Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2004. In der FAZ wirft der Stauffenberg-Biograf Peter Hoffmann dem jüngst in der ARD gelaufenen Stauffenberg-Film krasse Fehler vor. Die SZ sieht die Verschwörungstheorien der Ufologen und der radikalen Rechten zur Konvergenz kommen. Die NZZ näht Funkchips in die Waren. Die taz erklärt uns Kwaito.

NZZ, 05.03.2004

Auf der Medienseite klärt Detlef Borchers über die Möglichkeiten des Funk-Chips RFID (mehr hier und hier) auf, der im Zweiten Weltkrieg zur Identifikation von Flugzeugen entwickelt wurde und nun den Strichcode auf Waren ersetzen soll. Die Funketiketten, die beispielsweise bereits von Benetton in Kleidungsstücke eingenäht wurden, weckten indessen die Skepsis von Datenschützern und Verunsicherung bei den Kunden, so Borchers: "Rund um die RFID-Chips in den Umverpackungen und an den Paletten hat nun ein großes Gesumse eingesetzt. Viel ist die Rede von einer 'Revolution der Logistik' und von einer 'völlig neuen Verkaufswelt'. Bald könnten Regale melden, wenn ein bestimmter Artikel keine Kennungen sendet, also ausgegangen ist; Einkaufswagen könnten der Umgebung mitteilen, was in ihnen enthalten ist; daraus ergäben sich neue Werbemaßnahmen: 'Zu diesem Käse passt vorzüglich der Wein ...'".

Weiteres: Ber. hegt ernsthafte Zweifel, ob der von den USA finanzierte arabischsprachige Nachrichtensender Al-Hurra dem eigenen hohen Anspruch gerecht wird (Der Sender suggeriert in einem Werbespot, "dass sich das Freisein automatisch erhöhe, wenn man al-Hurra schaue"). Stephan Russ-Mohl berichtet über eine großangelegte Studie des amerikanischen Readership Institute, die Wege aus der Zeitungskrise aufzeigen soll: "Durch noch mehr Farbe, noch mehr Info-Grafiken, noch mehr Selbstpromotion und noch mehr Leserführung soll die Zeitung attraktiver werden - offenbar auch für Leser, die sonst kaum etwas lesen". Und H. SF. stellt Stephen Glovers Konzept einer "Elitezeitung" in Großbritannien vor, mit dem der Mitbegründer des Independent dem Umstand abhelfen will, dass, so Glovers, "seitdem 1993 Rupert Murdoch die Times in einen ruinösen Preiskrieg mit dem Telegraph getrieben habe, ... alle britischen 'Broadsheets' allmählich zu publizistischen Müllkippen geworden" sind.

Im Feuilleton glossiert der Kulturwissenschaftler Eckart Goebel sehr unterhaltsam den neuen Beauty-Wahn in der Männerwelt: "Der Kult von Kälte und Glätte zwingt zu Sportstudio und Diät, zur Rasur von Achselhöhle und Brust; der Flipflop nötigt den Jüngling heute zur Reflexion auf Pediküre... Vorbei die Zeiten, da der gemeine Mann vom Schönheitsterror entlastet war, den Abenteuerspielplatz Leben mit Bauch und Bier genoss. Der Mann beging einen Fehler, zapfte sich selbst als Konsumenten an. Nun ist auch er im Griff der Fashion-, Wellness- und Beauty-Industrie. G. B. Shaws Notiz, das Maß an männlicher Schönheit, das die eines Schimpansen übertreffe, sei reiner Luxus, wäre umzudrehen: Alles, nur kein Waldschrat."

Weitere Artikel: Jürgen Heizmann berichtet von einem Künstleraustausch zwischen Quebec und Bayern. Gemeldet (hier und hier) wird der Tod des französischen Chansonsängers Claude Nougaro. Besprochen werden ein Liederabend mit Christoph Marthaler in Zürich und eine Ausstellung des Bildhauers Charles Cordier im Musee d'Orsay.

Auf der Filmseite porträtiert Thomas Christen anlässlich einer Retrospektive im Zürcher Filmpodium den Regisseur Francesco Rosi. Besprochen werden Bent Hamers "Kitchen Stories" ("ein Film fast ohne Frauen"), "Skinhead Attitude" von Daniel Schweizer und Vadim Perelmans "House of Sand and Fog".

FR, 05.03.2004

Norbert Seitz war dabei, als Helmut Kohl seine "Erinnerungen 1930 bis 1982" in Berlin präsentierte. "Aus dem einst gepanzerten Souverän ist aber ein rachelüsternes Monster geworden, das auf über 700 Seiten zur Tat schreitet, ausgestattet mit einem Kampfvermächtnis seiner verstorbenen Gattin Hannelore, um vor den linken Mächten des Bösen seinen Eintrag ins Geschichtsbuch zu retten."

Weitere Artikel: Ursula März hat einen Tag in der Besucherschlange vor der Berliner Nationalgalerie gestanden: "'Guck mal die Tasche da vorne.' - 'Welche?' - 'Na, die rote.' - 'Fast die gleiche Tasche gab's bei Karstadt, nur noch mehr rot, total rot, total geil. War reduziert, 15 Euro. Hab ich fast gekauft.'" In Times Mager denkt Harry Nutt über den Zusammenhang von Casting und die Wahl des Bundespräsidenten nach. Besprochen werden zwei Konzerte von Stipendiaten der Ensemble Modern Akademie ein Buch über das Überleben in der Antarktis und Dieter Thomäs "Vom Glück in der Moderne" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 05.03.2004

Thomas Winkler stellt uns Musik aus Südafrika vor: Kwaito. "Kwaito war in den Neunzigerjahren der Soundtrack der Befreiung. Heute ist er längst auch Ausdruck der Unzufriedenheit der zunehmend frustrierten Wählerschaft. Kwaito entstand, als DJs die Umdrehungsgeschwindigkeiten ihrer Plattenspieler herunterdrehten, um aus England und den USA importierte House-Platten dem örtlichen Tanztempo anzupassen. Aus der straighten Ekstasemusik House wurde ein sinnlicher Sexbeat mit Chants aus der traditionellen afrikanischen Folklore und Einflüssen aus HipHop und Reggae. In den frühen Neunzigern kursierten dann die ersten Tracks auf Compilation-Kassetten. Seitdem hat Kwaito eine atemberaubende Erfolgsgeschichte geschrieben, vergleichbar der von Rap in den USA - nur in doppelter Geschwindigkeit: Begonnen haben beide als Jugendkulturen, die Musik, Mode und Lebenseinstellung umfasste, und beide haben sich zu multimillionenschweren Industrien entwickelt." (Mehr über Kwaito hier, Kwaito hören kann man angeblich: hier).

In der tazzwei sehnt sich Barbara Dribbusch nach einer Alpha-Frau. "Eine Bundespräsidentin Schavan hätte die politische Erzählung in Deutschland bereichert und dramatisiert, neben der CDU-Chefin und möglichen Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Eine solche Erweiterung ist dringend nötig. Denn man darf die Behauptung wagen, dass sich breite Teile des Publikums inzwischen nicht mehr so recht angesprochen fühlen durch den Tratsch über die Beziehungen zwischen Schröder, Fischer, Müntefering und Co, diese Dichtungen über Männerfreundschaft, und -feindschaft. Manche Frauen, man muss es mal schreiben dürfen, interessieren sich für diese politische Essayistik ungefähr so stark wie Männer für Wechseljahre-Literatur."

Weitere Artikel: Auf den Tagesthemenseiten schreibt Dirk Knipphals über Helmut Kohls Präsentation seiner "Erinnerungen". Jürgen Busche hat das Buch gelesen: "... so originell wie sein Reden und Handeln als Kanzler - einschließlich der gelegentlichen Höhepunkte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Meinungsseite findet sich ein Interview mit Gerhard Baum über das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum großen Lauschangriff.

Besprochen werden Julian Schnabels Ausstellung "Malerei 1978-2003" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, die CD "Monolithic Baby!" der psychedelischen Heavy Rockband Monster Magnet.

Schließlich Tom.

FAZ, 05.03.2004

Peter Hoffmann, Autor einer maßgeblichen Biografie über den Grafen Stauffenberg, gibt keine Ruhe. Neulich legte er seine Kritik an Jo Baiers Stauffenberg-Film, der jüngst so erfolgreich im Ersten lief, schon in der SZ dar. Nun lanciert er auf der Medienseite der FAZ eine weitere Attacke. Unter anderem wirft Hoffmann dem Film einige krasse historische Verfälschungen vor. Besonders erstaunlich ist das bei der Darstellung von Stauffenbergs Verhältnis zum Judenmord: "Stauffenberg wird zu dem für den Widerstand zentral wichtigen Thema 'Juden' mit einer einzigen Briefstelle aus der Zeit des Feldzuges in Polen zitiert, in der er schreibt, es gebe hier 'Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk'. Was mit dem Zitat suggeriert werden soll, bedarf keiner Erläuterung. Dagegen wurden die Verdikte Stauffenbergs gegen den Pogrom des 8. November 1938 und später gegen den Massenmord an den Juden, den er als ein Hauptmotiv für seinen Entschluss anführte, Hitler zu töten, wissentlich unterschlagen."

Weitere Artikel: Henning Ritter schreibt in der Reihe zur Lage des Christentums im Abendland einen traurigen Abgesang auf den deutschen Protestantismus, der sich mit seiner Sehnsucht nach Selbstaufhebung durch die Ökumene aus der Religionsgeschichte verabschiede. "Rm." spießt in der Leitglosse beliebte Formulierungen wie "ungleich größer" und "zeitgleich" auf. Gina Thomas berichtet über eine Aktion britischer Autoren, die sich gegen den Plan der großen Buchhandelsketten wenden, den Richtpreis von den Buchdeckeln zu nehmen und das Buch - und damit die Autorenhonorare - gänzlich dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu überantworten. Jürg Altwegg gratuliert der französischen Publizistin und Gesellschaftsdame Elisabeth Badinter zum Sechzigsten. Oliver Tolmein stellt einen rot-grünen Entwurf zur Reform des Strafprozesses vor. Andras Platthaus begleitete eine Dresdner "Kunstgebung", mit der gegen Kultureinsparungen protestiert wurde. Thomas Wagner gratuliert dem Leiter des Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie Peter Weibel zum Sechzigsten. Gerhard Rohde bedauert, dass die kleine Lothringer Stadt Forbach die Subventionen für das dort stattfindende renommierte Festival Neuer Musik kürzt.

Auf der Medienseite resümiert Andreas Kilb ein Filmgespräch, das in den luftigen Lobbys des Kanzleramts stattfand. Auf der letzten Seite berichtet Wolfgang Frömberg von der Münchner Konferenz "Neuro - Networking Europe", in der sich Globalisierungsgegner und Internetdissidenten vernetzten. Andreas Platthaus war dabei, als Helmut Kohl den ersten Band seiner Memoiren vor- und den zweiten in Aussicht stellte. Und Mark Siemons schreibt ein kleines Porträt über die Politologin Gesine Schwan, die rotgrüne Kandidatin fürs Amt der Bundespräsidentin.

Besprochen werden "O.T. Die Ersatzpassion", Christoph Marthalers allerletzte Inszenierung am Zürcher Schauspiel mit viel Bach-, Schumann- und Beatles-Musik (die Inszenierung inspirierte Gerhard Stadelmaier zu dem tiefen Satz: "Die Restauration nach der Revolution verlangt mehr Phantasie als die Revolution nach dem Ancien Regime"), Jean-Philippe Rameaus Oper "Dardanus" in Freiburg und der Film "The Cooler".

SZ, 05.03.2004

Alex Rühle beobachtet Beunruhigendes in der Welt der Verschwörungstheoretiker, nämlich "dass die Welterklärungsmodelle der Ufologen und die Theorien vieler rechtsradikaler Verschwörungsphantasten in den vergangenen fünfzehn Jahren einander immer ähnlicher wurden. Der amerikanische Politologe Michael Barkun hat in einer soeben erschienenen Studie ('A Culture of Conspiracy', University of California Press) beängstigend klar herausgearbeitet, wie sich die verschiedenen okkultistischen, rechtsextremistischen, esoterischen Theorien mehr und mehr zu einer Art Super- oder Metaverschwörung vernetzen."

Weiteres: Andreas Bernard räsoniert über die Verquickung von medizinischer Diagnose und ideologischer Kritik im Kampf gegen den Elektrosmog: "Das Prekäre der Argumentation besteht darin, dass eine größere nervliche Empfindsamkeit unweigerlich mit einer größeren politischen Mündigkeit assoziiert wird." Gerhard Matzig erkennt eine bedeutende Gemeinsamkeit zwischen den beiden Kandidaten Horst Köhler und Gesine Schwan: das bemerkenswerte Defizit öffentlichen Ausgebreitetseins. Anke Sterneborg war mit Romouald Karmakar, Michael Ballhaus und Dieter Kosslick beim Kanzler. Martin Zips betrachtet das schwankende Karriereglück von Kinderstars. Rene Martens fürchtet durch die Pleite des Musikvertriebs EFA eine Gefahr für die gesamte Indie-Szene. Kurt Flasch erinnert an den Reformtheologen Karl Rahner (mehr hier), der heute hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Ausstellung zeitgenössischen Schmucks in der Münchner Pinakothek der Moderne, Franz Müllers Verführungsfilm "Science Fiction". Und Bücher, darunter Alan Tschertschessows Roman "Ein Kranz für das Grab des Windes" und Gustav Adolf Lehmanns Band über "Demosthenes von Athen", Nelson Mandelas afrikanische Liebelingsmärchen und weitere Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).