Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2004. Die SZ untersucht den Einfluss des Aramäischen auf den Koran. Die FR sieht Amerika und Frankreich als gegenseitige Projektionen ihrer Neurosen. Die NZZ findet, dass die Moma-Ausstellung in Berlin nichts Neues bietet. Die FAZ meditiert über die Augenbinde Stauffenbergs.

SZ, 24.02.2004

Sehr interessant - und sehr verständlich - sind zwei Beiträge, die sich mit dem Problem der Koranübersetzung ins Deutsche beschäftigen - und mit den religiös-politischen Konsequenzen, die eine philologische Beschäftigung mit dem Koran haben kann.

In einem Gespräch erläutert zunächst der Islamwissenschaftler und Koranübersetzer Christoph Luxenberg (der sich ein Pseudonym zugelegt hat) seinen Ansatz, die zahlreichen "dunklen Stellen" des Korans durch Rückgriff auf das Syro-Aramäische neu zu interpretieren. "Da Arabisch vor dem Koran noch keine Schriftsprache war, lag es nahe, dass das Aramäische, das bis dahin als Schriftsprache gedient hatte und die Lingua franca im westasiatischen Raum gewesen war (4. bis 7. Jh. n. Chr.), im besonderen Maße zu berücksichtigen sei." Was der Koran dann zum Beispiel zum Kopftuch sagt, erklärt Luxenberger so: "In einer Passage in Sure 24 Vers 31 heißt es arabisch verstanden: 'Sie sollen sich ihre ''Chumur'' auf ihre Taschen schlagen!' Diese unverständliche Passage wurde dann so interpretiert: 'Sie sollen ihre Kopftücher über ihre Brüste ziehen'. Syro-aramäisch ist es aber so zu verstehen: 'Sie sollen sich ihre Gürtel um die Lenden (ihre Taille) schnallen'."

Luxenbergs Kollege Stefan Wild kommentiert ergänzend die Vorteile und Schwierigkeiten, die Luxenbergs "Syro-Aramäische Lesart des Koran" mit sich bringt (mehr zu dem Buch 2000 erschienenen Buchs lesen Sie hier oder hier).

Weiteres: Gustav Seibt findet es beunruhigend, das bereits jetzt über Vermittlungsprobleme bei den Reformen geredet wird - bisher ist doch kaum etwas passiert: "Wie soll ein Rentensystem funktionieren, wenn auf einen Beiträger ein Rentner kommt? Und wie soll die Gesundheitsversorgung aussehen, wenn 50 Prozent der Bevölkerung über fünfzig Jahre alt sind?" Passend dazu referiert Alexander Kissler tief gerührt die Reform-Agenda der Deutschen Bank, in der diese - zumindest für den Rest des Landes - einen "neuen Wertekanon, das Ende des Lobbyismus und den Abschied vom 'Karrierepolitiker'" fordert - und Leistung muss sich wieder lohnen! Christine Brinck resümiert eine Madrider Tagung über Don Quichote und die "Schönheit des Windmühlenkampfs". Henning Klüver berichtet über den Karneval in Venedig als inszeniertes "Kulturereignis". Gudrun Schury besuchte etliche Dichter-Gräber, Jens Malte Fischer gratuliert der italienischen Sopranistin Renata Scotto zum 70. Geburtstag, und "lmue" stellt die neueste Ummantelungs-Variante für die lästigen Warnaufdrucke auf Zigarettenpackungen vor: den abgeschlossenen Zigarettenroman, derzeit aus der Feder von Maxim Biller, Doris Dörrie, Wladimir Kaminer, Helmut Krausser und Joseph von Westphalen.

Jochen Wagner stimmt milieuübergreifend auf das heutige Fußballspiel Real Madrid gegen Bayern München ein ("die Konstellation am Fußballhimmel ist so selten wie die von Saturn und Jupiter im Stern von Bethlehem"), und in der Zwischenzeit beschäftigen Hermann Unterstöger seltsame Sprachwendungen wie etwa zehnmal oder viermal weniger (Ist das nun "ein Zehntel, ein Viertel oder was? Eine uralte Mathematikschwäche mahnt uns, die Finger von der Sache zu lassen.") Und auf der Medienseite versucht ARD-Programmdirektor Günter Struve, die gegenwärtige Schwemme von Karnevalssendungen zu legitimieren ("Die Menschen wollen gar nicht im Einzelnen verstehen, sie wollen dieses Taraaa-Taraaa-Taraaa, dann wissen sie, es war lustig").

Besprochen werden die Düsseldorfer Ausstellung "Video - 25 Jahre Videoästhetik", die Rezensent Dirk Peitz an ihrem "Geschichtsbild" scheitern sieht, eine Inszenierung der Kalman-Operette "Gräfin Mariza" am Münchner Gärtnerplatztheater, eine Aufführung von Schillers "Jungfrau von Orleans" am Schauspiel Hannover, eine Londoner Präsentation des "geheimnisvollsten Werks der Popgeschichte", Brain Wilsons verschollenes Konzept-Album "Smile" ("Nicht eine Pop-Symphonie, sondern ein Kinderzimmer-Pandämonium tobt auf der Bühne, dass es nur so schrillt und sägt und kreischt und jault und trötet") und das als "zauberhaft" gelobte Filmdebüt "April Burns" von Peter Hedges.

Außerdem wie immer Bücher, so Hans-Joachim Schädlichs Roman über Verräter "Anders", eine Studie über die "Wissenschaft des Raubdrucks" im 18. Jahrhundert, ein Buch des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor, über die "Sprache der Gewalt" in Israel, der bisher nur auf englisch erschienene Reisebericht einer Britin afghanischer Herkunft ins Land ihrer Väter und eine Untersuchung über Nutzung, Wahrnehmung und Wirkung deutscher Politiker-TV-Duelle (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 24.02.2004

In einem ausholenden Essay verortet Heribert Kuhn Form und Funktion des Politischen Aschermittwoch der CSU, der in diesem Jahr in einer neuen Halle begangen wird. Aufbauend auf eine Sentenz, die Thomas Mann den bayrischen Prototypen Alois Permaneder in seinen "Buddenbrooks" sagen lässt - "Is dös a Hetz!... Es is halt a Kreiz!" -, kann Kuhn Sinn, Form und Zweck dieses "Tags der Abrechnung" entwickeln: "Das Rezept der Veranstaltung, die Jahr für Jahr Reisegruppen aus dem ganzen Bundesgebiet anzieht, lautet: Berauschung durch Ernüchterung. Erreicht wird dies mittels 'Dialekt'. Nicht indem etwa echter Dialekt gesprochen würde, sondern dadurch, dass das affektive Ablaufschema, auf das die bayerische Mundart längst reduziert ist, der Rhetorik ihre Dynamik vorgibt. Die Erregungskurve geht von der 'Hetz' (= Totalität des Weltbetriebs) zum 'Kreiz' (= Nichtigkeit all dessen) zu neuer 'Hetz' (= Richtigkeit des eigenen Rausches)." Klingt ziemlich einleuchtend.

Martina Meister berichtet von neuen Fronten im französisch-amerikanischen Kulturkampf. Ihr Befund: "Es sieht ganz so aus, als seien Frankreich wie die USA für beide Beteiligten ideale Projektionsflächen in den jeweiligen kollektiven Neurosen. Für die Amerikaner repräsentieren die Franzosen mehr als andere Europäer den Hochmut der alten Nationen, ihre kulturelle Arroganz und natürlich auch den Widerstand gegen den Unilateralismus der Bush-Regierung. In Frankreich hat sich stattdessen die verdrückte Europaphobie der vergangenen Jahre in klaren Antiamerikanismus verwandelt."

Weiteres: Alexander Kluy informiert über eine Tagung am Bauhaus Dessau, auf der es um "schrumpfende Städte" ging. Und in Times mager weiß Hans-Jürgen Linke Beruhigendes über nicht wirklich erwartbare Bedrohungen durch dunkle Energien aus dem Weltraum zu sagen, obwohl das Teleskop Hubble offenbar schon sehr bald gar nichts mehr sehen wird, "erst recht keine Dunkle Energie".

Besprochen werden eine Inszenierung von Rainald Goetz' Stück "Jeff Koons" an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin und eine Bühnenversion von Robert Walsers Roman "Geschwister Tanner" am Schauspielhaus Zürich.

TAZ, 24.02.2004

Die gegenwärtige Debatte um Elite-Unis stelle einen "Grundfehler" dar, argumentiert Jürgen Busche in einem historisch angelegten Essay zum Thema Elitenbildung. Sie lasse sich nämlich nicht einfach dadurch erzwingen, dass man "die Tüchtigsten auswählt und in besonderen Lehrinstituten zusammenfasst". "In der Bildungspolitik ist oft von Eliten die Rede, aber da provoziert der Gedanke an Eliteförderung zunächst zwei Arten von Widersprüchen, die einander widersprechen. Nach der einen bedeutet Bildung die Vermehrung von Lebenschancen, muss also allen in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Dieser Widerspruch krankt daran, dass hier Begabung Nebensache wird. Die andere Art von Widerspruch kreist um die Erfahrung, dass geförderte Eliten in der rauen Wirklichkeit des Lebens oft nicht das leisten, was man von ihnen erwartet."

Im zweiten Teil seiner kleinen "Soziologie der Erziehung" fragt Dirk Baecker heute nach nach der strukturellen Funktion von "Erziehungsangeboten". Markus Bickel berichtet über eine teilweise schwierige gemeinsame Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung und einer Hisbollah-nahen Institution über die "Islamische Welt und Europa".

Auf der zweiten Meinungsseite informiert Niklaus Hablützel über einen Studenten, der auf Veranlassung von Jan Philipp Reemtsma anwaltliche Post erhielt, weil er auf seiner Web-Site zwei Adorno-Texte veröffentlichte, an denen Reemtsma die Rechte besitzt. Und auf der Medienseite lesen wir ein Interview mit dem Berliner Korrespondenten von al-Arabia, der Konkurrenz von al-Dschasira, die seit einem Jahr auf Sendung ist. Außerdem wundert sich Steffen Grimberg über den unangefochtenen Aboprämienhit Armbanduhr.

Ansonsten gibt es heute Kurzbesprechungen, unter anderem von Romanen von Georg M. Oswald (hier), Dennis Cooper (hier) und Sarah Khan (hier) (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 24.02.2004

Claudia Schwartz vermisst bei der großen "MoMA in Berlin"-Schau die deutschen Expressionisten und bedauert, dass die Ausstellung "in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht" nichts Neues biete. "Der reine, auf eine Erfolgsgeschichte hin geschriebene Kanon, bei dem gleich einem Stafettenlauf alles harmonisch ineinander greift, nie etwas fällt, keine Brüche, Widersprüche, Rückschläge zu verzeichnen sind, lässt allerdings in seiner Erhabenheit auch ein wenig jenen Funkensprung vermissen, der durch Reibung entsteht."

Weiteres: Gerhard Gnauck blickt anlässlich einer Umfrage, nach der die Frau des derzeitigen polnischen Präsidenten, Jolanta Kwasniewska, mit 34 Prozent der Stimmen ihren Mann bei der nächsten Wahl ablösen könnte, den polnischen Frauen nach, den Heldinnen der Doppelbelastung, die den polnischen Muttermythos und den Markt gleichermaßen bedienen müssen. Barbara von Reibnitz ist begeistert von einem Doppelheft der Zeitschrift "Ästhetik und Kommunikation" zum Thema "Geschichtsgefühl", und Aldo Keel erinnert in einem Kurzporträt an die kürzlich verstorbene isländische Schriftstellerin Svava Jakobsdottir.

Besprochen werden Christian Sedelmayers Inszenierung von Verdis Oper "Un ballo in maschera" im Theater Luzern, ein Kammermusikabend mit dem Amati-Quartett in der Tonhalle Zürich und Bücher, darunter die von Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb herausgegebene Anthologie "Inventur. Deutsches Lesebuch 1945-2003", Dorota Maslowskas Roman "Schneeweiß und Russenrot" und die Neuausgabe von Alexander Granachs Autobiografie "Da geht ein Mensch" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 24.02.2004

Sieben Absätze lang erklärt Michael Jeismann - sich von allgemeinen Erwägungen zu Abel Gance" "J"accuse" vorabeitend - wie der Film unser Gedächtnis prägt. Im achten kommt er dann zum Punkt: es geht um die Filme über den 20. Juli, die ins Haus stehen. "Bei dem Stauffenberg-Film gibt es ein Detail, das völlig kontingent und belanglos erscheinen könnte, zeigte es nicht an, wie sich Bilder eigene Verwandtschaften suchen und herstellen, denen der Zuschauer sich schwer entziehen kann. Denn auf die merkwürdigste Weise korrespondiert die Augenbinde Stauffenbergs in dem Film mit jener, die Piraten in den entsprechenden Filmen tragen. Es ist ein ikonographisches Detail, das Stauffenberg über alle historische Differenz und Wahrscheinlichkeit zusammen mit dem israelischen Helden Moshe Dajan in eine Galerie der Gegenwartsbilder in reale und fiktionale Zusammenhänge stellt und in dieser Individualisierung eine persönliche Identifizierung ebenso ermöglicht wie eine größtmögliche Abstraktion: unterhaltsame Zivilcourage als historisches abstract."

Weitere Artikel: Indien und Pakistan spielen wieder Kricket gegeneinander, berichtet Martin Kämpchen. Er hofft, dass es dabei keine blutigen Köpfe gibt, denn "Kricketspiele verstehen beide Länder als patriotischen Akt, bei dem die eigene Mannschaft leidenschaftlich unterstützt wird." Unter der saftigen Überschrift "Nicht gewählt, nicht befugt und konkurrenzlos unfähig" beschreibt der Germanist Theodor Ickler den Beirat zur Rechtschreibreform: "Neben einigen eher blassen Vertretern von nur am Rande orthografisch interessierten Institutionen (zum Beispiel Deutsches Institut für Normung) sitzen im Beirat die großen Wörterbuchverlage und der einflußreiche Verband der Schulbuchverlage (VDS Bildungsmedien) ... Es gibt ferner ein Mitglied, das offiziell die Lehrerorganisationen im Deutschen Gewerkschaftsbund vertritt, in Wirklichkeit aber eine florierende Rechtschreibberatung für gehobene Ansprüche betreibt." Manuela Lenzen war bei einem Symposium in Bielefeld über Public Health Genetic. Dieter Bartetzko beschreibt den Frankfurter Westhafen als architektonische Perle. Und Gerhard Rohde beobachtet beim Europäischen Festival für Neues Musiktheater in Düsseldorfer eine neue Experimentierlust: Inszeniert wird nicht mehr im Opernhaus, sondern in Tanzschulen, Kliniken und sogar in einem Kuhstall.

Für die Medienseite hat Michael Hanfeld den Geschäftsführer der Frankfurter Rundschau besucht, Günter Kamissek, und beschreibt mit großer Sympathie dessen Bemühungen, das Blatt zur retten. Auf der letzten Seite porträtiert Edo Reents Rudi Carrell. Arnold Schwarzenegger hat angeregt, die amerikanische Verfassung zu ändern, die zur Zeit noch verbietet, dass ein Einwanderer Präsident werden darf, erzählt Heinrich Wefing. Paul Ingendaay hat die kubanische Zigarrenfabrik Partagas besucht und dort dem Vorleser zugehört.

Besprochen werden eine Ausstellung von Haarlemer Genremalerei aus dem 17. Jahrhundert in der Hamburger Kunsthalle, Jürgen Flimms Inszenierung der "Großherzogin von Gerolstein", ein Konzert von Thomas Pigor und Benedikt Eichhorn beim Stuttgarter Chansonfest, eine Ausstellung der Siemens-Fotosammlung in der Münchner Pinakothek der Moderne und zwei Opern von Reinhard Keiser in Hamburg und Karlsruhe.