Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2004. In der FAZ klopft Peter Glotz der Kohorte der Vierzigjährigen ermunternd auf die Schultern: Generation Reform, viel Glück! Die NZZ hört Günter Kunert beim behaglichen Plaudern über die Schlechtigkeit der Welt und der Rechtschreibreform zu. In der SZ schlägt Richard Chaim Schneider eine fürsorgliche Umarmung Scharons durch die Linke vor. In der FR steht Antje Ravic Strubel Schlange in Hollywood. Die taz hört alte Popstars von Aura und Orgasmen singen.

FAZ, 05.05.2004

1903 eröffnete Thomas Mann durch einen elfseitigen Brief den berühmten Bruderzwist mit Heinrich. Dessen Antwort, die bislang verschollen war, ist nun nach dem Aufmacher Heinrich Deterings wiederaufgetaucht. Sie fand sich als Abschrift durch Thomas Mann im Notizenkonvolut zum Roman "Königliche Hoheit". Heinrich Mann äußert sich auf die Vorwürfe der Ruhmes- und Fleischeslust durch den Bruder begütigend, wenn auch nicht ohne subtile Bosheit: "Ich weiß, was der Ruhm, wenn er käme, wäre: ein weithin verbreiteter Irrtum über meine Person. ... Und damit zuckt man die Achseln bei dem Gedanken an das Händeklatschen ferner fremder Leute. Einem Andern - dir - kann ja das hinter sich geahnte Volk immer noch Hochgefühl verschaffen. Ich aber bin wohl zu sehr Rationalist und für solche mystischen Glücksgefühle so [korrigiert aus: 'zu'] unbegabt, wie es jeder mit freien Sinnen sein wird."

Auch nicht ohne Bosheit und außerdem mit Altersweisheit schreibt Peter Glotz über drei Bücher aus der Alterskohorte der Vierzigjährigen, Christoph Keeses "Rettet den Kapitalismus", Gabor Steingarts "Deutschland - Der Abstieg eines Superstars" und Paul Noltes "Generation Reform". Alle drei scharren mit den Hufen, kritisieren den Sozialstaat und rufen die bisher nicht besonders auffällige eigene Generation als Retter aus, und Glotz kommentiert: "Neu sind die Argumente dieser Vierziger nicht. Sie fassen nur cool und rücksichtslos zusammen, was Außenseiter meiner Generation schon vor vielen Jahren und immer wieder gesagt haben... Neu aber ist die respektlose Entschlossenheit, mit der die ratlosen Gewerkschaften, die kautskyanisch-attentistischen Wirtschaftsverbände, die egoistischen Gouverneure aus dem Bundesrat, aber auch die stolz auf ihre unerfüllbaren Ansprüche pochende Mittelschicht weggeschoben werden sollen. Wir 'Bonner' haben doch lebenslang versucht, auch mit denen im Gespräch zu bleiben, die auf dem anderen Ufer irgendeines Flusses standen.... Und nun kommen diese Berliner Söhne und verkünden die 'Neugründung'? Viel Glück. Notwendig wäre sie."

Weitere Artikel: Christian Geyer ist in der Leitglosse wieder sehr streng mit George W. Bush ("Im Zweifel ersetzen bei ihm theologische Gemeinplätze und offensive Lügenpropaganda die Rechtfertigung vor dem Internationalen Strafgerichtshof.") Gemeldet wird, dass Ulrich Raulff aus dem Feuilleton der SZ, der einst das Feuilleton dieser Zeitung im Streit verließ, zum Direktor des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach gekürt werden soll, wobei nicht ohne Süffisanz bemerkt wird, dass diese Personalie noch nicht vollends entschieden sei. Mark Siemons schildert eine komplizierte Berliner Kunstaktion, die aber darauf hinausläuft, das sich der Dokumentarfilmer Thomas Heise mit dem Architekturtheoretiker Bruno Flierl über dessen Leben unterhält. Walter Haubrich berichtet, dass der Nobelpreisträger Jose Saramago in seinem neusten Roman "Ensaio sobre a Lucidez" Kapitalismus und Demokratie kritisiert.

Auf der Medienseite schildert Peter Lückemeier eine rührende Szene: "Die Frankfurter Rundschau überlebt in den Armen der DDVG." Michael Hanfeld trägt kritische Stimmen aus CDU und FDP zu diesem Zeitungskauf der sozialdemokratischen Medienholdung bei.

Auf der letzten Seite verfolgt Christiane Tewinkel den Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb der Bamberger Symphoniker. Paul Ingendaay meldet, dass das Domkapitel der Kathedrale von Santiago de Compostela beschlossen hat, die Marmorskulptur Jakobs des "Maurentöters" (Bild) aus einer Seitenkapelle zu entfernen, und dies selbstverständlich aus religionspolitischen Rücksichten. Und Verena Lueken schreibt eine Hommage auf den investigativen Journalisten Seymour Hersh, der im New Yorker die Folterungen an Irakern enthüllte.

Besprochen werden eine große Bonnard-Ausstellung in Winterthur, Tschechows "Onkel Wanja" in der Inszenierung von Werner Düggelin in Zürich, Manfred Tojahns fünfte Sinfonie, von den Münchner Philharmonikern unter Sylvain Cambreling uraufgeführt, Wenders' Blues-Film "The Soul of a Man", Bruno Madernas Musiktheaterwerk "Satyricon" und Falk Richters Stück "Hotel Palestine".

FR, 05.05.2004

Die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel, zur Zeit als Stipendiatin in Los Angeles, beobachtet kopfschüttelnd, wie ihre amerikanische Freundin Zaia versucht, sie beide unbemerkt in die Schlange vor einem Kino in Hollywood einzuschmuggeln. So was können Ostler einfach besser: "Wir mussten warten, bis ein frischer, unverbrauchter Abschnitt der Schlange vorbeiglitt. Das verstand jedes ostdeutsche Kind. Aber Zaia hatte trotz ihrer vierzig Jahre eindeutig weniger erlebt, ihre Persönlichkeit war zu luftig, ihr fehlte die stählerne Eleganz, die ständiges Hakenschlagen und Grenzensprengen erst prägten."

Weitere Artikel: Oliver G. Hamm beschreibt entzückt die Passerelle für den Bahnhof Basel (Bilder), die von der spanisch-schweizerische Arbeitsgemeinschaft Cruz y Ortiz (mehr) und Giraudi & Wettstein entworfen wurde. Die Passerelle ist ein "brückenartiges Bauwerk", ein "moderat mit Läden bestückter 'Brückenschlag' über das breite Gleisbett" zwischen dem Französischen Bahnhof und Euroville Basel, "eine ingenieurtechnische Meisterleistung, deren Schwierigkeit - und das spricht für die Eleganz der Architektur - dem fertigen Bauwerk nicht anzusehen ist". In Times Mager schildert Sebastian Moll die Versuche, Lower Manhattan wiederzubeleben.

Besprochen werden zwei Ausstellungen in Karlsruhe zu Istanbul und der Türkei: "Call me Istanbul ist mein Name" im ZKM und "Sisters and Brothers and Birds" im Badischen Kunstverein, eine Ausstellung zur Geschichte der Telefunken im Deutschen Technikmuseum Berlin, Katharina Wagners Inszenierung des "Lohengrin" in Budapest und Bücher, darunter Christian Skreins Foto-Sammlung "Snapshots" und Peter Hennings Roman "Linda und die Flugzeuge" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 05.05.2004

Harald Fricke wundert sich nicht, dass Popstars von gestern wie George Michael, Janet Jackson und Prince plötzlich wieder groß sind in den Medien: Wenn Janet Jackson "auf ihrer neuen CD 'Damita Jo' unentwegt von Aura und Orgasmen singt, wenn sie in einem Song wie 'Moist' deutlich wird oder auf der kommenden Single 'Just a little while' mit gespielter Unschuld Zeilen haucht wie 'Baby, I Know we did it all night long / and I dont wanna burn you out', kann sie zwar bezaubernd wie eine Disney-Fee klingen, die aber doch immer nur das eine will. 'Relax ? its just sex', singt sie kieksend zum Ausklang von 'Sexhibition'. Vor so viel physischer Freude und überhaupt Selbstbewusstsein muss sich Britney Spears wohl wirklich fürchten. Es ist ein Comeback der nackten Tatsachen."

Dirk Knipphals fragt sich, was eine Analyse der Folter-Bilder aus dem Irak, wie sie gestern Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung versucht hat, nützt und empfiehlt die Lektüre von "Seymour M. Hershs grandiosem Artikel 'Torture at Abu Ghrabi'" im aktuellen New Yorker. "Überzeugend ist aber vor allem die Nüchternheit, mit der Hersh (der 1968 das Massaker von My Lai aufgedeckt hatte) vorgeht. Unbeeindruckt von der exquisiten Perfidie der Bilder, sucht er der Situation auf die Spur zu kommen, in der ganz normale Männer und Frauen dazu kommen können, so etwas zu tun. Ohne eine solche Beachtung der Hintergründe bleibt diesmal eine Bildbetrachtung blind."

Weiteres: Simone Kaempf resümiert die vier Stücke des Dramatikers Falk Richter, die in einer Projektreihe an der Berliner Schaubühne aufgeführt wurden. Auf der Medienseite beschreibt Steffen Grimberg die Reaktionen auf Wolfgang Clements Entwurf zum Pressefusionsrecht.

Schließlich Tom.

NZZ, 05.05.2004

Beatrix Langner besucht Günter Kunert zu einem Werkstattgespräch in seinem Haus auf dem Lande bei Hamburg, wo er behaglich über die Schlechtigkeit der Welt sowie der Rechtschreibreform plaudert: "Seine nackten Füße stecken in Gartenschuhen, die Luft hat keine acht Grad. Hinterm Feld rauscht wie Meeresbrandung die Autobahn nach Hamburg. Kunerts Blick fixiert über den Gartenzaun die Menschheit, die im Kampf um die letzten Ressourcen ihres Wohlstands Richtung Zukunft rast. 'Ich heiße ja die männliche Kassandra von Kaisborstel.'"

Weitere Artikel: Zum hundertsten Todestag Tschechows konstatiert Olga Martynova, dass die Russen sein aufklärerisches Potenzial bis heute nicht erkannt hätten. Besprochen werden die Uraufführung von Andrea Molinos "Credo" in Karlsruhe, das Stück "Ein Freund, ein guter Freund" von Goldoni im Stadttheater Bern, ein Liederabend mit Anne Sofie von Otter im Opernhaus Zürich, eine Ausstellung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei in der Kunsthalle Bern sowie einige Bücher, darunter Kathrin Rögglas Roman "Wir schlafen nicht" (mehr hier) und, sehr ausführlich, Philipp Sarasins Studie "Anthrax - Bioterror als Phantasma" (mehr hier).

SZ, 05.05.2004

"Mit dem Likud ist kein Frieden zu machen", meint Richard Chaim Schneider nach Ariel Scharons parteiinterner Niederlage zum Rückzug aus Gaza: "Das aber könnte die Stunde der Wiedergeburt der Linken in Israel sein - wenn sie denn klug genug ist, in dieses politische Vakuum vorzudringen: mit einem überzeugenden Programm und mit einer klaren und starken Unterstützung Ariel Scharons. Galt Rabin als 'Rechter', so müsste man jetzt Scharon zum 'Linken' machen." Mag ja sein, meint Schneider, dass einem Scharons Motive nicht passen - "doch wen interessiert das? Wenn Scharon als erster israelischer Politiker Siedlungen räumen lässt, wenn also Soldaten mit dem harten Kern der fundamentalistischen Siedler in heftigste Auseinandersetzungen geraten, wenn die Siedlungen, die für teuerstes Geld errichtet wurden, plötzlich verwaist sein werden, wenn das alles auf Befehl des von Europa so gehassten Scharon geschieht, so ist dies ein Tabu- und Dammbruch in Israel, der eine Lawine auslösen wird, genauso wie einst Rabins Bereitschaft, mit der PLO zu reden."

Fritz Göttler besingt Wim Wenders Blues-Film "The Soul of a Man" , der auch Blind Willie Johnson huldigt, dessen Stück "Dark is the Night" die NASA seit 1977 ins All funkt. "Ein blinder Sänger, allein in der Nacht des Weltalls, ein Blues-Teiresias vergegenwärtigt ein paar elementare Momente aus der Geschichte des Blues, der der Suche nach der Seele eines Menschen gewidmet ist, nach der Seele der Menschheit... Kino pur, transzendentaler Stil im Film". In einem Interview verrät Wenders Susan Vahabzadeh über seinen neuen Spielfilm "Land of Plenty": "Die Geschichte habe ich in drei Tagen geschrieben."

Weitere Artikel: Kristina Läsker gibt einen Einblick in das babylonische Sprachengewirr, das neuerdings in Brüssel herrscht, und lässt einen dänischen Dolmetscher ausplaudern: "Wenn ich aus dem Italienischen ins Dänische übersetze, lasse ich erst mal zwanzig Prozent weg" - zwanzig Prozent südländische Dramatik. Christiane Kohl berichtet von einer italienischen Gesetzesinitiative, nach der künftig nur noch die mehrfache Misshandlung von Gefangenen verboten werden soll.

Auf der Plattenseite unterhält sich Jörg Königsdorf mit dem Chefdirigenten der Komischen Oper Berlin Kirill Petrenko ("Ich bin eher ein spätromantischer Typ"). Reinhard J. Brembeck erkennt in Christian Thielemanns Wiener "Tristan" auf CD "nur einen ersten Verewigungsversuch".

Besprochen werden Katharina Wagners "Lohengrin" an der Budapester Staatsoper, die Kölner Ausstellung "Ex Argentina" und Bücher, darunter Arno Schmidts Radio-Essays "Nachrichten von Büchern und Menschen", Goethe-Essays von Adolf Muschg und Ulrike Draesners Erzählband "Hot Dogs" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).