Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2004. Die FAZ vermisst die Anarchie aus Sex, Gewalt und Drogen am Times Square. In der SZ hält Moritz Rinke das deutsche Theater für gut, und zwar grosso modo. Die taz analysiert Westeuropas Träume vom Osten. Die NZZ taucht in Belgrads Musikszene. Und in der Welt macht Jonathan Franzen Wahlkampf für John Kerry.

Welt, 13.04.2004

US-Autor Jonathan Franzen erklärt im Interview mit Wieland Freund, warum er sich in den Wahlkampf gegen George Bush einschaltet: "Dies ist die schlimmste Regierung meines Lebens - die eigennützigste, die zynischste, die rücksichtsloseste und, in John Kerrys ausgezeichneter Stegreif-Formulierung, die 'lügendste'.

Innerhalb von drei Jahren haben die Bush-Leute beinahe unvorstellbaren Schaden angerichtet. Sie haben die Wirtschaft unseres Landes, die Umwelt, die fiskalische Stabilität, das Netz sozialer Sicherungen, die nationale Sicherheit und das internationale Ansehen Amerikas beschädigt. Aber diese Schäden sind nichts verglichen mit dem, was sie vorhaben, wenn Bush eine zweite Amtszeit erreicht und unbelastet ist vom Bedürfnis, wieder gewählt zu werden."

FAZ, 14.04.2004

Der chinesische Funktionär Qian Qichen hat seine Erinnerungen an die Jahre zwischen 1982 und 2003 niedergeschrieben, als er die Außenpolitik seines Landes leitete. Kein ganz ungefährliches Unterfangen, meint Zhou Derong, denn "wer nicht mehr an der Macht ist, so lehrt die historische Erfahrung Mitglieder von kommunistischen Parteien, sollte sich besser in Schweigen hüllen - zum eigenen Schutz." Besonders gefallen haben Zhou Derong die Seiten über die amerikanische Außenpolitik: "Namentlich James Baker - 'Er treibt Diplomatie, als mache er Geschäfte' - hat beim chinesischen Kollegen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die lockeren Auftritte und flotten Sprüche des ehemaligen amerikanischen Außenministers haben die Chinesen auf eine subtilere Weise beeinflusst, als Baker wohl selbst je vermutet hätte und als den Chinesen bewusst geworden ist."

Heinrich Wefing erzählt von einem Besuch in Roden Crater in Arizona, dem monumentalen "land art"-Projekt, an dem der amerikanische Künstler James Turrell seit über dreißig Jahren arbeitet. "Für den flüchtigen Betrachter gleicht Roden Crater all den anderen Vulkanbuckeln der Gegend. In seinem Inneren aber geschehen kolossale Dinge. Seit 1974, seit Turrell den Krater und vierhundert Quadratkilometer Weideland ringsum gekauft hat, schmiedet er Pläne, die ausgeglühte geologische Formation in ein enormes astronomisches Instrument zu verwandeln, in ein Mondobservatorium, ein Sternentor. Beraten von einem pensionierten Astronomen und dem New Yorker Architekturbüro SOM, hat der Künstler ein System von Tunneln, Katakomben und unterirdischen Sälen entworfen, die sich allesamt, wenn sie denn je fertiggestellt werden, zum Himmel öffnen sollen." In einem zweiten Artikel beschreibt Wefing einige Räume im Berg - "Sonne-Mond-Raum", "Crater's Eye" - und den "Alpha-Tunnel". Dazu gibt es Fotos von Barbara Klemm.

Weitere Artikel: Dirk Schümer erzählt, wie er 2002 die süditalienischen Höhlensiedlung Matera besuchte und dabei die Dreharbeiten zu Mel Gibsons "Passion" erlebte. "'Jeschuha!' kreischte in dem Moment die Bellucci in glaubhaftestem Aramäisch herüber. Man war wohl gerade bei der Fußwaschung. Aber die Scheinwerfer gingen bald aus, der Drehtag war beendet, die Bodyguards begannen, ihre Kampfhunde zu füttern." Annonciert wird die "Criminale 2004", die 28. April bis zum 2. Mai am Niederrhein stattfindet.

Auf der Medienseite kündigt Frank Kaspar die Radio-Dokumentation "So ist Afghanistan" an: Friedrich Schütze-Quest "vermeidet das in solchen Elendsgemälden verbreitete Pathos und fängt die prekäre Lage in einzelnen bezeichnenden Momenten ein." (Heute um 21.03 Uhr bei SWR 2, um 22 Uhr bei MDR Figaro und um 22.05 Uhr beim Kulturradio des RBB. Am Dienstag, 27. April, um 19.15 Uhr beim Deutschlandfunk) Jordan Mejias befürchtet das Aus für die New Yorker Zeitschrift "Aufbau". Auf der letzten Seite berichtet Andreas Obst, warum Elzbieta Pendereckas Beethoven-Festival von Krakau nach Warschau umziehen musste: Der Bürgermeister von Krakau wollte kein Geld mehr für das Festival ausgeben - man unterstütze in Krakau fortan keine ausländischen Musiker mehr. Gina Thomas porträtiert den vor vier Jahren gestorbenen britischen Schauspieler John Gielgud, dessen Briefe zu seinem hundertsten Geburtstag erscheinen. Und Dietmar Dath porträtiert Kerstin Grether, "die Susan Sontag der deutschen Popkritik".

Besprochen werden die Uraufführung von Ludger Vollmers Oper "Paul und Paula", die Ausstellung "Splat Boom Pow!", eine "vorzügliche Schau über den Einfluss des Comic strips auf die zeitgenössische Kunst" im Wexner Center for the Arts in Columbus, Ohio, drei Uraufführungen des Stuttgarter Balletts und der Film "Monster" mit Charlize Theron und Christina Ricci.

TAZ, 13.04.2004

Robert Miskik wundert sich darüber, dass angesichts der "historischen Dimension" am Vorabend der EU-Osterweiterung im Westen kein "rechtes Pathos" aufkommen will. "Was, wenn dies daran liegt, dass wir dieses Westwärtsstreben der Osteuropäer für einen Verrat an einem Traum halten - an unserem Traum, von dem wir irrtümlich annahmen, es sei auch ihr Traum?" Und der sieht laut Misik so aus: "Für den Westen war der Osten der Traum von der Flucht aus der Postmoderne, der man langsam überdrüssig geworden war (auch wenn kurzfristig aus dem Traum ein Albtraum wurde, weil in den historischen Regionen plötzlich alter ethnischer Wahnsinn wucherte). Für den Osten war der Westen der Traum von Konsum und Wohlstand. Für den Westen war der Osten der Kontrast zu glatter Düsseldorfigkeit. Nicht wenige im Osten hätten Düsseldorf dagegen für ein Synonym für das Paradies gehalten."

Weiteres: Helmut Höge erklärt in seiner Kolumne "Berliner Ökonomie" die Parallelität des Falls eines vom Braunkohlebagger bedrohten Hauses in der Lausitz zu einer Weimarer Inszenierung von "Faust 2". "wbg" kommentiert den offensichtlichen "Beratungsbedarf" von Bundesbankchef Ernst Welteke. In tazzwei erklärt der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann (mehr hier) im Interview die unterschätzte Bedeutung des ersten Morgens danach. Auf der Meinungsseite denkt Hermann Scheer anlässlich des "Spiegel"-Titels über Windenergie darüber nach, "woher die Aggressivität gegen diejenigen kommt, die die Umweltpolitik noch nicht abgeschrieben haben". Und auf der zweiten Meinungsseite wagt sich Bernhard "der Kinderversteher" Pötter an die Antwort auf die Frage, warum der Sozialismus in Deutschland gescheitert ist.

Besprochen werden die Ausstellung "In-A-Gadda-Da-Vida" in der Tate Britain sowie zwei Anthologien und ein Roman aus Tibet (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 14.04.2004

"... eben noch hatte man ausführlichen Abschied von den Zeitgenossen genommen. Nun marschieren sie zur historiographischen Hintertür schon wieder herein", meint Klaus Naumann angesichts der zahlreichen Buchveröffentlichungen von "Kriegskindern". Aber "war da nicht noch etwas anderes? Es kann doch kein Zufall sein, dass die 68er Generation aus eben dieser Alterskohorte gekommen war, die nun als Kriegskinder gelabelt werden. Als 68er hatten sie gegen ihre Eltern gekämpft, jetzt ist die Klage an die Stelle der Anklage getreten. Der Strang, der vom einen zum anderen führt, bindet Elterngeneration, Kriegskinder und Protestler in eine Konstellation, die bislang wenig zur Kenntnis genommen worden ist." So fragt sich Naumann, warum die Kriegskinder - wie Uwe Timm oder Hans Ulrich Treichel - "ihre rebellische Seite heute so auffällig verstecken"?

Weitere Artikel: In Times mager erzählt Gunnar Luetzow, warum er London fast nicht wiedererkannt hätte. Besprochen werden die Ausstellung "Partisanen der Utopie. Heiner Müller - Joseph Beuys" auf Schloss Neuhardenberg, Wagners "Parsifal" in der Inszenierung von Christine Mielitz an der Wiener Staatsoper, die Uraufführung von Siegfried Matthus' Oper "Die unendliche Geschichte" nach dem Roman von Michael Ende in Weimar und die erste Station der On Kawara-Tour mit dem Titel "Consciousness. Meditation. Watcher on the Hills" im Kunstverein Braunschweig.

SZ, 13.04.2004

Im Aufmacher analysiert Andrian Kreye in einem anschaulichen "Frontbericht" aus einem Surferparadies den endgültigen Rückzug der Jugendkulturen aus der Erwachsenenwelt. "Weil die Kinder des Rock'n'Roll den Gestus des jugendlichen Rebellen auch noch pflegten, als sie längst Großelteren waren, wurde es für die nachwachsenden Generationen immer schwerer, sich gegen die Eltern abzugrenzen. Was blieb den Jungen anders übrig als der Rückzug auf den eigenen Körper? ... Und die Königsdisziplin dieser Welt bleibt bis heute das Surfen."

Der Berliner Dramatiker Moritz Rinke (hier) antwortet auf den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse (hier), der in der SZ vom 8. April dem deutschsprachigen Theater den Totenschein ausgestellt hatte. "Herr Menasse, machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich schicke Ihnen jetzt neue Stücke von Autoren mit Dialogen, Freihandel, Terrorismus und McKinsey, und dann wird alles wieder gut, grosso modo, gut."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig erzählt eine Leidensgeschichte aus der modernen Luftschifffahrt mit Billigfliegern ("Dieser Koffer ist WICHTIG"). Christian Jostmann erinnert an die Eroberung Konstantinopels am 13. April 1204. "mau" kommentiert die Ausführungen des CSU-Generalsekretärs zur Stärkung der nationalen Identität (Hymnen singen). Zu lesen sind außerdem ein Gespräch mit dem neuen Leiter des Bertelsmann Jugendbuchverlags Jürgen Weidenbach über die Zukunft des Verlagszweigs, eine Gratulation an den Historiker Peter Parte zu seinem 80. Geburtstag und ein Nachruf auf den Modezeichner Rene Gruau, der mit seinen minimalistischen Arbeiten etwa für Dior oder das Moulin Rouge berühmt wurde.

Und auf der Medienseite führt Rene Martens durch das "erstaunliche Multimediareich" von "Mare", zu dem neben der Hamburger Zeitschrift inzwischen auch ein Buchverlag, eine Fernsehsendung, ein Radiomagazin und ein Hörbuchprogramm gehören.

Besprochen werden die große Stanley-Kubrick-Schau in Frankfurt, eine Koproduktion des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt am Main, der "Euro-Thriller" "Die purpurnen Flüsse 2" von Olivier Dahan, Schönbergs "Moses und Aron" unter Leitung von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper, eine Ausstellung von Arbeiten der amerikanischen Fotografin Berenice Abbot. In der Zwischenzeit bejubelt Joachim Kaiser das "Wunder von Zürich", eine "bezaubernde" Aufführung des allegorischen Händel-Oratoriums "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno. Rezensiert werden auch Bücher, darunter ein Lexikon der Kunstwissenschaft, Harry Graf Kesslers "Cranach-Presse", anlässlich einer Neuerscheinung verschiedene Ausgaben von Ovids "Metamorphosen" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 13.04.2004

Thomas Burkhalter hat sich in der Belgrader Musikszene umgehört und findet: "Sie hat Potenzial." "Belgrads alternative Musikszene gilt als legendär. Rockgruppen wie Eyesburn, Darkwood Dub, Jarboli, Block Out, Flip Out (mp3), Elektronikkünstler wie Belgradyard Sound System (mehr) und DJs wie Marco Nastic und Bojan Mitrovic (mehr) haben nichts mit Turbo-Folk am Hut. Ihr wichtigster Partner bleibt bis heute die Radiostation B92 (mehr). Viermal war der Oppositionssender in den neunziger Jahren verboten worden, und doch rief er im Oktober 2000 mit zu jener Demonstration auf, die Milosevic stürzen sollte. Mit dem anschliessenden Abzug zahlreicher internationaler Friedens- und Medienorganisationen verlor der Sender jedoch wichtige Geldgeber; heute muss er sich neu vermarkten." Doch die Musikergeneration der Zwanzigjährigen steht B92 inzwischen kritisch gegenüber. "Viele schwärmen von SKC, dem alternativen Radiosender vom Studenten-Kulturzentrum." Oder dem Label Bassivity Music. (Magazine zum Thema hier, hier und hier).

Weitere Artikel: Stephan Templ schreibt einen Nachruf auf den "politischen Architekten" Österreichs Roland Rainer. Besprochen werden die Wanderausstellung "Jüdische Identität in der zeitgenössischen Architektur", die derzeit in Amsterdam zu sehen ist, die Aufführung Beethovens Oper "Fidelio" in der Staatsoper Hamburg, Maxim Billers "Bernsteintage" und Christian Gaillys "virtuose Jazznovelle" "Ein Abend im Klub". spacer