Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2004. In der taz plädiert Rafael Seligmann für die Freigabe von Hitlers "Mein Kampf". In der FR erhofft sich Natan Sznaider durch die Sharon-Bush-Initiative ein Ende der israelischen Besatzungspolitik. Die FAZ fragt sich, wie der Supreme Court in Sachen Guantanamo Bay entscheiden wird. Die NZZ besucht die Ramakrishna-Mission hoch oben im Norden von Kalkutta, am westlichen Ufer des Ganges.

TAZ, 20.04.2004

"Gebt den Kampf frei!", fordert der Autor Rafael Seligmann in der tazzwei - und meint damit die seiner Meinung nach überfällige Nachdruckerlaubnis für Hitlers "Mein Kampf". "Mag sein, dass viele einst 'Mein Kampf' nicht lasen, um sich ihre Illusionen über Hitler zu bewahren. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Die bayerische Staatsregierung, die die Rechte an Hitlers Buch besitzt, sollte diese nutzen, um mündigen Bürgern, Schülern und Studenten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil über den Nazismus zu bilden. Vertrauen wir unserer Bevölkerung mehr als Hitlers Buch. Ein tröstlicher Gedanke an Hitlers 115. Geburtstag."

"Keine leichten Tage" bescheinigt Robert Misik Amerikas Neokonservativen, die den Irakkrieg "als Startschuss zu Demokratisierung, Liberalisierung und Modernisierung im Nahen Osten" gesehen haben. "Dass sie ihre strategische Orientierung mit schneidiger Überheblichkeit und provozierender Selbstgewissheit vorgetragen hatten, führt jetzt dazu, dass ihnen ein gewisser Spott nicht erspart bleibt." Ihr Fazit bleibe simpel: "Wir sind nicht schuld an der Malaise im Irak. Schuld sind die anderen, ein paar Bad Guys - mal Saddam, mal der angebliche Al-Qaida-Statthalter Abu Musab al-Sarkawi, jetzt vor allem Muktada al-Sadr. Ziemlich schuld sind natürlich die Schwächlinge im Westen, die sich zieren, den Bad Guys mit der Eisenfaust zu begegnen. Die Guten sind gut, die Bösen sind böse."

Der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi erklärt auf der Meinungsseite den ungarischen Antisemitismus als "weniger rassistisch, sondern historisch und psychologisch angelegt": "Ungarn - wie die anderen mittel- und osteuropäischen Länder auch - machte aus geopolitischen Gründen eine verspätete und verzerrte bürgerliche Entwicklung durch, in der der Citoyen kaum eine Rolle spielen konnte und sich das Bürgertum anfangs meist aus deutschen und jüdischen Elementen konstituierte. Dieses Bürgertum und seine städtische Kultur galt von Anfang an als unungarisch."

Besprochen werden heute nur Bücher, darunter John Banvilles Roman "Caliban", eine Einführung in die Kulturphilosophie, ein "lobhudelndes" Buch über Arnold Schwarzenegger, Guy Peellaerts und Nick Cohns "Bilderbuch aus der ersten Postmoderne des Rock'n'Roll", "Rock Dreams", und eine Einführung ins Poetische unter dem Titel "Lyrik nervt" von Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 20.04.2004

Claudia Kramatschek hat die Ramakrishna-Mission besucht, die "hoch oben im Norden von Kalkutta, am westlichen Ufer des Ganges" liegt, "der hier schon lange Hooghly heißt und den Blick freigibt auf den am anderen Ufer gelegenen, berühmten Kali-Tempel Dakshineswar". Der Orden tritt für eine Lehre ein, die die Gleichheit aller Religionen postuliert. Das er dabei jedoch strikt unpolitisch sein will, schafft auch Probleme. Die "zunehmenden Spannungen zwischen Hindus und Muslimen scheinen ohne wirklichen Widerhall in den friedlichen Hallen dieses spirituellen Refugiums" und auch eine Auseinandersetzung "mit der stark nationalistisch ausgerichteten BJP-dominierten Regierung - die immerhin die Gehälter für die Bildungseinrichtungen der Ramakrishna-Mission zahlt", wird nicht geführt, was inzwischen einige Kritik auslöst, berichtet Kramatschek.

Weitere Artikel: Georges Waser stellt Daniel Libeskinds Graduate Centre für die London Metropolitan University vor: "In Libeskinds Worten nur 'ein bescheidenes Unterrichtsgebäude in einer lieblosen Straße', ist das Graduate Centre - es kostete knapp 3 Millionen Pfund - mit seinem Gewand aus rostfreiem Stahl und asymmetrischen Fenstern in der Holloway Road ein eindrückliches neues Wahrzeichen." Im Innern sorgt Beton für "eine klösterlich schlichte Note". Christine Wolter resümiert die letzte Spielzeit des Piccolo Teatro in Mailand unter Luca Ronconi.

Besprochen werden Kammermusik mit Barockspezialisten in der Tonhalle Zürich und Bücher, darunter Franco Cordellis "interessant missglückter" Roman "Il Duca di Mantova", Carlos Fuentes' sehr "persönlicher und in höchstem Maß anregender" Essay- und Bekenntnisband "Woran ich glaube", Roger Caillois' Studie "Die Schrift der Steine" und Massimo Ferrari Zumbinis Geschichte des Antisemitismus in Deutschland (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 20.04.2004

Als "Anfang vom Ende der israelischen Besatzung" interpretiert der israelische Soziologe Natan Sznaider die Sharon-Bush-Initiative. "Mit dem unilateralen Abzug Israels aus dem Gaza-Streifen wird das Ende der Besatzung langsam beginnen. Auch nach den Ermordungen von Yassin und Rantisi stimmt das. Vielleicht sogar noch mehr, denn ohne die radikalste und militanteste Führungsspitze der Hamas gibt es Chancen, den Gaza-Streifen an die gemäßigteren Palästinenser zu übergeben. Politik wird eben nicht mit Güte gemacht."

Weiteres: Roman Luckscheiter wirft einen Blick in diverse Literaturzeitschriften und stellt fest, dass darin "jede Generation ihren Anteil an Geschichte" beansprucht. In Times mager würdigt Christian Thomas die Person und Arbeit von Ingeborg Flagge, derzeitige und künftige Direktorin des Deutschen Architektur Museums in Frankfurt am Main. Und auf der Medienseite erinnert Oliver Gehrs an die DDR-Fernsehwerbung ("Siehst du ein Ding mit Streifen, denk an Patina-Seifen").

Besprochen werden eine Ausstellung in der Deutschen Guggenheim Berlin, für die Nam June Paik seine Videorbeit "Global Groove 2004" von 1973 nur "überraschend wenig" hatte aktualisieren müssen, Sandrine Hutinets "schwungvoll realistische" Inszenierung der "Terroristen" von Oleg und Wladimir Presnjakow am Berliner Maxim Gorki-Theater und Bücher: Ricardo Piglias "verwirrend schöne" Erzählung "Falscher Name" und Jachym Topols "bezaubernd trostlose" Gruselgeschichte "Nachtarbeit" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 20.04.2004

Heute wird vor dem Supreme Court über die Rechmäßigkeit des Gefangenenlagers von Guantanamo Bay gestritten. Heinrich Wefing ist allerdings nicht sicher, dass das Gericht auf die vornehmen Rechtstraditionen Amerikas pochen wird, denn es gibt traurige Präzedenzfälle: "Die Entscheidung zum Beispiel, die kurz nach Pearl Harbor von der Regierung angeordnete Deportation japanischstämmiger Kalifornier in die Wüsten Arizonas nicht als rassistisch, sondern als rechtmäßig zu bezeichnen, gilt heute als einer der Tiefpunkte in der Rechtsprechungsgeschichte des Obersten Bundesgerichts. Auch die eingestaubten Präzedenzfälle aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die von den Parteien im Streit um die Gefangenen von Guantanamo aus den Archiven gefischt werden, atmen keinen über die Maßen freien Geist. Meist gestanden sie der Regierung im Kampf gegen die Feinde Amerikas sehr umfangreiche Kompetenzen zu."

Weitere Artikel: Dirk Schümer zieht aus den Bildern der vor einigen Tagen erschossenen italienischen Geisel die Erkenntnis, dass "im derzeitigen Kolonialgemetzel die von den Amerikanern Eroberten die Gesetze westlicher Mediengesellschaften durchschaut (haben) und die blutige Realität zielbewusst in die Belanglosigkeit unseres Fernsehpalavers" einspielen. Jochen Meyer, Leiter des Handschriftenarchivs in Marbach, erzählt, wie eines der letzten Hölderlin-Autographen aus privatem Besitz nach Marbach gelangte. Gina Thomas meldet, dass die Bibliothek von Iris Murdoch von der Kingston University erworben werden konnte. Robert von Lucius setzt die FAZ-Serie über den Niedergang des Christentums im Abendland mit einem Artikel über die einzigartige Kirchenferne der Schweden fort ("Schweden ist, so eine Untersuchung von zwölf westeuropäischen Ländern, das einzige, in dem weniger als die Hälfte der Bevölkerung an einen persönlichen Gott oder an ein höheres Wesen glaubt").

Wiebke Hüster ist leider nicht sehr zufrieden mit Sasha Waltz' neuer Choreografie "Impromptus" zu Schubert, in der sie nur "Posen und Bilder" sieht. Rüdiger Klein freut sich, dass die ehemalige Lungenheilanstalt Johannisheim, ein klassisch moderner Bau von Otto Ernst Schweizer in Nürnberg, "behutsam saniert und für moderne Wohnbedürfnisse und Dienstleistungsangebote nutzbar gemacht" wurde. Kerstin Holm konstatiert, dass die Schau "Moskau-Berlin", die in ihrer Berliner Version viel kritisiert wurde, in Moskau dramatischer wirkt. Jürg Altwegg meldet, dass die Verleihung der "Molieres", der bekanntesten französischen Theaterpreise, zu Streit führte, weil in der Jury die Privattheater überrepräsentiert sind.

Auf der Medienseite berichtet Jordan Mejias, dass sich die Stimmung in den amerikanischen Medien immer schärfer gegen Bush und seinen Krieg wendet - außerdem verweist er auf Bob Woodwards neues Buch "Plan of Attack" (langer Auszug), das Bushs Irak-Fixierung ein weiteres Mal belegt. Franz Solms-Laubach resümiert das Werbefilmfestival "Spotlight" in Feidrichshafen, in dem die Mitglieder der Jury vorzugsweise sich selbst auszeichneten.

Für die letzte Seite hat sich Hannes Hintermeier nach Zwickledt am Inn begeben, wo Alfred Kubin glückliche Jahre verbrachte und wo heute sein Erbe gepflegt wird. Wolfgang Sandner würdigt die ehrwürdige New Yorker Künstleranwältin Floria von Lasky, zu deren Mandanten Tennessee Williams, Elia Kazan und Carson McCullers zählten. Und Thomas Wagner porträtiert den gemäßigten Kitschier (oh je!) und Kanzlerfreund Bruno Bruni, der für die Einladung zu Gerhard Schröders sechzigstem Geburtstag ein griesgrämig blickendes Porträt des Kanzlers zeichnete.

Besprochen wird außerdem Jonathan Doves Oper "Flight" in Leipzig.

Tagesspiegel, 20.04.2004

Im Tagesspiegel warnt der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier vor einem christlichen Fundamentalismus: "Christentum ist einfältig - daran hat der Theologe Urs von Balthasar ein Leben lang erinnert. Christentum ist aber nicht einfach. Es bedarf der beweglichen Anstrengung des Geistes". Darum laufen für Maier "alle Fragen an den Fundamentalismus ... am Ende auf eine einzige hinaus: Ist das Ziel ein Glaube, der sich ausdrücken will im Medium der Vernunft - oder geht es um blindes Annehmen eines Unbegriffenen?"

Welt, 20.04.2004

Auf der Forumsseite kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen die Begründung, mit der in Frankreich das Kopftuch an Schulen verboten wurde. Es hätte völlig genügt, mit der "ungehinderten moralischen und persönlichen Entwicklung von Schülerinnen" zu argumentieren. "Die Betonung der religiösen Seite des Verbots veränderte die Bedeutung des Gesetzes grundlegend", meint er, denn sie verschleiere "ein Übel, das wir uns nicht vor Augen führen wollen: soziale Ungleichheit und Ausgrenzung".

Im Feuilleton erklärt Alexander Gauland, dass die Iraker ein Recht darauf haben, Demokratie abzulehnen und rückständig zu sein (was sollten sie denn auch mit der "kraftlosen Säkularität" des Westens anfangen?)

SZ, 20.04.2004

Jeanne Rubner berichtet über eine Tagung in Delmenhorst zum Thema Normal-, Minder- und Höchstbegabung, auf der die jüngsten Ergebnisse der Intelligenzforschung vorgestellt wurden, die mit "alten Urteilen" aufräumten. So geht man heute davon aus, dass - weil "mindestens die Hälfte der Umwelteinflüsse genetisch bedingt" seien - Begabung "unter dem Strich zu zwei Dritteln direkt oder indirekt vom Erbgut" abhänge. "Wer hat, dem wird gegeben", übersetzte dies eine Berliner Begabungsforscherin frei nach Matthäus. "Je besser die Lernumgebung wird, umso stärker wirken die Gene." Für die stets umkämpfte Chancengleichheit sieht es deshalb schlecht aus, denn paradoxerweise gelte damit: "Je gerechter die Welt, umso ungleicher wird sie."

Weiteres: Jörg Häntzschel analysiert, wie die irakischen Widerstandskämpfer mit ihren Videos die "Lehren des embedded journalism" übernehmen ("Propaganda und Dokument zugleich"). Katja Blomberg porträtiert Francesca von Habsburg, Tochter des Sammlers Thyssen-Bornemisza, die in Wien im Rahmen ihres Medienkunstprojekts Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, kurz TBA21, "Janet Cardiff: Walking thru" zeigt. Gottfried Knapp berichtet über die Eröffnung der neuen Zentralbibliothek in Ulm von Pritzker-Preisträger Gottfried Böhm. Roswitha Budeus-Budde resümiert die Kinderbuchmesse in Bologna und den neuen "Konservativismus" im Genre ("Eine Verlagsfrau meint: 'Ich träume schon von Hasen'"). Tobias Moorstedt spielt das Videospiel "Manhunt", das "den ganzen Sadisten" fordert. "tost" berichtet über die "Rückkehr" des Schimpfworts "Faschist", die der amerikanische Historiker Robert O. Paxton in seinem gerade in den USA erschienenen Buch "The Anatomy of Fascism" festgestellt hat. Und in der Zwischenzeit räsoniert Harald Eggebrecht über Kleiderordnungen und erinnert sich an einen Mann mit Stock und Hut.

Besprochen werden Dominique de Rivaz' Film "Mein Name ist Bach" mit Vadim Glowna und Jürgen Vogel, die Choreografie "Impromptus" von Sasha Waltz an der Berliner Schaubühne, eine monografische Ausstellung des walisischen Künstlers Cerith Wyn Evans im Frankfurter Kunstverein, ein Konzertabend des finnischen Dirigenten Mikko Franck und der lettischen Geigerin Baiba Skride in der Münchner Philharmonie.

Und Bücher, darunter ein "aufsehenerregendes Buch" des Zürcher Kulturwissenschaftlers Philipp Sarasin über "Anthrax. Bioterror als Phantasma" ("Sarasin interessiert sich für das, was man die 'Entgrenzung' des Terrors im Herbst 2001 nennen könnte, jene von den Anthrax-Sendungen ausgelöste weltweite Angst, die etwa auch in süddeutschen Zeitungsredaktionen dafür sorgte, dass die Post kurzzeitig nur von geschultem Personal geöffnet wurde", wie Andreas Bernard schreibt), der Roman "Matta verlässt seine Kinder" von Gregor Hens, vier Hörbücher von Herman Melvilles "Bartleby", eine Studie über Matisse und Picasso sowie eine Untersuchung über "Fremdes Begehren" (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).