Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2004. Die Feuilletons sind heute in allerbester Form! In der Welt analysiert Herfried Münkler die Erpressbarkeit der westlichen Welt. In der FR berichtet György Dalos über den grassierenden Antisemitismus in Ungarn, in der Berliner Zeitung schreibt Istvan Eörsi zum gleichen Thema. Die taz konstatiert die Niederlage der russischen Zivilgesellschaft - die auch eine Niederlage der Intellektuellen ist. In der SZ warnt Navid Kermani vor einer Gleichsetzung von Islam und Islamismus und vor jenen Islamisten, die sich als Verkörperung des Islams aufführen. In der NZZ beklagt Javier Salinas die Opfer in Madrid. In der FAZ streiten Hans Ulrich Gumbrecht und Friedrich Wilhelm Graf über Mel Gibsons Jesus-Film.

Welt, 16.03.2004

Der Politologe Herfried Münkler beschreibt, was den heutigen Terrorismus kennzeichnet: Sollte er früher "gesellschaftliche Gruppen aus ihrer Lethargie reißen", sei er inzwischen "zu einer modernen Form des Verwüstungskrieges" verkommen. "Die Macht terroristischer Akteure erwächst aus ihrem Erpressungspotenzial. Weil Regierungen nicht in der Lage sind, ihre urbanen Ballungsräume zuverlässig zu schützen, wollen sie nach Möglichkeit, nicht ins Visier terroristischer Gruppen geraten.

Es ist dieses hohe Maß an Verletzlichkeit und im Gefolge dessen an Erpressbarkeit westlicher Gesellschaften, von dem terroristische Gruppen profitieren. Und in dem Maße, wie dies der Fall ist, wird Terrorismus als eine Methode der Willensdurchsetzung attraktiv bleiben und wahrscheinlich noch an Attraktivität gewinnen. Es spricht vieles dafür, dass Terroranschläge, wie die von Madrid, in den kommenden Jahren zu einem Begleiter unseres Lebens werden. Wollen wir zu einem effektiven Gegenhandeln in der Lage sein, genügt es nicht, sich wesentlich auf die Erscheinungsformen terroristischer Gewalt zu konzentrieren, wie gegenwärtig überwiegend der Fall, sondern man muss den Terrorismus als Methode begreifen."

FR, 16.03.2004

Der ungarische Schriftsteller György Dalos (mehr) erklärt, weshalb in der vergangenen Woche rund 100 Autoren und Autorinnen den ungarischen Schriftstellerverband verlassen haben: Es sei eine Reaktion auf die "antisemitische Ansprache" eines Kollegen, Kornel Döbrentei, der Anfang Januar, "angeregt durch provokante Äußerungen über das Christentum des alternativen linken Senders Radio Tabu, eine Ansprache vor mehreren Tausend Demonstranten (hielt), in der er unter anderem sagte: 'Wir sind bereit und gewollt zu demonstrieren gegen den unversöhnlichen Vernichtungskrieg, der unter dem Deckmantel einer Religion unserem Volk erklärt wurde, gegen den moralischen Holocaust des ungarischen Volkes, den verkleidete und maskierte Pseudopropheten leiten - lediglich ihr Bart ist echt.'" Der Skandal, so Dalos, habe schon lange in der Luft gelegen. Immerhin hatte Imre Kertesz bereits 1990 sein Mitgliedsbuch "wegen judenfeindlicher Äußerungen aus Schriftstellermund zurück gegeben".

"Ist nun also Europa dran? Machen die Europäer jetzt die Erfahrung, die die Amerikaner vor zweieinhalb Jahren machten?", fragt Ulrich Speck in einem Kommentar zu den Anschlägen von Madrid. "Neben allen transatlantischen Unstimmigkeiten über die Wahl der Waffen im Kampf gegen den Terror und andere Gefahren war es vor allem die unterschiedliche Bedrohungswahrnehmung, die den Westen seit dem 11. September spaltete. Mit den 201 Toten von Madrid könnte dies ein Ende haben."

Weiteres: Daniel Kothenschulte resümiert die 6. Grazer Diagonale als ein "Filmfest, das es eigentlich gar nicht geben dürfte". In Times mager nimmt Hilal Sezgin schließlich einigermaßen erschüttert amazon-Leserrezensionen der Kohl-Erinnerungen unter die Lupe. Peter Abs porträtiert Thomas Meinecke und seine Band F.S.K..

Auf der Medienseite berichtet Rudolf Walther über Reaktionen auf den Verkauf der französischen Tageszeitung Le Figaro an den Rüstungsfabrikanten Serge Dassault.

TAZ, 16.03.2004

"Zeigt der Staat die Peitsche, dann erhöht sich gleich die Speichelproduktion, weil es anschließend auch Zuckerbrot gibt", lästert Boris Schumatsky über den derzeitigen Zustand der russischen Kulturszene: "Während in der russischen Kulturszene die Stimmen zunehmen, die dem Regime ihre Dienste anbieten und um Geld betteln, packt die liberale Intelligenzija die Koffer für die innere Emigration. Der Autor Wiktor Jerofejew beklagt etwa in einem Zeitungsinterview die Tatsache, dass nach den jüngsten Wahlen die russische Staatsduma ihre Unabhängigkeit eingebüßt hat. Statt aber gegen die anbahnende Autokratie aufzutreten, kommt Jerofejew zu einem erstaunlich besänftigenden Schluss: 'Es gibt auch Glück im Unglück. Von dieser Situation wird die russische Kultur profitieren. Tolstoi, Dostojewski, Nabokow und Tschechow werden die Rolle unserer Abgeordneten einnehmen. Wir werden zu traditionellen Werten der oppositionellen russischen Intelligenzija zurückkehren.' Jerofejews Demokratieverständnis spricht Bände über die Ursache der aktuellen Niederlage der russischen Zivilgesellschaft."

Weiteres: In tazzwei widmet sich Michael Rutschky dem "Widerspruch" zwischen (negativer) Medienwahrnehmung und (positiver) Handlungskompetenz von Gerhard Schröder: "Regieren ist etwas anderes als der Bericht darüber." Auf den Kulturseiten denkt Katrin Bettina Müller darüber nach, ob der "beobachtbare Boom von sakralen Ritualen, Motiven und Erzählformen in der Kunst eine Wiederkehr der Religion" bedeutet. In Dirk Baeckers kleiner Soziologie der Erziehung geht es heute um die orientierungsstiftende Funktion von Fehlern. Als einsame Besprechung lesen wir den Bericht von Pamela Jahn über die Ausstellung "State of Play" in der Londoner Serpentine Gallery.

Auf der Medienseite denkt Dorothea Hahn über die möglichen Folgen nach, dass in Frankreich neben Figaro und Express 68 weitere französische Blätter an den Rüstungsindustriellen Serge Dassault fallen.

Und hier TOM.

Berliner Zeitung, 16.03.2004

In der Berliner Zeitung kommentiert der Schriftsteller Istvan Eörsi den Skandal um die antisemitischen Äußerungen eines Funktionärs des Ungarischen Schriftstellerverbandes: "Glücklicherweise kann ich diesen Sturm im Wasserglas von außen verfolgen. Ich bin schon in der Morgenröte des Systemwechsels aus dem Ungarischen Schriftstellerverband ausgetreten, der früher - um einen sowjetischen Ausdruck zu gebrauchen - als Transmissionsriemen den Willen der Partei an die Schriftsteller weiterleitete. Ohne Partei, dachte ich mir, wird die Mehrheit das Sagen haben, und da ich einige tonangebende Mitglieder dieser Mehrheit kannte, zum Beispiel Döbrentei, wusste ich, dass das auch nicht angenehm sein würde. Übrigens verträgt sich ein Einheitsschriftstellerverband auch nicht mit einer pluralistischen Demokratie, weil er Demokraten und Faschisten in denselben Pferch zwingt. Wir sollten uns über den Zerfall freuen."
Stichwörter: Eörsi, Istvan, Systemwechsel

SZ, 16.03.2004

Wird man in Europa wegen des Terrors Muslime ausgrenzen, fragt Navid Kermani (mehr) besorgt. "Gerade weil Europas sittliche Ansprüche in der Folge der Aufklärung so immens hoch sind, können sie um so tiefer fallen. Das hat der christlich begründete Krieg der Serben gegen die Muslime, dreihundert Kilometer südlich von München geführt, erst vor einigen Jahren in Erinnerung gerufen." Wie "fast alle Muslime hierzulande und die meisten Islamwissenschaftler" ärgert sich Kermani "über das verzerrte Bild, das die Medien vom Islam zeichnen. Aber dieses Bild wäre niemals so sehr in den Vordergrund gerückt, wenn nicht genug Muslime - Terroristen, Theologen, Staatsführer - exakt jener Karikatur des Islams entsprächen, die den Gläubigen und Kennern aufstößt. Es mag ein Feindbild Islam geben. Aber schlimmer ist, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind geriert."

Eine "Machtfülle wie die Kreml-Herrscher zu Sowjetzeiten" bescheinigt Sonja Zekri dem wiedergewählten Putin, der inzwischen auch bestens als Politdevotionalie funktioniere. "Nach Putin-Hagiografien und -Hymnen, ja, einer eigenen Schule der Putin-Malerei brachte jüngst die Sankt Petersburger Firma Prosperiti eine Packung Putin-Zahnstocher mit den bleichen Zügen des Präsidenten auf den Markt - ein Produkt mit dem Bild von Koni, Putins Labrador, ist schon im Handel. So beweist Prosperiti die Markenfähigkeit des Präsidenten: Putin sells."

Weitere Artikel: Imanuel Schipper, Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, berichtet über zwei deutsche Theaterprojekte im vorolympischen Athen. Rene Martens erklärt, weshalb die Zukunft des Plattenhandels jenseits des Mainstreams liegt. Dirk Meyhöfer beklagt den "seelenlosen" Umgang der Stadt Wilhelmshaven mit ihrem wilhelminischen Erbe, namentlich den "Niedergang" des Industrie-Baudenkmals "Südzentrale" von 1908. Daniel Brössler informiert über eine Bonner Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Geschichte der Vertreibung, und Kristina Maidt Zinke resümiert die Münchner Frühjahrsbuchwoche. In der "Zwischenzeit" lobt Evelyn Roll den Todesmut der (West)Berliner, die nach dem Norden und Süden jetzt auch das Umland im Osten der Stadt entdecken und erobern ("Im August fahren die ersten Charlottenburger dann wahrscheinlich schon nach Frankfurt an der Oder"), und "mea" philosophiert über angelernten deutschen Lesefrust. Gemeldet wird schließlich noch, dass der Kindler-Verlag sein Belletristikprogramm an Rowohlt abgibt sowie der unaufhaltsame Erfolg von Mel Gibsons Jesusfilm.

Besprochen werden ein Kunsttausch zwischen Köln und München, der nun in den Ausstellungen "Der Blauer Reiter" am Museum Ludwig und "Picasso" im Kunstbau München zu besichtigen ist, die Südseeausstellung "Expedition ins Paradies" im Hamburger Völkerkundemuseum, eine Verfilmung von Michael Chrichtons Zeitreiseroman "Timeline" durch Richard Donner, eine Inszenierung von Händels Oper "Radamisto" am Zürcher Opernhaus, der "inszenierte" Dokumentarfilm "rosa - oder welche farbe hat das leben" von Julia Dittmann und Bücher, darunter die Feuilletons von Sebastian Haffner aus den Jahren 1933 bis 1938 und Vincenco Consolos Roman "Bei Nacht, von Haus zu Haus" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 16.03.2004

Der spanische Schriftsteller Javier Salinas (mehr hier), der sich am 11. März gerade auf dem Weg nach Madrid befand, beklagt in einer eindringlichen Elegie die Opfer der Anschläge: "Die Züge werden nie wieder zur vorgesehenen Stunde eintreffen. Die, die davonkamen, kamen nicht davon, die nicht dabei waren, waren dabei, die es nicht wussten, erfuhren es, und die fern von allem waren, fielen bei sich zu Hause. Eine universale Wunde tat sich auf. Die geboren werden sollten, wurden es nicht, und die festen Schritts voranschritten, glitten aus. Der Zorn breitete sich aus, die Erzählung wurde unterbrochen, gleich einer Epidemie überzog eine Narbe die Art, zu grüßen, zu schweigen oder Worte auszusprechen. Viel mehr kann nicht gesagt werden, außer wie die Leute weinten, außer man beschriebe die Form eines Gesichts, einen ins Leere gehenden Blick. Das exakte Gewicht eines Schreis oder den Geruch eines verlassenen Zimmers."

Besprechungen widmen sich Claus Guths (mehr hier) Inszenierung von Händels Oper "Radamisto" in Zürich, eine Ausstellung im Museum der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, die die 1904 an diesem Ort veranstaltete Verkaufsausstellung von Kunstgegenständen zum Thema hat, eine Ausstellung des Spätwerks von Andy Warhol (mehr hier) in Düsseldorf und Ritter Glucks Oper "Orphee et Eurydice" in der Inszenierung von Ludovic Lagarde in Lausanne.

Besprochen werden auch jede Menge Bücher, darunter Colson Whiteheads (mehr hierRoman "John Henry Days" (Whitehead verarbeite den Mythos des Gleisbauarbeiters John Henry, einem Afroamerikaner, der um 1870 im Wettbohren gegen eine Dampfmaschine gewann - und danach vor Erschöpfung starb, zur "faszinierenden Mediensatire", schwärmt Thomas Leuchtenmüller) und Matthew Pearls kriminalistischer Roman "Der Dante Club" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.03.2004

In der FAZ wird über Mel Gibsons Jesus-Film diskutiert.

Der Romanist und Kenner mittelalterlicher Passionsspiele Hans Ulrich Gumbrecht (mehr hier) findet den Film nicht antisemitisch ("Ein Antisemitismus-Vorwurf gegenüber Mel Gibsons Passionsspiel müsste jedenfalls immer auch das Neue Testament mitbetreffen") und verteidigt auch die Gewalt in dem Film, denn es gehe nun mal um die übermenschlichen Leiden eines Gottes in Menschengestalt: "Das war ein Leiden Gottes - und um dieses Theologem geht es dem Katholiken Gibson offenbar viel zentraler als den Berufstheologen unserer Gegenwart -, welches größer, drastischer und blutiger sein musste als jedes menschenmögliche Leiden. Ebendeshalb gilt es zu verstehen, dass die im Film so ausführlich gezeigten Folterungen nach aller medizinischen Wahrscheinlichkeit spätestens am Ende der Geißelung zum Tod eines historischen Christus hätten führen müssen. Von dieser Szene an fungieren die Bilder vom Leib Christi - wie die Kreuzigungsbilder des Matthias Grünewald - als Emblem für das Paradox von der Erlösung der Menschen durch die blutige Selbstopferung des einen Gottes."

Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf sieht die Gewaltszenen dagegen als ein auf Verkauf zielendes Versatzstück in einer globalisierten Religionsökonomie: "Peinlich, widerlich, religionskulturell stillos? Wer so empfindet, verkennt die Konkurrenzlogik auf den hartumkämpften Religionsmärkten des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Der Konkurrenzkampf der Religionsanbieter wird seit dreißig Jahren zunehmend durch eine Desublimierungsspirale bestimmt. Außerhalb Europas gewinnen Marktanteile die demonstrativ Harten, sinnlich Grellen, die Prediger der Reduktion symbolischer Komplexität aufs anschaulich Einfache, Greifbare, auch Vulgäre. Gibsons Blutchristus agiert insoweit höchst marktkonform."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay kommentiert den Sieg der Sozialisten in Spanien als den Sieg einer immer noch jungen Demokratie. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, in denen sich die Psychoanalytiker gegen den Vorschlag wehren, ihre Berufsaussübung von einem Medizinstudium oder überhaupt von irgendeiner Qualifikation abhängig zu machen (und nebenbei erfahren wir, dass sich Michel Houellebecq in der Zeitschrift Technik'Art mal wieder positiv zu den Raelianern äußerte, hier der Link zum Magazin, der Artikel selbst ist nicht online). Gerhard R. Koch gratuliert dem Dirigenten Roger Norrington zum siebzigsten.

Aus der Medienseite erklärt uns Dietmar Dath, "warum Kiefer Sutherland als Antiterrorpolizist Jack Bauer aus der Fernsehserie "24" so gefährlich genau in unsere Zeit passt". Und Jordan Mejias fürchtet, dass die New York Times Book Review (hier geht's zur neuesten Ausgabe) unter ihrem neuen Chef Sam Tanenbaum an Niveau verlieren könnte.

Auf der letzten Seite schreibt Catrin Lorch einen Hintergrundartikel über den temporären Austausch der Sammlungen zwischen Museum Ludwig und Neuer Pinakothek. Jordan Mejias nimmt an, dass der Stopp der Homoehe in Kalifornien nur ein Zwischenstopp sei. Und Dieter Bartetzko erinnert an die großen Leistungen des Papstes Gregor im sechsten Jahrhundert.

Besprochen werden Konstanze Lauterbachs Inszenierung von Genets "Zofen" am Deutschen Theater Berlin und die Choreografie "Imitation" von Amanda Miller in Freiburg.