Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2004. In der SZ bedauert Monika Maron: Keine Chance für Gesine. Die NZZ macht sich Gedanken über die Literaturkritik in Zeiten des Internets. Die FAZ besucht zwei Mörder in Ruanda. In der Welt verlangt Beqe Cufaj eine europäische Verwaltung im Kosovo. In der taz analysiert Georg Seeßlen das Kino als Kränkungsmaschine.

NZZ, 06.04.2004

Oliver Pfohlmann macht sich in seinem lesenswerten Artikel über die "Literaturkritik im Zeitalter des Internets" Gedanken darüber, welche Folgen aus dieser "Demokratisierung der Literaturkritik" für das professionelle Rezensionsgeschäft erwachsen:

"Mit dem Internet wird die Laienkritik erstmals zu einem Massenphänomen und zu einer ernsthaften Konkurrenz ... In Einzelfällen und im Lauf der Zeit kann eine solche Ansammlung von Leserkommentaren zu einer Debatte anwachsen, die an Lebendigkeit jede Fernseh-Kritikerrunde übertrifft. Überhaupt scheinen Ressentiments nicht angebracht. Realisieren doch die Laienkritiker im Netz eben jene Medienutopien, von denen einst Brecht und Walter Benjamin mit Blick auf den Rundfunk noch vergeblich träumten: die Aktivierung der Konsumenten." Welche Folgen das für die professionelle Literaturkritik haben mag, ist ungewiss, bekennt Pfohlmann und empfiehlt der bedrohten Kritikerzunft, auf das "reflexionsstimulierende Element" zu setzen und da "Zusammenhänge herzustellen, wo andere nur den Daumen heben oder senken". - Übrigens: Das Herstellen von Verknüpfungen dürfte sich bei Online-Artikeln auch schon in der Suchfunktion als sehr hilfreich erweisen. So könnte der "aktivierte Konsument" auch professionelle Literaturkritik gezielt nutzen.

Weiteres: Über die Aufregung und Irritation anlässlich der großen Werkschau Otto Mühls in Wien berichtet Paul Jandl. Besprochen werden die Aufführung von Arnold Schönbergs unvollendeter Oper "Moses und Aron" in der Staatsoper Berlin, Norman Maneas Selbstportrait "Die Rückkehr des Hooligan" und das Buch von Karl-Markus Gauss über "Die Hundeesser von Svinia" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 06.04.2004

Beim Anblick des "Kantinenschachers" um das Amt des Bundespräsidenten fühlt Monika Maron ihr "feministisches Potential" enorm anschwellen: "Kürzlich stand ich in einer Gruppe politischer Journalisten, die sich über die Chancen von Gesine Schwan unterhielten und nicht ohne Bedauern zu dem Ergebnis kamen, dass diese gleich null seien. Vierzig Stimmen mehr auf Seiten der Opposition, also müssten mehr als zwanzig kippen, ohne dass auf der anderen Seite auch nur eine Stimme verloren ginge, unmöglich, keine Chance für Gesine, zumal Frau Merkel natürlich kein Interesse an einer Bundespräsidentin haben könne, weil das ihre eigene Kandidatur als Kanzlerin verhindern würde. Als hätte je ein Mann nicht Kanzler werden können, weil schon der Präsident ein Mann war. Und das, obwohl 52 Prozent der Bevölkerung Frauen sind. Wie weit sind wir vom Kopftuch eigentlich entfernt?"

Hilmar Klute macht sich Gedanken über den Erfolg der Coffeeshop-Kette Starbucks. "Die alten europäischen Cafes gehen zugrunde und aus ihrem Schutt entstehen die modernen neuen Coffee-Shops. Über die beiläufig eingerichteten Espressobars in Italien mit ihren Resopaltheken verliert niemand ein böses Wort. 'Strabucks' hingegen gilt als primitiv, weil es die ehrwürdige Kaffekultur zum Fast-Drink degradiere. In Wirklichkeit ist es lustig, dass man mit Kaffee anscheinend noch richtige Tabubrüche begehen kann."

Holger Liebs berichtet über einen "ethnographic turn" in der Kunst und die Schwierigkeiten, überhaupt "politische" Kunst zu machen. "Um das vorherrschende role model des Künstlers als freier, eigenverantwortlicher Dienstleister, als Autor und Vermarkter seiner Arbeit zu unterlaufen, schließen sich viele jüngerer Künstler in Kollektive zusammen und verweigern sich einer schnellen Lesbarkeit ihrer Arbeit. Sie sehen sich in erster Linie als Kulturkritiker und Medienbeobachter."

Weiteres: Jörg Häntzschel stellt ein Projekt des New Yorker Architekten Stephen Valentine vor, eine Art "High-Tech-Mausoleum, in dem künftig 50.000 Tote auf ihre Wiederbelebung warten können". Der Dramatiker Jaan Tätte liefert eine - schön subjektive - Gebrauchsanleitung für Estland ("Der Charakter der Esten - nun ja, man gewöhnt sich daran"). In der Zwischenzeit ventiliert Hermann Unterstöger wieder sprachlich Bedenkliches (etwa ein Baumwollanzug "neu interpretiert mit Nadelstreifen"), und "egge" denkt über die Bedeutung der Ablösung von Bill Gates als reichster Mann der Welt durch den Ikea-Gründer Ingvar Kamprad nach. Auf der Medienseite lesen wir schließlich einen Hinweis auf die - zwar "einseitige", dafür aber "sinnliche" und irgendwie gelungene - zweiteilige Israel-Reportage der Schauspielerin Iris Berben und des Brigitte-Chefredakteurs Andreas Lebert (ab Freitag im ZDF).

Besprochen werden die "Dekonstruktion" des "Fidelio" durch Hans Neuenfels an der Hamburger Staatsoper, Elmar Goerdens Einstandsinszenierung von Tschechows "Möwe" am Schauspielhaus Bochum, Stephan Kimmigs Kaurismäki-Inszenierung "Wolken ziehen vorüber" am Deutschen Theater Berlin, der Film "Jazzclub - Der frühe Vogel frisst den Wurm" von und mit Helge Schneider, der dritte Modern-Dance-Abend im Münchner Gärtnerplatztheater und Bücher, darunter Erzählungen von Tuuve Aros und die Studie "Ausnahmezustand" des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, die Fortschreibung seines Erfolgs "Homo sacer". In einem beigestellten Interview erläutert er, wie er den Begriff "Ausnahmezustand" definiert und erklärt: "Wir erleben den Triumph des Management oder der Verwaltung von Nicht-Ordnung." (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Welt, 06.04.2004

Allen, die mehr UNO im Irak fordern, empfiehlt der Schriftsteller Beqe Cufai einen genaueren Blick auf den Kosovo. "Zahlreiche unaufgeklärte Attentate an prominenten Politikern, Korruptionsaffären und die Unfähigkeit, ein winziges Land wenigstens mit elektrischem Strom zu versorgen, haben das Image der Unmik massiv ramponiert. Mit gutem Recht kann man fragen, weshalb ein UN-Beamter im Durchschnitt 100 Mal mehr verdient als ein kosovarischer Lehrer oder Polizist. So werden heute Forderungen laut, im Kosovo solle - ähnlich wie im Irak - eine 'Koalition der Willigen' mit Washington an der Spitze die Führung übernehmen. Die UNO, so jedenfalls die vorherrschende Meinung, muss weg."
Stichwörter: Irak, Kosovo, UNO, Washington

TAZ, 06.04.2004

In einem gewohnt umfang- und kenntnisreichen Text denkt Georg Seeßlen über das "Kino als Kränkungsmaschine" nach. Hintergrund sind zwei "merkwürdige Debatten" in den USA und Japan, die Lars von Triers Film "Dogville" Antiamerikanismus und Sofia Coppolas "Lost in Translation" "Japan-Klischees" vorwerfen. Seeßlen stellt einerseits fest, dass die Verlagerung des "Bilderkriegs um die Kränkungen von den Peripherien ins Zentrum" nur eine "scheinbar 'natürliche' Folge der Globalisierung" sei. Aber man könne "diese cineastischen Kränkungen nicht verstehen, wenn man nicht zur gleichen Zeit das internationale Kino der Globalisierung als steten Fluss der gegenseitigen Schmeicheleien, der fiktiven 'Geschenke' ansieht. Der fundamentalistische Christenfilm 'Passion' stört den universalen Religionsbrei von 'The Matrix' 'Lost in Translation' stört das Nationalismen-Amalgam von 'The Last Samurai' 'Dogville' stört überhaupt die wohl dosierte Mischung von Intimität und Distanz in der Selbstkritik der amerikanischen popular culture."

Weiteres: Thomas Winkler berichtet über die Vorbereitungen zur Popkomm, die im September erstmals in Berlin stattfinden wird. Besprochen werden eine Inszenierung von Arnold Schönbergs Opernfragment "Moses und Aron" in der Berliner Staatsoper und ein Sammelband mit dem Titel "Norm der Abweichung", in dem nachgewiesen wird, dass "Kritik und Dissidenz der Kapitalismusoptimierung nützen" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die tazzwei bringt ein hübsches Beispiel dafür, wie Haltung jeder Recherche standhalten kann: Sie stellt zwei Artikel von Spiegel-Autoren zur Windenergie nebeneinander: Einer wurde Titel, der andere nicht gedruckt - und beide kommen zu komplett anderen Darstellungen.

Und hier TOM.

Berliner Zeitung, 06.04.2004

Mit Nachdruck verteidigt die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates das Kopftuchverbot: "Wenn wir das Kopftuch so weit hätten wie Nonnenhabit und Kreuz und Kippa, dann wäre ich eine der letzten, die damit ein Problem hätte. Das Kopftuch demonstriert aber genau das Gegenteil: die Rückwendung in den Islam des Mittelalters. Die Religion soll wieder die Stellung haben, die sie im Mittelalter hatte. Ich würde es genauso ablehnen, wenn Christen anfangen würden, Hexen zu verbrennen." Zu den Beweggründen vieler Frauen, das Kopftuch zu tragen, zählt sie allerdings die erfahrene Ausgrenzung: "Sie suchen einen Ort der Heimat und finden ihn in einer religiösen Sichtweise. Sie müssen sehen, dass sehr viele Menschen der zweiten Generation unter psychischen Erkrankungen leiden, unter Depressionen, unter Melancholie. Das ist kein böser Wille, das ist Verzweiflung."

FR, 06.04.2004

In einem Essay denkt der Schriftsteller und Journalist Jose Manuel Fajardo über Spaniens lange Erfahrung mit dem Terrorismus nach und geht dabei auch hart mit der Regierung Aznar ins Gericht. Es gibt, stellt er mit Hinweis auf die ETA fest, "nur wenige Völker auf der Welt, die derart dem Kampf gegen den Terrorismus verpflichtet sind wie das spanische Volk. Auch haben wenige so viel Erfahrung bezüglich der Schwierigkeiten, diesen zu bekämpfen." Außerdem habe "eine der historischen Aufgaben der spanischen Moderne gerade darin bestanden, die tief sitzenden kulturellen Wunden zu heilen, die die Amputation der jüdischen und arabischen Komponente an der spanischen Identität vermuten lässt. (...) Eine Politik des Ausgleichs und nicht der Kriegsführung trug diese historische Wiedergutmachung (...) Die Wende in der internationalen Politik der Regierung Aznar, die sich bedingungslos in die militaristische Politik von George Bush einreihte, machte all diese Erfolge zunichte."

Weitere Artikel: In Times mager spricht sich Thomas Medicus gegen die Schließung des Künstlerhauses Schloss Wiepersdorf aus, das seit (fast) 225 Jahren im Besitz derer von Arnim ist und derzeit (noch) Künstler und Schriftsteller fördert und Stipendien vergibt. Besprochen werden die Kaurismäki-Adaption "Wolken ziehen vorüber" am Deutschen Theater Berlin, eine Inszenierung von Tschechows "Möwe" am Schauspielhaus Bochum, Arnold Schönbergs Opernfragment "Moses und Aron" an der Staatsoper Berlin und "Celan", ein "Musiktheater in sieben Entwürfen" von Peter Ruczicka an der Kölner Oper. Vorgestellt wird außerdem der Briefwechsel des Ehepaars F. Scott und Zelda Fitzgerald (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 06.04.2004

Vor zehn Jahren geschah der Völkermord in Ruanda, dessen nun allenthalben gedacht wird. Karen Krüger besucht zwei gefangene Mörder. Bestürzend sind weniger die Schilderungen ihrer Mordlust als ihre Erzählung vom Zusammenleben mit den Tutsi vor dem Völkermord: "Laurent windet sich: 'Ich muss zugeben, in meiner Nachbarschaft gab es damals viele Tutsi. Wir hatten keine Probleme, besuchten uns, und ich spielte Fußball mit den Jungs. Einige von ihnen habe ich später getötet.' Eine Aussage, die sich wie ein roter Faden durch die Gespräche mit Tätern und Opfern zieht: keine Konflikte, die Nachbarn nicht auch andernorts hätten. Hutu und Tutsi heiraten untereinander, bewirtschaften gemeinsam die Felder, und abends lädt man sich auf ein Bier ein..."

Weitere Artikel: Christian Geyer geißelt in harten Worten die "Dramaturgie der Desinformation, mit der Amerika den Irak-Krieg" inszenierte, und setzt wenige Hoffnungen in Condoleezza Rice' Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss zu diesen Fragen. "Rh" gibt dem Künstlerhaus Wiepersdorf, das bisher vom Land Brandenburg und dem Bund gefördert wird, kaum mehr eine Chance. Alexandra Kemmerer resümiert das fünfte "Mediterranean Social and Political Research Meeting" in Florenz. Eleonore Büning feiert Hans Neuenfels' "Figaro"-Inszenierung in Hamburg als beispielhaft, hat aber einiges an Ingo Metzmachers Leistung als Dirigent auszusetzen.

Besprochen werden ferner Claudels "Mittagswende" in München, die Ausstellung "Das Zeitalter von Rubens" in Genua, eine Dramatisierung von Aki Kaurismäkis Film "Wolken ziehen vorüber" im Berliner Deutschen Theater und Schönbergs "Moses und Aron" bei den Berliner Osterfesttagen Unter den Linden.

Auf der letzten Seite untersucht der Althistoriker Klaus Rosen (mehr hier) die Evangelien-Erzählung aus rechtlicher Sicht und kommt zu dem Ergebnis: " Die Brutalität in Mel Gibsons Passions-Film, die viele Zuschauer verstört, hat - leider - die historische Wahrheit auf ihrer Seite. Nicht aber seine Darstellung, dass Pilatus nur auf jüdischen Druck das Todesurteil aussprach." Zhou Derong berichtet aus China, dass Journalisten, die Missstände aufdecken, mit zwölfjährigen Gefängnisstrafen zu rechnen haben. Und Elmar Schenkel erinnert ohne erkennbaren Anlass an den Erfinder Nikola Tesla.

Die FAZ-Online veröffentlicht zudem den dpa-Ticker zu den diesjährigen Pulitzer-Preisen. (Mehr Informationen dazu hier.)