27.04.2004. Die taz denkt über den "aktuellen Boom des Romantischen" in Mode und Kunst nach. In der FR fragt Julian Nida-Rümelin nach den "mentalen Grundlagen der deutschen Vereinigung". Die FAZ will keine von niemandem gewollte Debatte über aktive Sterbehilfe züchten. Die NZZ besucht den Pianisten Cyprien Katsaris.
TAZ, 27.04.2004
Auf den Kulturseiten
denkt Magdalena Kröner über den "aktuellen
Boom des Romantischen in Mode, Design und Kunst" nach und fragt, ob dies die "nostalgische Hinwendung zu einer
reaktionären Innerlichkeit markiert". Doch, fragt sie, "taugt die Romantik als gesellschaftliche Triebfeder? Der neue Konservatismus scheint nur eine gegenwärtig aktuelle
Spielart der ewig menschlichen Suche nach Sinn zu sein: der Flucht ins Geld, ins Ich, in die Erlebnisgesellschaft, in die Religion und nun eben in Romantik und Eskapismus - und entspricht darin nur einem weiteren
saisonal generierten Medienphänomen, das einen Bruchteil gesellschaftlicher Verfasstheit abbildet, diesen aber umso besser zu verkaufen weiß."
In der
tazzwei erklärt Alain Gresh, Chefredakteur von
Le Monde diplomatique, in einem Interview, weshalb er für Frankreich die Sorge über
antisemitische Übergriffe für aufgebauscht hält. Für das größere Problem hält er den "antiarabischen Rassismus": "Ist es etwa kein Gewaltakt, wenn Sie keine Wohnung oder keine Arbeit bekommen, weil Sie 'Achmed' heißen? ... Der
rassistische Franzose sagt: Sie behandeln ihre Frauen schlecht, sie trennen Jungen und Mädchen, sie geben der Jungfräulichkeit Bedeutung. Am Ende sagen sie selbst: Ja, so ist das. Ihr lehnt uns ab. Also lehnen wir euch ab."
Weiteres: Christian Broecking
porträtiert Musiker wie Amina Claudine Myers, Roswell Rudd und
Enrico Rava, die sich gegen das
Stigma der Avantgarde sträuben. Und auf der zweiten Meinungsseite
setzt Bernhard "der erklärte Papaexperte" Pötter seine Erklärungsversuche zum
Scheitern des Sozialismus fort.
Besprochen wird
Martin Kusejs Inszenierung von
Georges Feydeaus "Floh im Ohr" im Hamburger
Thalia Theater. Und im
Scheibengericht empfiehlt Björn Gottstein unter anderem
Giacinto Scelsis "Werke für Klavier" und
Olga Neuwirths "Bählamms Fest".
Und
hier TOM.
FR, 27.04.2004
Im Aufmachertext
erinnert der ehemalige Staatsminister für Kultur,
Julian Nida-Rümelin, angesichts der Diskussion um eine Sonderwirtschaftszone Ost noch einmal an die
"mentalen Grundlagen der deutschen Vereinigung". "Sieg ist Sieg, da gibt es keine Kompromisse... Warum nutzte der Westen diese einmalige Chance nicht zur Revision von Fehlentwicklungen zu einer längst überfälligen Reform seiner Bildungseinrichtungen, wenn im Osten ohnehin alles auf den Prüfstand musste. Es hätte der
inneren Balance unserer dritten deutschen Republik gut getan, sie insgesamt, nicht nur in ihrem jungen östlichen Teil zu reformieren. Jetzt kommt das
Lamento über fehlende Innovation von denen, die Innovation, als sie nötig und leicht zu realisieren gewesen wäre, fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Die Republik ist bewegungsunfähig geworden, weil sie sich der damaligen
historischen Chance verweigert hat."
Weiteres: Johannes Wendland
kommentiert den
Einzug des Kupferstichkabinetts in die neu gestaltete
Dresdner Residenz, die damit zum Museumsschloss wird. Und in Times mager
erklärt Holger Noltze, warum
Hochhuths McKinsey-Stück Ende Mai vom Spielplan des Stadttheaters Brandenburg verschwinden wird: weil es sich
nicht lohnt. "Bei Kosten von 3500 Euro pro Vorstellung bringe die Tageskasse auch bei vollem Haus nur 1500 Euro. Macht 2000 Miese", rechnet Notze: "Zu solcher Erkenntnis gelangt, wer sich McKinsey ins Haus holt."
Besprochen werden einer Berliner
Ausstellung des neuen Fotozyklus "Pergamonmuseum" von
Thomas Struth im
Hamburger Bahnhof, neue
Alben der
Jazz-Trios Christopher Dell / Christian Ramond / Felix Astor und Steffen Schorn / Roger Hanschel / Dirk Mündelein sowie die
Hörbuchreihe "eloquence" der Deutschen Gramomophon, die
"große Texte der Literatur" präsentiert.
NZZ, 27.04.2004
Marc Zitzmann
erzählt von einem Besuch bei dem
französischen Pianisten Cyprien Katsaris in Paris. Katsaris hat eine Vorliebe für Transkriptionen. Berühmt wurde er mit einer Gesamtaufnahme der
Beethoven-Sinfonien in der Transkription von
Franz Liszt: "Der Pianist geht so weit, die technisch bereits an der Obergrenze angesiedelten Transkriptionen nach eingehendem Vergleich mit der Orchesterpartitur an einigen Stellen noch zu
erschweren: so im Finale der 4. Sinfonie, wo er von Liszt auf zwei Hände verteilte
Sechzehntelpassagen der rechten Hand allein anvertraut - in Terzen und in Oktaven."
Weitere Artikel: Georges Waser macht einen
Rundgang durch die Londoner
Courtauld Gallery, deren
permanente Sammlung dem Publikum seit dem 3. April zugänglich ist. Christoph Fellmann
resümiert die
Stanser Musiktage.
Besprochen werden die
Ausstellung Luis Melendez im
Museo del Prado, eine Aufführung der 1. Sinfonie e-Moll von Jean Sibelius mit
Mariss Janson und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Zürich und
Bücher, darunter
Avishai Margalits "The Ethics of Memory",
Peter Gülkes Biografie des Komponisten
Guillaume Du Fay,
Jon Fosses Novelle "Das ist Alise" und ein
Gedichtband der Irakerin
Amal al-Jubouri (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Welt, 27.04.2004
Annette M. Böckler
fragt sich, warum die Bundesregierung nur
orthodoxe jüdische Gemeinden und damit "einen religiösen Fundamentalismus fördert, dem es naturgemäß nie möglich sein wird, liberale Vorstellungen zu integrieren". Sie selbst betet in einer liberalen Synagoge, mit einem
Gebetsschal um die Schultern, an dem Platz, an dem sie möchte, und aus der Tora liest sie auch manchmal - alles Dinge, die in einer orthodoxen Synagoge nicht möglich wären. "Eine Frau ist im orthodoxen Gottesdienst eine Zuschauerin.
Sie zählt nicht. Wenn 50 Frauen in einem Synagogenraum wären, doch nur acht Männer, würde in der Orthodoxie - sei sie noch so 'moderat' - kein vollständiger Gottesdienst stattfinden, weil nicht 'genügend Leute' da sind. Jeder
13-jährige Junge zählt hier mehr als eine
Universitätsdozentin."
SZ, 27.04.2004
Mit deutlichem
Entzücken resümiert Holger Liebs den 75.
Concorso d'Eleganza am Comer See, auf dem die "glorreiche Vergangenheit des Automobildesigns" wachgerufen wurde und die "Gegenwart ziemlich alt" ausgesehen habe. Susan Vahabzadeh berichtet über eine
Demonstration in Washington, wo eine Million Menschen für das
Recht auf Abtreibung auf die Straße gingen. "akis" kommentiert ein Schweizer Plädoyer für die Zulassung der
aktiven Sterbehilfe, über die heute im Straßburger Europarat debattiert wird. In der "Zwischenzeit" nimmt sich Evelyn Roll die ZDF-Nachrichtensendung
"heute" zur Brust. Anlass ist die dort und andernorts gern gepflegte Methode, ein Team in die Mainzer Fußgängerzone zu schicken und dort
Volkes Stimme einzusammeln. "Bei uns zu Hause heißt dieser Unfug nur noch:
'Der breite Mann auf der Straße'.
Besprochen werden die Ausstellung "Snapshots" am
Museum für Angewandte Kunst in Wien, in der ein Jahrhundert Amateurfotografie zu besichtigen ist, eine Aufführung von
Puccinis "Madame Butterfly" an der
Wiener Volksoper,
Nicky Silvers Stück "Past Perfect" am
Stadttheater Augsburg, Jan Bosses Inszenierung von
Thomas Bernhards "Am Ziel" im
Schauspiel Frankfurt,
Claudio Fähs Abenteuerfilm
"Coronado", und eine DVD-Ausgabe von Fritz Langs "Dr. Mabuse, der Spieler". Berichtet wird außerdem vom
Pariser Tanzfrühling und Gastspielen von
Jan Fabre und
Sidi Larbi Cherkaoui.
Fehlen noch die rezensierten
Bücher, darunter eine zweibändige
Werkausgabe des fränkischen Schriftstellers
Anton Schnack, eine Streitschrift für den Erhalt der 5000 Jahre alten
Kulturlandschaft Heide, ein postfeministischer Krimi von
Thea Dorn, eine Abhandlung über "Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie", die Rezeptionsgeschichte der ersten Wehrmachtsausstellungen als Anschauungsmaterial für die Entstehung von Geschichtsbildern, eine Studie über "Geheime Weltpolitik von Chruschtschow bis Bush" und ein Band über die Globalisierung und ihre Gegner von
Claus Leggewie (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
FAZ, 27.04.2004
Christian Geyer spricht es im Aufmacher einmal ganz klar aus: "
Kein Politiker wird sich heute hinstellen und
aktive Sterbehilfe als ökonomische Maßnahme zur
Entlastung der Sozialsysteme fordern." Das sei aber auch gar nicht nötig, denn "bestimmte Forderungen (müssen) gar nicht erst ausdrücklich erhoben werden, um sich
vernehmbar zu machen". Um "nicht unterderhand eine verdeckte, heute
von niemandem gewollte Debatte zu züchten", möchte Geyer darum lieber eine Debatte über die Frage anregen, "wie medizinisch und menschlich eine
Entlastung des Leidens erreicht werden kann". Sonst, prophezeit er, werden die Dinge "in eine
grauenhafte Richtung laufen".
Weitere Artikel: "G. St." schreibt zum Tod des baden-württembergischen, für Kultur zuständigen Ministerialdirigenten
Hannes Rettich. Gemeldet wird, dass die
Schweizer Monatshefte "zu den
bewährten Rechtschreibregeln" zurückkehren. Mark Siemons schreibt eine Reportage über den
Real-Markt in
Zgorzelec auf der polnischen Seite von Görlitz ("Allenfalls auf dem
Parkplatz differenzieren sich die Bevölkerungsgruppen noch aus. Die Autos mit polnischen Kennzeichen stehen auf dem großen unbewachten Parkplatz, während der umzäunte, bewachte vor allem von deutschen Wagenhaltern genutzt wird, die dafür zwei Zloty pro Stunde zahlen.") Ingeborg Harms schreibt zum Tod von
Estee Lauder. Alexander Kosenina resümiert eine Wolfenbüttler Tagung über
"Lessings Grenzen". Jürg Altwegg berichtet (leider recht kurz) über den Plan des neuen französischen Kulturministers
Renaud Donnedieu de Vabres, die notleidende
französische Musikindustrie in Bausch und Bogen von Steuern zu befreien.
Auf der
Medienseite berichtet Michael Ludwig vom Ausgang eines Bestechungsprozesses gegen den Filmproduzenten
Lew Rywin, der die polnische Medienszene und Regierungskreise in Aufruhr versetzt hatte.
Auf der
letzten Seite benennt Hussain Al-Mozany das größte Problem der Amerikaner im Irak: den extremistischen schiitischen Geistlichen
Muqtada al-Sadr, der mit seiner Forderung nach einem
islamischen Staat auch sunnitische Islamisten anzieht. Frank Pergande feiert eine
Ausstellung über die
Backsteingotik in Wismar, wo die Kirche
Sankt Georgen noch bis zum Ende des Jahrzehnts renoviert wird. Und Freddy Langer besingt die Verdienste des Geo-Chefredakteurs
Peter Matthias Gaede um sein Blatt.
Besprochen werden die Ausstellung
"Weltsichten" des in das Schloss zurückgekehrten Dresdner
Kupferstichkabinetts, ein Auftritt der norwegischen Sängerin
Silje Nergaard (
Videos) in Frankfurt, eine Ausstellung über preiswerten Wohnbau in
Washington und
Ralf Bossas Ballettadaptation von "Schlafes Bruder" in Halle.