Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2004. In der FAZ enthüllt Michael Maar eine "Lolita" vor Nabokov. In der FR schreibt Richard Wagner, in der NZZ Wilhelm Droste, in der FAZ György Konrad über den Antisemitismus in Ungarn. Die SZ schlägt die Pauke für Nicholson Baker, der literarisch abwäscht wie kein anderer. In der taz erklärt Michael Ignatieff, warum er den Irak-Krieg nach wie vor gutheißt.

TAZ, 19.03.2004

Die Gründe für den Irakkrieg waren falsch, meint Michael Ignatieff im Interview auf der Meinungsseite, aber wenn dort eine Demokratie entstünde, hätte der Sturz Saddam Husseins doch positive Effekte gehabt. "Ich setze auf jene, denen Freiheit so lange verweigert wurde. Wenn wir ihnen ausreichend helfen und alles weitere ihnen überlassen, werden sie ihren selbst bestimmten Weg gehen. Wenn, ja, wenn der Kampf im Irak gewonnen ist, werden wir auf diese schweren Jahre zurückschauen als eine historische Zeitenwende in Nahost."

Auf den Tagesthemenseiten hofft Graham Watson, Vorsitzender der englischen Liberalen im Europäischen Parlament, dass sich die europäischen Innenminister bei ihrem heutigen Treffen in Brüssel auf eine bessere Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus einigen.

Im Feuilleton finden wir heute ausschließlich Rezensionen. Besprochen werden das Hörbuch "Live from the Cotton Club", eine Reportage, die der Berliner Radioreporter Hellmut H. Hellmut 1931 in New York aufnahm, neue CDs von F.S.K. und Stereolab und Marjane Satrapis Comic "Persepolis" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). In der zweiten Meinung legt Joseph von Westphalen die "proportional längste Widmung der Welt" in seinem Zigarettenroman der Schauspielerin Sibel Kekilli zu Füßen, "dieser wunderbaren Frau".

Schließlich Tom.

NZZ, 19.03.2004

Wilhelm Droste sinniert anlässlich der Austrittswelle im ungarischen Schriftstellerverband über den "ungarischen Volkssport, sich in politisch gefärbten Polarisierungen zu verbarrikadieren". Die antisemitischen Äußerungen des "begnadeten Provokateurs" Kornel Döbrentei offenbarten lediglich die ungesunde Streitkultur Ungarns: "Antisemitische Provokation hat sich in diesem polarisierten Streit längst von Volk und Religion der Juden losgelöst, es wird als garantiert einschlagendes Schimpfwort benutzt, um das böse Lager der Kosmopoliten, Liberalen, Sozialisten, Kommunisten, Grosskapitalisten, Ausländer, Bankiers, Weltliteraten, Mehrsprachigen, Fremden zu dämonisieren und aus der Reserve zu locken. Das ist bei genauerem Hinsehen kein Antisemitismus, sondern eine der vielen Auswucherungen einer völlig verunglückten Streitkultur, einer Streit-Barbarei."

Arne Rautenberg verkündet die Geburtsstunde einer neuen Poesie: "Found Poetry", von der Straße aufgelesene Zettel, denen der Schriftsteller einen "poetischen Mehrwert" zuschreibt. In Anlehnung an Marcel Duchamps (mehr hier) "Ready-mades" (mehr hier) nennt er sie auch "Ready-wrotes": "In einem fremden Treppenhaus montierte ich folgenden schmalen Zettel ab: 'Wo ist / eigentlich / der Kaktus / von der / Fensterbank / im 2. Stock / geblieben?!' - Ja wo nur? Vermutlich hatte er einfach die Schnauze voll von seinem langweiligen Leben auf der Fensterbank, sitzt in Miami am Pool und lässt sich von ein paar hübschen Halbsukkulenten den stachligen Bart kraulen."

Weiteres: Timo John stellt Gottfried Böhms (mehr hier) neue Stadtbibliothek in Ulm (Bild) vor. Paul Jandl porträtiert die am 16. März verstorbene Schriftstellerin Jeannie Ebner (mehr hier). Besprochen wird eine Ausstellung der Kunstsammlung von Karl und Jürg Im Obersteg, die dem Kunstmuseum Basel als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt wurde.

Auf der Filmseite macht Raul Lautenschütz mit den Kriterien staatlicher Filmförderung bekannt, die diese Woche von der EU-Komission für weitere drei Jahre bestätigt wurden. Ebs. annonciert das Filmfestival Freiburg. Besprochen werden die Komödie "Along came Polly" mit Ben Stiller und Jennifer Aniston, Heinz Bütlers (mehr hier) Dokumentarfilm "Ferdinand Hodler - Das Herz ist mein Auge" und Achim von Borries' Spielfilm "Was nützt die Liebe in Gedanken" (Zwischen einer Zugfahrt und zwei Pistolenschüssen "spannt sich mit dem heiligen Ernst einer flüchtigen Umarmung das auf, was man eine große Kinoliebe nennen möchte", schwärmt Claudia Schwartz).

SZ, 19.03.2004

Alexander Kierdorf beschreibt, wie Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow die Stadt kaputtentwickelt: "In Moskau tobt eine Bauwut, der ganze Viertel zum Opfer fallen." Die Zerstörung folge gewissen Regeln, meint Kierdorf: "Aus den oft willkürlich für 'abbruchreif' erklärten Häusern, die einem Neubauprojekt im Wege stehen, werden die Bewohner vertrieben; ungewöhnlichere Objekte tauchen gelegentlich als Totalkopie wieder auf, um ein künstlerisch banales Neubauprojekt zu kaschieren. Vor allem in der unmittelbaren Umgebung des Kreml wird in großem Maßstab saniert, abgebrochen und neu gebaut."

Mit Pauken und Trompeten kündigt Thomas Steinfeld Nicholson Bakers (mehr hier) Roman "Eine Schachtel Streichhölzer" an, in dem sich unter anderem die 3-seitige Beschreibung eines Abwaschs findet: "Nicholson Baker schaut noch einmal nach, genauer als all seine Kollegen, und was er fühlt, hört, riecht, schreibt er nieder, in einer zuweilen schon unglaublich subtilen, nuancierten Sprache. Darin mischt er das Verwegene mit dem Banalen, in Sätzen, die mit traumwandlerischer Sicherheit ein jedes Ding in einer Einzelheit treffen, die es kategorial von allen anderen Dingen unterscheidet: Und auf einmal werden die Objekte einfach, klar - und schön, weil aus ihnen allen das Behagen spricht, am Leben zu sein."

Weiteres: Andreas Zielcke verteidigt die Spanier gegen den Vorwurf, sie hätten sich im Kampf gegen den Terror für das Appeasement entschieden. Reinhard J. Brembeck beobachtet mit Grauen, wie Berlin seine Symphoniker abwickelt und sich damit zum "ersten Kulturbanause der Republik" qualifiziert. Henning Klüver kommentiert das Scheitern eines Gesetzentwurfs in Italien, der Präsident Ciampi das alleinige Recht in die Hand gegeben hätte, über Gnadengesuche zu entscheiden. Alexander Kissler berichtet von einem vom Max-Delbrück-Centrum durchgeführten Bürgervotum gegen eine allzu offensive Biopolitik. Ira Mazzoni ist auf neue Sparpläne gestoßen. Diesmal trifft es die Landesdenkmalpflege, deren Mittel in Bayern von einst 42 Millionen auf 4,4 Millionen Euro gekürzt werden sollen.

Auf der Medienseite berichtet Peter Burghardt, wie sich Spaniens Medien von der Regierung Aznar haben instrumentieren lassen. Hans-Jürgen Jakobs wirft einen weiteren Blick in das System Bertelsmann.

Besprochen werden die Ausstellung der Berliner Akademie der Künste zum fünfundsiebzigsten Geburtstag von Christa Wolf, Slobodan Snajders "5. Evangelium" auf dem Hamburger Kampnagel, die Choreografie "Minus One" der Grand Ballets Canadiens, Disneys neuer Film "Bärenreiter", Robert Gernhardts Sudelblätter in der Frankfurter Ausstellung, ein Konzert des Concertgebouw unter Bernard Haitink in München.

Und Bücher, darunter ein Band zur Meuterei auf der Bounty, der den verunglimpften Captain Bligh wieder ins rechte Licht rücken will, und ein von Annette Schavan herausgegebener Sammelband zur Bildungspolitik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).


FR, 19.03.2004

Im Zuge des Antisemitismus-Skandals im ungarischen Schriftstellerverband verweist der Autor Richard Wagner darauf, dass der Antisemitismus in Osteuropa weit verbreitet ist: "In der Vorstellung mancher osteuropäischen Bauernsöhne sitzen die Juden jetzt an der Wallstreet, nachdem sie in einem unachtsamen Moment der Weltöffentlichkeit kurz entschlossen ihre Parteibücher verschluckt haben. So gelten sie also auch nach dem Ende des Kommunismus als Gefahr für den osteuropäischen Nationalcharakter. Der im Westen neuerdings wieder erwachte Antisemitismus, dessen diffuse Quellen sich je nach Coleur aus traditionell christlichen, rechtsextremistischen, linksnationalen oder islamistischen Ideengebäuden speisen, könnte schon bald eine weitere unangenehme Färbung erfahren. Es dürfte zur politischen Begleitmusik der EU-Osterweiterung gehören, diesbezüglich aufmerksam zu sein."

Weiteres: Elke Buhr räsoniert über die veränderten Teilnahmebedingungen beim "Eurovision Song Contest", also beim früheren Grand Prix. Johannes Wendland wartete in der Berliner Neuen Nationalgalerie (mehr hier und hier) umsonst auf die Lüftung kuratorischer Betriebsgeheimnisse und berichtet vom Lavieren um die Frage: "Wie beeinflusst die Sammlungs- und Ausstellungspolitik von Institutionen wie dem MoMA die kunsthistorische Kanonisierung?"

Hans-Klaus Jungheinrich ist überwältigt von William Christies und Claus Guths Händelinszenierung "Radamisto" im Opernhaus Zürich. Dirk Fuhig besuchte das australische "Adelaide Festival of Arts", auf dem es dieses Jahr unter anderem besonders viel Aborigines-Kunst zu sehen gab. Auf der Münchener Frühjahrsbuchwoche stellte Rüdiger Suchsland fest, dass die Verbindung von Wort und Musik - das Thema der diesjährigen Veranstaltung - inzwischen eine komplizierte Angelegenheit geworden ist. Petra Kohse bespricht die Premiere von "Eins, zwei, drei" am Berliner Hebbel Theater.

In Times mager erlebt Stefan Keim einen strahlenden Gerard Mortier beim Lunch. Gemeldet wird der Tod der amerikanischen Schauspielerin Mercedes McCambridge.

FAZ, 19.03.2004

Es gab schon eine "Lolita" vor Nabokov, berichtet der Literaturdetektiv Michael Maar in einer ganzseitigen Recherche, die von der FAZ sogar auf Seite 1 angekündigt wird. Diese erste "Lolita" erschien 1916 als 18-seitige Erzählung, sie spielt in Spanien, handelt von der Liebe des Erzählers zu einem sehr jungen Mädchen und endet desolat. Autor ist der heute vergessene Heinz von Lichberg, der später in der Wehrmacht Karriere machte und in der Weimarer Zeit in der selben Berliner Gegend lebte wie Nabokov. Die Frage bleibt nicht aus: "Kann Vladimir Nabokov, der Autor der einen unsterblichen 'Lolita', des stolzen schwarzen Schwans unter den Romanen der Moderne, das hässliche Entlein seines Vorgängers gekannt haben? Kann er von ihm - und sei es unbewusst, denn ein bewusstes Zitat hätte er vermutlich vermieden - angeregt worden sein?" Tja, liebe Nicht-Abonnenten der FAZ. Da müssen Sie wohl zum Kiosk rennen.

Weitere Artikel: Jürgen Kaube glossiert den hurtigen Wechsel der Nationalitäten bei Spitzensportlern. György Konrad erzählt in einem langen und schönen Artikel von seinem Verhältnis zum ungarischen Schriftstellerverband und erklärt, warum er wie so viele seiner Kollegen aus dem Verband austrat - wegen antisemitischer Äußerungen eines Mitglieds, von denen sich der Verband nicht distanzieren will. Jürg Altwegg berichtet, dass beim China-Schwerpunkt der Pariser Buchmesse nur ein chinesischer Autor nicht auftritt, nämlich der im Pariser Exil lebende Nobelpreisträger Gao Xingjian, den das "Vaterland der Menschenrechte" mit Rücksicht auf das Regime in China lieber nicht einlud. Mark Siemons besucht eine Ausstellung mit Nachbildungen der antiken chinesischen Terrakotta-Soldaten in der Karkasse des abrissgeweihten Palastes der Republik. Reiner Burger annonciert Kürzungen für die Kultur in der kulturstolzen Stadt Dresden. Hannes Hintermeier annonciert gar Kürzungen für bayerische Trachtenvereine, die für Ärger beim Oktoberfest sorgen könnten (noch ist aber nicht von einem Verbot von Lederhosen an bayerischen Schulen die Rede).

Auf der Medienseite antwortet die Produzentin von Jo Baiers "Stauffenberg"-Film, Gabriela Sperl, auf Vorwürfe des Stauffenberg-Biografen Peter Hoffmann, der Film verfälsche die historische Figur. Paul Ingendaay berichtet, dass in Spaniens Medien nach einem Moment des Innehaltens wieder die alt bekannten politischen Fronten bilden. Gemeldet wird, dass der bislang Berliner Nachrichtensender N-TV größtenteils nach Köln in die RTL-Zentrale umziehen wird - was mit Stellenabbau verbunden ist.

Für die letzte Seite besucht Gerrit Confurius die ehemals für ihre avantgardistische Architektur berühmten kubanischen Kunstschulen, errichtet in der Frühzeit des Castro-Regimes, die heute als Ruinen in der Tropenluft verrotten. Jörg Magenau kommentiert die Schließung des letzten Waggonwerks in Halle - einst versuchte Christa Wolf sich dort dem Proletariat anzunähern. Und Andreas Platthaus porträtiert den Frankfurter Proust-Vorleser Peter Heusch, der damit rechnet, seinen wöchentlichen "Recherche"-Lesungsabend in drei Jahren abgeschlossen zu haben.

Besprochen werden unter anderem bedeutende neue Werke der Neuen Musik, so der Wolfgang Rihms "Chiffre"-Zyklus, erstmals komplett in Köln aufgeführt und laut Gerhard Rohde ein "Triumph für den anwesenden Komponisten", und eine Oper von Michael Nyman (der durch seine Musik zu Greenaway-Filmen bekannt wurde) über das Leben von Kurt Schwitters in Karlsruhe, außerdem eine Dramatisierung des Wilder-Films "Eins, zwei, drei" mit Matthias Schweighöfer in Berlin, die Ausstellung "Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun" des Künstlerpaars Alice Creischer und Andreas Siekmann in Köln und einige Bücher über die Geschichte der Olympiade.