Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2004. Die Oscars werden allgemein recht lau kommentiert. Die taz gratuliert dem Moog-Synthesizer zum Vierzigsten. Die NZZ warnt vor wachsender Zensur im "leuchtenden Indien".

SZ, 02.03.2004

Die SZ stand heute morgen nocht nicht im Netz. Wir fassen unverlinkt zusammen.

In zwei Texten kommentiert die SZ die Oscar-Verleihungen. Susan Vahabzadeh hält es zwar nicht für unverdient, dass der "Herr der Ringe" tatsächlich all seine elf Nominierungen durchbekommen hat, beklagt aber, dass es "nicht sehr aufregend" sei, "wenn ein Rennen schon entschieden ist, bevor es losgeht". Und Tobias Kniebe kritisiert, dass das "kulturelle Amerika" auf der Oscar-Show "stumm geblieben" sei. "Nichts an diesem Abend war als politisches Statement gedacht - was am Ende das politischste Statement ist, das man machen kann." Da war es eigentlich ganz überflüssig, "dass die Gala nicht mehr live gesendet wurde, sondern mit einer Zeitverzögerung von fünf Sekunden, die es dem Sender ABC erlauben sollte, bestimmte Worte auszublenden".

Weiteres: Alex Rühle berichtet über zwei zum Islam konvertierte Schülerinnen - Töchter eines linksliberalen Anwalts und seiner katholischen Frau -, die im französischen Kopftuchstreit zu Medienstars avancieren. Johann Maas resümiert das Münchner Festival "Neuro - Networking Europe", das auf interessante Art "Demokratie und Netzwerke verlinkt" habe. Olaf Rader war in Rom, wo "Forschungsstand und Perspektiven der Deutschen Mediävistik" vorgelegt wurden. Werner Burkard berichtet über die Deutsche Stiftung Musikleben, die in Hamburg am Wahlsonntag zum 12. Mal ihre teilweise kostbaren Instrumente verlieh.

Lisa Spitz entlarvt das "Meeting" als eine der großen Lebenslügen ("Vermutlich ist die Wirtschaftslage so schlecht, weil die Verantwortlichen in den Betrieben (und Behörden) ständig zusammensitzen und über die schlechte Wirtschaftslage sprechen müssen"). "wink" kommentiert das Versprechen von Ronald Schill, nach Südamerika auszuwandern. In der Zwischenzeit erzählt Joachim Kaiser einige Musiker-Bosheiten.Gemeldet wird die Verleihung des Thieler-Preises an die Berliner Künstlerin Cornelia Schleime und der Verbleib der "art cologne" in Köln.

Besprochen werden eine Inszenierung von Verdis "Don Carlo" in Münster, Koos Terpestras Stück "Spanische Reiter" an der Salzburger Elisabethbühne, das dritte "Scary Movie" von David Zucker, die Schau "The Glory of Baroque Dresden" im Mississippi Arts Pavilion Jackson, die gleich acht sächsische Museen mit ihren Schätzen beschickt haben, und Bücher, darunter Thomas Medicus? als "klug" gelobte Recherche über den in Italien erschossenen Wehrmachtsgeneral Crisoli, der letzte Roman von Helmut Eisendle, ein Erzählungsband von Anke Stelling und eine Analyse der "ohnmächtigen Supermacht" von Michael Mann (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 02.03.2004

Einigermaßen enttäuscht zeigt sich Daniel Kothenschulte im Aufmacher von der notorischen Erwartungserfüllung bei der Oscar-Verleihung (die Gewinner finden Sie hier) und bedauert vor allem die Autoren der Show. "Sie konnten der Macht der sich ein ums andere Mal erfüllenden Siegesprognose wenig entgegensetzen. Dabei hat sich in den vergangenen 13 Jahren - so lange ist es her, dass Billy Crystal zum ersten Mal die Moderation übernahm - der einst in gepflegter Muffigkeit abgehaltene Branchentreff zur bedeutendsten Live-Show der Welt entwickelt."

Michael Braun resümiert ein Symposium zu Gottfried Benn, das "im tief verschneiten Schloss Elmau" bei prominenter Besetzung zu einem weiteren "Kotau vor dem Dichterkönig" geriet. Zwei Nachrufe gelten dem Architekten und Städtebauer Otto Steidle (hier) und dem langjährigen Lektor des S. Fischer Verlags Hellmut Freund (hier). In Times mager ventiliert Harry Nutt die Metaphernwirre des Hamburger Wahlabends ("Erst langsam beginnen die 'Steine im Bauch' zu schmelzen").

Auf der Medienseite kündigt Moritz Küpper eine weitere Staffel von "Big Brother" auf RTL 2 an (komisch: je mehr darüber geschrieben wird, desto rätselhafter wird das Ganze), und Harald Keller beurteilt einen Film von Georg Stefan Troller über Loki Schmidt recht distanziert als bereits bekanntes "Protokoll einer Verweigerung".

Besprochen werden Thomas Langhoffs Inszenierung von Brechts "Mutter Courage" an den Münchner Kammerspielen und eine neue DVD plus CD des Comedy-Akustik-Rock-Duos Tenacious D (mehr hier).

TAZ, 02.03.2004

Auf tazzwei feiert der Moog Synthesizer seinen 40. Geburtstag. Clemens Niedenthal lässt die prägende Klanggeschichte des von Robert Moog entwickelten Instruments noch einmal Revue passieren - von Emerson, Lake & Palmer über Kraftwerk bis zu Robert Wilson und Stockhausen. "Eben noch Ladenhüter auf dem Schrottplatz der Popgeschichte, sind die Moog-Synthesizer längst zur begehrten Ikone, zum coolen Zeichen geworden. Und letztlich wohl auch zum passenden Symbol einer Popmusikgegenwart, die eben ganz ähnlich funktioniert wie Robert Moogs Synthesizer: als fortwährende Modulation bereits bekannter Töne. Als permanentes Filtern der Klangarchive." Eine kleine Aufstellung von "Platten, die ohne Robert Moog und seinen Moog-Synthesizer ganz anders oder gar nicht klingen würden" finden Sie hier.

In seiner "Kleinen Soziologie der Erziehung" stellt Dirk Baecker auf den Kulturseiten den Soziologen Talcott Parsons vor, der Intelligenz definierte als "die generalisierte Fähigkeit zum Umgang mit Wissen, die hinreichend dazu motiviert, Erziehungsangebote zu formulieren und anzunehmen", und schlägt vor, diese Definition zu verallgemeinern und auf alle Erziehungsbereiche zu erweitern. "Das Kommunikationsmedium Intelligenz bietet der Erziehung den Vorteil, unabhängig von einer Rollenasymmetrie zu funktionieren, weil es für die Spezifikation von Lehrangeboten ebenso offen ist wie für die Spezifikation von Selberlernen und daher alle möglichen Kombinationen zwischen Lehre und Lernen zulässt, mit denen Erziehungseinrichtungen gegenwärtig ja auch bereits experimentieren."

Weiteres: Sven von Reden kommentiert die überraschungsfreie Oscar-Verleihung, bei der überwiegend "Machbarkeit vor Notwendigkeit" prämiert worden sei. Besprochen werden die Uraufführung von Matthias Pintschers "L'Espace dernier" an der Opera Bastille in Paris und "Windows on the World", ein Roman des französischen Schriftstellers Frederic Beigbeder (hier) über den 11. September ("erzkatholisch, grell und laut", siehe dazu auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 02.03.2004

Bernard Imhasly entschleiert das "leuchtende Indien", in dem wirtschaftlicher Aufschwung und zunehmende Konsumlust eine wachsende Liberalität und Säkularisierung allenfalls vorgaukeln. Bei näherem Hinsehen zeige sich jedoch das starke Wirken einer von der Regierungspartei BJP wohl geduldeten, hinduistischen Zensur: "Diese staatliche Toleranz gegenüber religiös-chauvinistischen Rechtsbrechern begünstigt ein Klima wachsender Aggressivität und Angst. Ende Januar stürmte eine Gruppe von Anhängern der mit der BJP verschwägerten Vishna Hindu Parishad (VHP) in eine Kunstgalerie in Surat im Bundesstaat Gujarat. Ihr Auftrag: die Entfernung einer Installation, in der einem Lingam, dem phallischen Symbol Shivas, ein Kondom übergezogen war. Die Angreifer machten gleich Tabula rasa. Sie zerstörten gleichzeitig zahlreiche Bilder von Maqbool Husain, Indiens berühmtestem Maler. Die Provokation lag in diesem Fall in der Dreistigkeit eines Muslims, sakrale Hindu-Figuren zu zeichnen. Die Reaktion des Besitzers war symptomatisch. Statt Anzeige zu erstatten, sagte er, er werde in Zukunft die VHP 'konsultieren', bevor er wieder eine Ausstellung organisiere."

Besprochen werden eine Ausstellung des Werkzyklus "Die sieben Sakramente" von Abigail O'Brien im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Gianni Vattimos (mehr hier) Essay "Jenseits des Christentums" (eine "etwas altklug erregte Paraphrase auf den Prozesscharakter der spätmodernen Wirklichkeit"), Romane des italoamerikanischen Erzählers John Fante und ein "monumentaler" Doppelband zur Luganeser Architekturausstellung zum russischen Klassizismus, der das Zeug zum "Standardwerk" hat (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.03.2004

Diese FAZ ist schnell erzählt!

Edo Reents spottet in der Leitglosse über Ronald Schill, der versprach, nach Uruguay zu gehen, wenn er bei der Hamburg-Wahl die fünf Prozent nicht erreicht. Der Neurologe Gerd Kempermann greift in die FAZ-Gehirn-Debatte ein und fragt: "Könnten wir überhaupt als Menschen leben ohne die Überzeugung, Autonomie zu besitzen?" Michael Althen kommentiert den Oscar-Abend. (Ein schönes Dossier mit Videos zu den Oscars präsentiert die New York Times, wo wir nebenbei auch einen Artikel über die Berliner Opernkrise finden.) Michael Jeismann schreibt zum Tod des Historikers Rudolf von Albertini. Günther Rühle schreibt einen Nachruf auf den Fischer-Lektor Hellmuth Freund. Gemeldet wird, dass der in den USA so erfolgreiche "Passion"-Film von Mel Gibson (mehr hier) in Deutschland schon im März starten wird (während die Chicago Sun Times meldet, dass der Film in Frankreich aus Angst vor antisemitischen Ausschreitungen womöglich gar nicht starten wird, was im Figaro heute allerdings schon dementiert wird.) Dieter Bartetzko schreibt den Nachruf auf den Münchner Architekten Otto Steidle, der im Alter von nur sechzig Jahren gestorben ist. Jürgen Kaube erinnert an den Kinderbuchautor und Sprachkünstler Dokteur Seuss, der vor hundert Jahren geboren wurde (hier die Briefmarke zum Anlass).

Auf der letzten Seite wird der Vorabdruck der Memoiren Helmut Kohls mit einer Zwischenbilanz aus dem Jahr 1979 ("Was hatten zehn Jahre sozialliberaler Koalition geschaffen?") fortgesetzt. Lorenz Jäger mokiert sich über den Neokonservativen Richard Perle, der vor einem Jahr an Massenvernichtungswaffen im Irak glaubte und jetzt auf die CIA schimpft. Und Mark Siemons berichtet über einen turbulenten Abend in der Schaubühne, wo eine Bürgerinitiative, die Aufklärung über den Berliner Bankenskandal fordert, mit dem heutigen Finanzsenator Sarrazin stritt.

Auf der Medienseite gratuliert Hans-Dieter Seidel Uschi Glas zum Sechzigsten. Michael Hanfeld schreibt zum Abschied des Sat.1-Chefredakteurs Jörg Howe. Und Frank Kaspar resümiert ein Symposion der Adenauer-Stiftung zur Einführung des Privatfernsehens vor 20 Jahren.

Besprochen werden Brechts "Mutter Courage" in Thomas Langhoffs Inszenierung am Münchner Residenztheater und Purcell-Abende in Erlangen und Hannover.