Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2004. Die FR erklärt, warum nur mittelmäßige Akademiker mit dem Begriff "Hyperterrorismus" hantieren. Die NZZ präsentiert einen Auszug aus dem neuen Roman von Georg Klein: "Die Sonne scheint uns". In der Welt erklärt der Historiker Wolfgang Reinhard, wer zu Europa gehört. In der taz erklärt Christina Weiss, was europäische Kultur ist. Die FAZ sucht nach einem Problem, an dem George W. Bush nicht schuld ist. Die SZ feiert Prince.

FR, 04.05.2004

Martina Meister unternimmt einen ausführlichen Streifzug durch die aktuelle intellektuelle Terrorismus-Debatte - unter besonderer Berücksichtigung der französischen Standpunkte und Einlassungen. So sei der Begriff "Hyperterrorismus" - Titel eines Buchs des Politologen Francois Heisburg - derzeit in Frankreich "aus keinem Leitartikel mehr wegzudenken". Nach der Lektüre diverser Analysen kommt sie zu dem Schluss, dass etwa den Ausführungen von Andre Glucksmann ("guter alter Nihilismus") und Bernard-Henry Levys Buch über die Ermordung des Journalisten Daniel Pearl ("philosophische Nullnummer") immerhin eins "hoch anzurechnen sei": "Sie versuchen nicht, dem Terrorismus politische Motive oder gar einen höheren Sinn abzuringen. Ganz offensichtlich lädt der Hyperterrorismus gerade mittelmäßige Akademiker genau dazu ein."

Im Aufmacher feiert Sandra Danicke das neue Album des "role models für den stilbewussten Mitvierziger", Steven Patrick Morrissey ("You are the Quarry"). In Times mager kommentiert Burkhard Müller-Ulrich kapitalismusimmanent die von der Bild-Zeitung gemeldete "explosionsartige" Wertsteigerung der Werke von Jörg Immendorf, den das gleiche Blatt letztes Jahr noch wegen seiner Hotelorgie zu zernichten versuchte. Und auf der Medienseite ist zu erfahren, dass jetzt auch Christoph Stölzl, u.a. Ex-Kultursenator von Berlin, auf RBB eine eigene Talkshow hat.

Besprochen werden eine große Retrospketive von Droog Design im Münchner Haus der Kunst, die Uraufführung von "Der Kuss des Kohaku" des Schweizer Autors Peter Stamm am Schauspielhaus Hamburg, Francesco Cavallis Oper "Eliogabalo" an der Brüsseler Oper und eine "überzeugend lange" Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" an der Münchner Oper.

NZZ, 04.05.2004

Die NZZ präsentiert (leider nicht online!) den Anfang von Georg Kleins (mehr hier) neuem Roman "Die Sonne scheint uns", der im Juli bei Rowohlt erscheinen wird: "Die Sonne scheint uns. Wir sitzen in der einstigen Cafeteria, in der obersten Etage des fraglichen Bauwerks. Wir haben unsere fünf Stühle an die Südseite gerückt und blinzeln an gegen das Mittagslicht dieses strahlenden Märztags. Fenster mag ich die starre Verglasung des zehnten Stockwerks nicht nennen, obwohl Aluminiumstreben die Aussicht gleichmäßig zergliedern. Unser Blick geht über den Alten Salzhafen, eine blinddarmartige Ausbeulung des großen Flusses. Hier, kurz vor seiner Mündung, verteilt sich das Wasser auf die tiefgebaggerte Fahrrinne des Hauptlaufs und auf ein knappes Dutzend Nebenarme. Seit langem kanalisiert, fingern sie doch, unverändert naturhaft gekrümmt, gleich den Tentakeln eines Kopffüßlers dem deutschen Meer, der Nordsee, entgegen."

Weitere Artikel: Pirmin Meier schreibt zum hundertsten Geburtstag des Philosophen Josef Pieper. Marianne Zelger-Vogt stellt das Programm der nächsten Schubertiade in Schwarzenberg vor. Barbara Villiger Heilig feiert "einen 'Don Carlos', dem man sich vorbehaltlos hingibt", inszeniert von Andrea Breth am Burgtheater. Andrea Köhler sieht Botho Strauss' "Untenstehenden auf Zehenspitzen" am "liebsten auf den Knien seines Herzens". Rezensiert werden ferner Poulencs Oper "Dialogues des Carmelites" im Opernhaus Zürich, ein Auftritt des Saxophonisten Sonny Rollins in Luzern, ein zeitgenössisches Theatertreffen mit dem Titel "auawirleben" in Bern und Viktor Jerofejews Kindheitserinnerungen "Der gute Stalin" (mehr hier).

TAZ, 04.05.2004

In einem Interview erläutert Kulturstaatsministerin Christina Weiss ihre Vorstellungen zum europäischen Kulturgedanken und das gerade entstehende "Netzwerk gegen Zwangsmigration und Vertreibung". Über das Verhältnis von nationaler und übergreifender Kultur im erweiterten Europa sagt sie: "Die Bewahrung und Pflege der nationalen Kultur ist die Voraussetzung dafür, sich der größeren Einheit öffnen zu können. Oberste Leitlinie ist die Akzeptanz, Europa zu sein. Das darf aber nicht dazu führen, die kulturelle Vielfalt zu nivellieren. Das ist ja sehr oft passiert, und wo das passiert ist, siehe Balkan, bricht irgendwann revolutionär, auch auf eine sehr negative Weise revolutionär, diese Behauptung der eigenen Kultur wieder auf. Ich beobachte, dass auf diese Balance jetzt sehr viel bewusster geachtet wird als bei den ersten Modellen europäischer Gemeinschaftsbildung."

Weiteres: In tazzwei erklärt Jörg Schallenberg das Modell der so genannten Teen Courts, vor denen in Bayern jungendliche Kiffer und Klauer landen. Auf der Medienseite porträtiert Michael Braun die italienische TV-Moderatorin Lilli Gruber, die sich jetzt an Berlusconi rächen will, indem sie fürs Europaparlament kandidiert. Und statt einer Rezension druckt die taz im Kulturteil gleich einen Text mit dem Titel "Hitler und Stalin verliefen sich im Wald", den der Schriftsteller Andreas Neumeister für die Anthologie "Osten - in sechsundzwanzig Geschichten um die Welt", erschienen im Blumenbar Verlag München, geschrieben hat.

Besprochen werden zwei Ausstellungen in Berlin und Paris: Ulrich Clewing bemängelt an einer Chagall-Ausstellung im Max-Liebermann-Haus, dass sie überflüssigerweise die "Betroffenheitskarte" ausspiele, und Dorothea Hahn informiert über eine stilgerecht im Pariser Polizeimuseum ausgerichtete Schau, die zeigt, wie Pablo Picasso als "verdächtiger Ausländer" von der Polizei beschnüffelt wurde.

Und hier TOM.

Welt, 04.05.2004

Gehört die Türkei zu Europa? Der Historiker Wolfgang Reinhard gibt einen kurzen prägnanten Abriss der Geschichte der Grenzen Europas und stellt fest, dass die historischen Unterschiede zwischen den Ländern mit lateinischer Tradition und denen mit orthodoxer Tradition in der säkularen europäischen Kultur der Gegenwart "nicht an und für sich brisant" sind, sondern "erst durch politische Interessen dazu gemacht (werden). Die historischen Gegensätze sind zwar vorhanden, aber sie schlummern gewissermaßen unter der Decke der gemeinsamen Kultur, bis sie von interessierter Seite geweckt und scharf gemacht werden." Da auch die Türkei heute ein säkularer Staat sei, "sind weder die Türkei noch der Islam als solche das Problem, sondern die inneren Schwierigkeiten dieses Landes und die Gefahr, dass dort islamische Richtungen überhand nehmen ... Die Antwort auf die Frage nach den Grenzen Europas kann nur eine politische sein, wobei die aktuelle Zweckmäßigkeit wichtiger ist als die Geschichte. Zu Europa gehört, wer dazu gehören will - und wen die übrigen Europäer als solchen akzeptieren."

Auf den Forumsseiten lesen wir die Übernahme eines Artikels von Colin Powell, der sich für die "Unannehmlichkeiten" entschuldigt, die friedliche Reisende bei der Einreise in die USA in Kauf nehmen müssen, und versichert, dass die USA Besucher weiter willkommen heißt - mit der Einführung des biometrischen Ausweises werde das Willkommen auch wieder etwas zügiger ausfallen.

FAZ, 04.05.2004

Gibt es etwas, woran George W. Bush nicht schuld ist? Die Liste der Vorwürfe wird jedenfalls in Dietmars Daths heutigem Aufmacher über Bush, die Klimakatastrophe und anderes noch viel länger: "So lässt er ankündigen, die Antarktis-Abkommen der Weltgemeinschaft im Rohstoffbedarfsfall nach der Fetzen-Papier-Doktrin behandeln zu wollen, erlaubt seinen Finanzverwaltern, dezent Druck auszuüben, damit Verhütungsinformationen wegen andernfalls bedrohter Familienwerte von staatlich geförderten Jugend-Beratungs-Websites gelöscht werden, stellt sich taub, wenn von neumodischem Kram Marke Klimaschutz geredet wird, schert sich erstaunlich wenig um Studien des National Research Council, der National Academy of Sciences, der National Oceanic and Atmospheric Administration und der Nasa betreffend die großräumige und langfristige Weltgroßwetterlage, muss sich von Wissenschaftlern wie Maciej F. Boni vom Department of Biological Sciences in Stanford für all das vorwerfen lassen, seine Regierung demonstriere einen 'Hang zur Manipulation von wissenschaftlicher Information und zur Untergrabung der Forschung' - und gilt doch in Kreisen der Luft- und Raumfahrtindustrie als Mann nicht des Mittelalters, sondern der Zukunft."

Weitere Artikel: Christian Geyer versucht, sich die Folgen einer neu entwickelten Pille auszumalen, die es ermöglicht, traumatische Erinnerungen auszulöschen. Paul Ingendaay bereitet uns in der Leitglosse auf die am 22. Mai bevorstehende Hochzeit des spanischen Kronprinzen Felipe mit der ehemaligen Fernsehjournalistin Dona Letizia Ortiz vor. Edo Reents schildert ausführlich den Fall eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft abgelehnten Forschungsvorhabens in den Archiven von Marbach. Mark Siemons erinnert an den vor ein paar Jahren gestorbenen christlichen Philosophen Josef Pieper, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Cellisten Boris Pergamenschikow im Alter von nur 55 Jahren. Jürg Altwegg würdigt den Schriftsteller Paul Guimard, der im Alter von 83 Jahren gestorben ist.

Auf der Medienseite gratuliert Hans-Dieter Seidel der Schauspielerin Monica Bleibtreu zum Sechzigsten. Jürg Altwegg berichtet, dass Jose Boves Confederation paysanne massiven Protest gegen eine auf einem Bauernhof spielende Reality Show des Senders TF 1 ankündigt. Michael Hanfeld besucht zum fünfzigsten Geburtstag der Brigitte deren Chefredakteur Andreas Lebert.

Auf der letzten Seite berichtet Susanne Klingenstein von der Gründung des Harvard Stem Cell Institute, das eine Forschung an embryonalen Stammzellen ermöglichen will. Catrin Lorch porträtiert den Beuys-Schüler Walter Dahn, der als Hochschullehrer in Braunschweig eine renommierte Kunstklasse aufgebaut hat. Schließlich präsentiert Burkhard Spinnen aus seinem demnächst erscheinenden Buch "Legosteine- Kindheit um 1968" Kindheitssplitter wie den vom Schlauchboot, einem Kinderwunsch, der sich einfach nicht auszahlte: "Fuhr mein Vater mich einmal zum See, so holte ich mir darin einen Sonnenbrand; die empfindlichen Innenseiten der Oberarme, mit denen ich beim Paddeln über die Nähte des Bootes strich, wurden wund; und die Tochter von Freunden meiner Eltern, die ich einmal mitnahm, sang während der ganzen Fahrt immer nur das eine, grenzenlos alberne Lied, ihre eigene Übersetzung einer Limonadenreklame ins Englische."

Besprochen werden die Uraufführung von Peter Stamms Stück "Kuss des Kohaku" am Hamburger Schauspielhaus, ein Konzert der kubanischen Sängerin Omara Portuondo in Frankfurt, Rene Polleschs Telenovela "Pablo in der Plusfiliale" bei den Ruhrfestspielen von Recklinghausen und die Filme "Das geheime Fenster" nach Stephen King und "Das Urteil" nach John Grisham.

SZ, 04.05.2004

Andrian Kreye hat sich in Biloxi, Mississippi, das Prince-Konzert zur neuen CD "Musicology" angehört und kniet nieder: "Vergessen wir für einen Moment die Skandale und Kontroversen um den Popstar Prince, seine lilafarbenen Geschmacksverirrungen, seine präpubertäre Subversion der Orthografie, die theatralische Larmoyanz, mit der er seinen aristokratischen Taufnamen gegen ein unaussprechliches Symbol austauschte, um gegen den Knebelvertrag seiner Plattenfirma zu protestieren, und seine Konvertierung zum Zeugen Jehovas. Der Musiker Prince ist besser, als je zuvor in seiner Laufbahn."

Ulrich Raulff kommentiert die Bilder von den Misshandlungen irakischer Gefangener durch US-Soldaten: "Die Szenen, die wir angewidert betrachten, zeigen nicht die Realität der Folter: Wir blicken auf Tableaux vivants. Die Folterer und ihre beklagenswerten Opfer stellen Szenen aus der Bildergeschichte der menschlichen Infamie nach. Ob sie jemals Goya gesehen haben oder Pasolini, oder ob sie nur die Fotos aus Magazinen der SM-Szene kennen, tut nichts zur Sache. Die Bilder erkennen einander wie Hunde am Geruch."

Weiteres: Nicht so überzeugend fand Till Briegleb den zwischen Hamburg und Bad Bramstedt tourenden "Konzertexpress" von Axel Zwingenberger, eher eine "Mischung aus Butterfahrt, Märklin-Liebe und Siebziger-Jahre-Kneipenkultur" für 99 Euro. Fritz Göttler stimmt uns auf "die größte Kommandosache der amerikanischen Buchbranche" ein: die Auslieferung von Bill Clintons Memoiren.

Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer graust es zwar vor den schludrig gemachten Rubens-Ausstellung in halb Europa, widerspricht aber heftig der Einschätzung, ihr Erfolg sei der "baren körperlichen Vergnügungssucht" des Publikums geschuldet, wie etwa der Spiegel vermutet. Peter Rumpf plädiert für die Rekonstruktion von Schinkels Bauakademie in Berlin. Und Lothar Müller weist schließlich darauf hin, dass der Deutsche Sprachrat zusammen mit den Goethe-Instituten das "schönste deutsche Wort" sucht. Überzeugende Vorschläge inklusive Begründung werden prämiert.

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung des "Don Carlos" ("So frostig, nüchtern und hoffnungslos wie Andrea Breth hat lange niemand Schillers 'dramatisches Gedicht' inszeniert", meint Christine Dössel), Florian Fiedlers Uraufführung von Peter Stamms "Der Kuss der Kohaku" in Hamburg, Kevin Macdonalds Bergdrama "Sturz ins Leere", und Bücher, darunter Arnold Thünkers Roman "Keiner wird bezahlen", Reinhard Doerries' Buch über Walter Schellenberg "Hitler's Last Chief of Foreign Intelligence" und Christopher Baylys Geschichte der Moderne "The Birth of the Modern World" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).