon bei Jürgen Flimm, der zwar alles Exaggerierte, Klamaukhafte vermied, aber den Reigen seiner munter plätschernden Einfälle bloß hübsch und harmlos arrangierte. Die Militärchargen waren von Anfang an trottelig und läppisch. So brauchte sich ihre Pappigkeit nicht aus scheinbar bedrohlichem Bramarbasieren herauszuentwickeln. Gänzlich abgeschliffen auch die hierarchischen Anstößigkeiten, die dem Ganzen spielverderberisch-vergnüglichen Pfiff gegeben hätten. Da blieb, als einzig überdurchschnittliche Geistreichigkeit, das Jonglieren in mehreren Sprachen, unter Verwendung aktuell-probater Schäkereien a la Harald Schmidt mit Tagesgrößen wie Schorsch Dabbeljuh oder Dieter Bohlen. Für die Fastnachts-Bütt hat's gereicht."

Sebastian Moll erklärt einiges zum Umbau des MoMA und warum man sich für Yashiro Taniguchi statt für Rem Kohlhaas entschieden hat. In Times mager weist Petra Kohse auf das Rollenspiel hin, dass die Bundesregierung ins Netz gestellt hat. Gemeldet wird, dass Denys Arcands Kinohit "Die Invasion der Barbaren" die meisten Cesars bekommen hat.

Besprochen werden zwei grundverschiedene Aufführungen von Schillers "Jungfrau von Orleans" in Hannover und Düsseldorf, und Bücher, nämlich Ines Geipels Analyse des Erfurter Amoklaufs "Für heute reicht's" sowie Karl-Markus Gauß' Beobachtungen aus der Ostslowakei "Die Hundeesser von Svinia" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 23.02.2004

"Möchten sie Wiener Hochquellwasser zum Kaffee, bitte?" Gabriele Goettle besucht in Wien einen Experten für Kriminal- und Zeitgeschichte, und wie so oft sind die beiläufigen Beobachtungen drum herum schon die Lektüre der 923 Zeilen wert. "Frau Seyrl, nebst einem Töchterlein, begrüßen uns kurz, Herr Seyrl schenkt Kaffee nach, lehnt sich zurück, legt die Fingerspitzen beider Hände vor der Brust aufeinander und fährt fort: 'Dieser Fleischhauer hat also die Rinderherden nach Wien getrieben - Direktimporte - hierher, in dieses Haus. Die wurden unten im Hof geschlachtet ? ja, also unvorstellbar! Bis 1910 ist es immer wieder vorgekommen, dass irgendwelche Ochsen entwichen sind, durch die Straßen galoppiert sind ...'"

Auf der Meinungsseite erklärt Katharina Rutschky, warum sie trotz aller Erbitterung über von Kopf bis Fuß verhüllte Frauen, gegen ein Kopftuchverbot ist: "Es wäre wirklich gescheiter gewesen, wenn Frau Schavan Frau Ludin ... nicht wegen des Kopftuchs von der Übernahme in den Schuldienst ausgeschlossen hätte. Man hätte dann gesehen, wie sie mit Kollegen, Kindern und Eltern zurechtkommt - und ob sie im Hinblick auf Lehrplan und Schulleben so aus der Reihe tanzt, dass eine Verbeamtung nicht in Frage kommt. Eher schon die Entlassung. Im einen Fall wäre das Kopftuch und die dahinter stehende Überzeugung einer Lehrerin wünschenswert trivialisiert, als private Schrulle respektiert und abgebucht worden. Im anderen Fall wäre man Frau Ludin losgeworden, ohne dass sie ein Grundrecht, an das sie so wenig wie irgendein Gläubiger wirklich glaubt - das Recht auf Religionsfreiheit und auf Freiheit von Religion -, hätte in Anspruch nehmen, ja quasi gegen Frau Schavan verteidigen können."

Weiteres: Jan Feddersen besucht für die zweite taz Ralf König (mehr), den feinen und gereiften Beobachter der Schwulenszene ("Erstens sind wir schwul, und zweitens kriegen wir zwei Eisportionen gemischtes Eis"), und empfiehlt dessen neuen Comic. Auf der Medienseite erfahren wir von Dorothea Hahn, wie der populäre französische TV-Komiker Dieudonne sich mit Scherzen über Israel ins Abseits gewitzelt hat und sich nun als Opfer einer jüdischen Verschwörung sieht.

Interessant ist schließlich das Tagesthemen-Interview mit dem Wissenschaftler und Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker über die Grenzen der Privatisierung. Zur Veranschaulichung präsentiert Hannes Koch Beispiele aus Südafrika, Tansania und Manila.

Und dann noch Tom.

NZZ, 23.02.2004

Die Kollegen von der NZZ scheinen ein kleines technisches Problem zu haben. Wir fassen die Artikel deshalb unverlinkt zusammen.

Wilhelm Droste sinniert anlässlich der Versuche, Paul Celan ins Ungarische zu übertragen, über die Ähnlichkeiten von Land und Dichter: "Paul Celan ging es ein Leben lang wie den Ungarn. Auch er lebte in sprachlicher Hermetik. Was er wirklich zu sagen hatte, fand seine Sprache in einer Dichtung, die niemand versteht. Sein Deutsch war stets eine winzige Insel im endlosen Meer der ihn umspülenden Sprachen. Doch er sprach, und wie jede Sprache hatte auch seine - wie er selbst mehrfach betonte - den elementaren Drang zum Anderen." Droste warnt gerade angesichts der hermetischen Sprache Celans vor der "Glättungsgefahr" bei der Übersetzung und fragt skeptisch: "Müsste Celan wie der späte Hölderlin nicht einfach nachgestammelt werden, blind und sklavisch, um wenigstens etwas von ihrer irritierenden Poesie im Medium des Anderen zu retten?"

Weiteres: In einem ausführlichen Artikel lässt Bernd Flessner die illusionsreiche Geschichte der Marseuphorie Revue passieren. Georges Waser berichtet von der "Inthronisierung" eines eigenen schottischen Hofdichters. Und Uwe Justus Wenzel porträtiert den kürzlich verstorbenen Philosophen Hermann Krings.

Besprochen werden die Aufführungen von Jacques Offenbachs Opera bouffe "La Grande-Duchesse de Gerolstein" im Opernhaus Zürich, Schostakowitschs Opernerstling "Die Nase" im Theater Basel, Beethovens Schauspielmusik zu Goethes "Egmont", mit der die Camerata Salzburg in der Tonhalle Zürich gastierte, und Anna Viebrocks Inszenierung von Robert Walsers frühem Roman "Geschwister Tanner" am Schauspielhaus Zürich ("ein traum- oder albtraumhaftes poeme en scene").

FAZ, 23.02.2004

Wolfgang Sandner feiert ein Konzert Gerd Albrechts mit der Tschechischen Philharmonie in Prag als Sensation - Albrecht war aus nationalistischen Motiven vor einigen Jahren aus der Position des Chefdirigenten gedrängt worden, nun hat man sich also versöhnt. Abgedruckt wird die Dankesrede Asfa-Wossen Asserates, der für sein gefeiertes Buch "Manieren" den Chamisso-Preis bekam (in der Rede verteidigte er sich auch gegen den Vorwurf, er habe das Buch gar nicht selbst geschrieben). In der Leitglosse kritisiert Joseph Croitoru anlässlich der Anhörung in Den Haag zum antipalästinensischen Zaun die Israelis, die nur an der "Inszenierung ihrer Opferrolle" interessiert seien. In der Reihe über die Lage des Christentums in Europa berichtet Rainer Hermann aus Istanbul, wo er erfreut feststellte, dass die langanhaltende Diskriminierung der christlichen Minderheit an Schärfe verliert. Oliver Jungen gratuliert dem Mediävisten Alois Maria Haas zum Sechzigsten. Wolfgang Sandner gratuliert dem Bluesgitarristen Johnny Winter zum ebensovielten.

Auf der Medienseite fordert Nikolai Badinski in seiner Eigenschaft als Berliner Radiohörer ein besseres Kulturradio für Berlin und Brandenburg. In der Reihe über "Stimmen" schreibt Klaus Ungerer über das Nuscheln. Ulrich Friese meldet, dass der Independent on Sunday nun auch im Tabloid-Format erscheint. Und Michael Hanfeld berichtet über einen Streit von ARD und ZDF mit der Gesellschaft Kabel Deutschland, die die ihre digitalen Programme für ihren Geschmack nicht weit genug vorne in ihrem Bouquet präsentiert.

Verwiesen sei auch auf das Interview mit Sibel Kekilli aus der FAZ am Sonntag. Die Schauspielerin aus dem Film "Gegen die Wand", der den Goldenen Bären gewann, äußert sich zu der von der Bild-Zeitung losgetretenen Affäre um ihre Vergangenheit als Pornodarstellerin: "Ich war jung und brauchte Geld. Und daß ich diese Filme gemacht habe, das war vielleicht auch eine Art Rebellion."

Auf der letzten Seite liest Tilman Spreckelsen aus gegebenem Anlass Karl Immermanns Novelle "Der Carnaval und die Somnanbüle". Niklas Maak porträtiert den belgischen Aktionskünstler Francis Alys, der den mit 77.000 Euro dotierten BlueOrange-Kunstpreis erhält. Und Andreas Rosenfelder begrüßt ein Gerichtsurteil, wonach eine in einem Pyramidenspiel Geschädigte keinen Anspruch auf Schadenersatz hat.

Besprochen werden ein Konzert des Elektronikduos Air, Robert Walsers Stück "Geschwister Tanner" im Zürcher Schauspiel, ein "musikalisch formidabler" (so Julia Spinola) "Wozzeck" in Dresden, Werner Fritschs Schauspiel "Bach. Traumspiel" in Darmstadt, der Film "Autobahnraser" und eine Ausstellung des Malers Reiner Ruthenbeck im Museum Folkwang Essen.