Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2004. Die FAZ singt eine Hymne auf den chinesischen Bürgerrechtler Jiao Guobiao, der das Propagandaministerium seines Landes in heftige Verlegenheit bringt. Die NZZ empfiehlt zum Verständnis des Islamismus die Lektüre des sudanesischen Autors Tajjib Salich. Die FR fühlt mit Gelsenkirchen: Wenigstens Musical-Meister ist Schalke geworden. Die taz bringt Dokumentationen und Reflexionen zu den Folterbildern aus dem Irak. In der SZ sieht sich Wolfgang Petersen auf einer Linie mit Homer.

NZZ, 11.05.2004

Angela Schader hat den sudanesischen Schriftsteller Tajjib Salich getroffen, der zur Baseler Buchmesse angereist ist, und empfiehlt dessen zwei in "Bandarschah" zusammengefasste Romane aus den siebziger Jahren. "'Bandarschah' antizipiert in symbolischer Überhöhung, aber mit erstaunlicher Präzision die Falle, in die der fundamentalistische Islamismus seine Anhänger zu führen droht. Das Buch, welches - fesselnd und verwirrend - die Figuren und Zeiten, Reales und Visionäres sich überlagern lässt, führt eine eigene Variante des Generationenkonflikts vor, indem Großvater und Enkel im Bund die Vatergestalt unterjochen und verdrängen. Salich bestätigt die Frage nach dem Symbolgehalt dieser Konstellation: 'Es gibt eine Art Verschwörung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in unserer Welt. Alles wird im Namen der Zukunft getan, alle Revolutionen finden im Namen der Zukunft statt; aber die Vergangenheit ist da, und sie hat ihre eigene Macht. Und was wir jetzt im Sudan haben, ist tatsächlich die Vergangenheit unter der Maske der Zukunft, und die Zukunft unter der Maske der Vergangenheit; und die Gegenwart wird immer geopfert - immer geopfert, um der Zukunft willen.'"

Weitere Artikel: Aldo Keel meldet den Baubeginn des Museums für Norwegens Fahrende. Rbl. kündigt das Programm der 26. Solothurner Literaturtage an, das in diesem Jahr etwas "bescheidener" ausfallen soll.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Thema "Bücher als Argumente - Lessing zwischen Bibliothek und Öffentlichkeit" in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und die neue Dauerausstellung im Lessinghaus, ein Auftritt des Tokyo String Quartet in Zürich, die Aufführung von Luigi Nonos "Al gran sole carico d'amore" in Hannover und Bücher, darunter Wieslaw Mysliwskis bäuerlicher Roman "Der helle Horizont" und der "brillante Essay" des Hamburger Kunsthistorikers Werner Hofmann über "Daumier und Deutschland" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 11.05.2004

Hatten wir noch nicht, sehen wir uns deshalb mal etwas genauer an: die Uraufführung des Schalke-Musicals "Nullvier - Keiner kommt an Gott vorbei" im Musiktheater im Revier. Rezensent Stefan Klein glaubt, dass seit der Premiere am Sonntag "S 04 deutscher Musicalmeister" sei. Richtig beweisen kann er das allerdings nicht, und wenn er noch so lange behauptet: "'Steht auf, wenn ihr Schalker seid', kann auch ein subtiler Opernchor sein."

Weiteres: Einigermaßen begeistert berichtet Florian Malzacher vom KunstenFestivalDesArts in Brüssel. Ja was denn, wie denn?, fragt man sich dagegen anlässlich eines Berichts mit dem Untertitel: "Schlingensief veranstaltet eine Ruhrpottrallye - dabei ist er schon in Bayreuth, wo er den 'Parsifal' inszeniert" - lesen Sie am besten selber. In Times mager zeigt sich Thomas Medicus überraschenderweise kokett erschreckt von hauptstadtgeläufigen Vorgängen in einer gastronomischen Promi-Wirkstätte. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den Gitarristen Barney Kessel

Auf der Medienseite beschreibt Carola Richter die Veränderungen im libyschen Mediensystem. "Das oftmals wurstblattmäßige Aussehen der libyschen Tageszeitungen und die darin abgedruckten schier end- und fruchtlosen politischen Debatten sollen der Vergangenheit angehören" -sofern Ghaddafi das zulässt.

Besprochen werden zwei Veranstaltungen der MusikTriennale Köln: Guido Fischer schwärmt für Luigi Nono, und Michael Rüsenberg informiert über die Jazz- und Folk-Tugenden der Veranstaltung.

TAZ, 11.05.2004

Viel heute, wir können nichts dafür: Auf den Tagesthemenseiten dokumentiert die taz Auszüge aus dem im Wall Street Journal veröffentlichten vertraulichen Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) über die Folterungen im Irak: "Misshandlungen durch Angehörige der Koalitionstruppen während Verhören erfolgten nicht systematisch, außer bei Personen, die verhaftet wurden, weil gegen sie der Verdacht von Sicherheitsvergehen bestand oder bei denen ein 'Geheimdienstwert' vermutet wurde. In diesen Fällen wurden Gefangene unter Aufsicht des Militärgeheimdienstes einer Vielzahl von Misshandlungen unterworfen, die von Beleidigungen und Erniedrigungen bis zu physischem und psychologischem Zwang reichten und in manchen Fällen den Grad von Folter erreichten, um sie zur Kooperation mit ihren Befragern zu zwingen." USA Watch hat den IKRK-Bericht als pdf-Dokument ins Netz gestellt.

Zum gleichen Thema denkt Karim El-Gawhary über die "entwürdigende Botschaft" nicht nur für das amerikanische Selbstbild nach, und Heide Oestreich räumt in ihrem Text mit der Vorstellung auf, dass nur islamische Männer durch weibliche Unterwerfungsgesten zu peinigen und verletzen seien: "Gerade das Männlichkeitsbild von Soldaten speist sich aus der Abwertung alles Weiblichen. Sich von einer Frau oder mit ihrer Unterwäsche demütigen lassen zu müssen, heißt, sich von der Unterlegenen quälen zu lassen. Das ist nicht nur die tiefste Demütigung, die muslimische Männer sich ausdenken können. Es ist auch die tiefste Demütigung, die westliche Soldaten sich ausdenken können."

Ebenfalls Tagesthema: Ralf Sotscheck resümiert vier Wochen Rauchverbot in Irland (über den gesamteuropäischen Nichtraucherirrsinn mehr hier).

Auf den Kulturseiten berichtet Katrin Bettina Müller vom Anfang des Berliner Theatertreffens mit Stücken von Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Georg Büchner. Gerrit Bartels informiert über ein prominent besetztes niederländisch-flämisches Literaturfestival in Berlin. Ralf Niemczyk resümiert das Leipziger Pop-Up-Festival, auf dem sich am Wochenende 120 deutsche Independent-Labels trafen. Marion Dick schließlich verteidigt Paul Auster anlässlich einer Berliner Lesung gegen die Wirkung dummer Fragen.

In tazzwei begeht Sebastian Handke den hundertsten Geburtstag des "ersten Popstars des 20. Jahrhunderts", Salvador Dali. Auf der zweiten Meinungsseite verbuchen wir den inzwischen dritten Beitrag von Bernhard "Ich-verstehe-Kinder-besser-als-mich-selber-und-auch-sonst " Pötter zum Scheitern des Sozialismus in Deutschland. Und auf der Wahrheitsseite ventiliert Jürgen Roth ebenso subjektiv wie vergnüglich Gedanken zur CD-ROM "Die digitale Bibliothek der Philosophie - Von der Antike bis zur Moderne" - enthaltend "45.000 Seiten ungekürzte, grundlegende Meisterwerke der Philosophie sowie zwei philosophische Lexika und eine Philosophiegeschichte".

Und hier TOM.

SZ, 11.05.2004

Im Aufmachtertext würdigt Wieland Schmied den "Schatzsucher des Unbewussten" und "Atombomben-Mystiker" Salvado Dali, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. "Dali wollte, was kein Verrückter je gewollt hat: der Welt erklären, dass es im Grunde selbstverständlich sei, dass man ihn zu den Verrückten zählte, weil in dem Landstrich im Nordosten Spaniens, aus dem er stammt, dank des Tramuntana alle von Verrücktheit befallen seien. Und es klang so, als wollte er sagen, dass er Anspruch auf seine Verrücktheit habe, dass sie ihm zustehe wie ein Stück Land, wie etwas, das die Welt ihm schuldig war."

In einem Interview bekennt sich Wolfgang Petersen zu einigen "Änderungen" der historischen Vorlage für seinen Film "Troja". So etwa "wie wir den machtgierigen Eroberer Agamemnon abtreten lassen. Das ist sicher unser schlimmstes Vergehen gegen das Original. Aber ich stelle mir vor, wie Homer dort oben im Olymp sitzt, auf unser Projekt herabschaut, lächelt und sagt: Hmmm, auch nicht schlecht."

Weiteres: Sonja Zekri informiert über die Neunutzung des Bunkers Mount Pony bei Culpeper, Virginia: hier will das neue "National Audiovisual Conservation Center" der Library of Congress seine gigantische Sammlung an Filmen, Ton- und Videoaufzeichnungen, Radio- und Fernsehsendungen aus den Tagen Edisons und Bells bis in die Gegenwart unterbringen. Jens Bisky resümiert eine Tagung des Deutschen Hygienemuseums in Dresden und des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, die der Frage nachging, wann und wodurch etwas zum "historischen Zeugnis" werden kann. Alexander Kissler fasst die erste "Wartburgtagung" zusammen (ebendort), auf der es um das "Menschenbild für die biotechnische Revolution" ging. Henning Klüver berichtet über die Buchmesse in Turin. Caroline Neubaur ließ sich von einem Stuttgarter Vortrag der weit über 80-jährigen Londoner Psychoanalytikerin Hanna Segal über "Changin Models of the Mind" beeindrucken ("leuchtendes Inbild einer Verbindung von Altertümlichkeit und Modernität"). Und in der Zwischenzeit begeistert sich Claus Heinrich Meyer über gleich mehrere Foto-Ausstellungen in Ludwigshafen, Mannheim und Berlin, vor allem jedoch eine bei c/o Berlin gezeigte Schau von Arbeiten des Schweizers Rene Burri. "rub" schließlich kommentiert eine Forderung der Deutschen Arbeitgeberverbände, "Ökonomie" auf die Lehrpläne zu setzen.

Besprochen werden eine "triumphale" Inszenierung von Luigi Nonos Musiktheater "Al gran sole" am Opernhaus Hannover, eine "verpolterte" Aufführung von Martin McDonaghs "Leenane-Trilogie" am Theater Basel, die Deutung von Mozarts Oper "Cosi fan tutte" als "Polterabend", ebenfalls in Basel, eine 400 Meter lange Installation des dänischen Künstlers Jeppe Hein im Aachener Ludwig-Forum, die an die "Ziehung der Lottozahlen im XXL-Format" erinnert, eine Ausstellung des Sammlungsbestands von Werken der Künstlerin Isa Genzken vor dem Lenbachhaus München.

Und natürlich Bücher, so eine Studie über Kriegsfilme des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, der Erzählband "Wie war's wirklich" von John Updike und eine Ausgabe der Zeitschrift "Time & Society" zum Thema "Kulturen der Ungleichzeitigkeit" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 11.05.2004

Zhou Derong singt eine Hymne auf den chinesischen Bürgerrechtler Jiao Guobiao, der sich besonders für die Bauern einsetzte, und der neulich das chinesische Propagandaministerium in heftige Verlegenheit brachte: "Als Ende vergangenen Jahres der stellvertretende Minister für Propaganda, Ji Bingxuan, in einem Atemzug fünfundzwanzig Vorschriften auflistete, worüber die Medien nicht berichten dürfen, explodierte er. Er forderte die Zensur geradezu auf lutherische Weise heraus und publizierte am 28. März im Internet seine Thesen: Vierzehn Gründe, das Propagandaministerium abzuschaffen, zählte er auf. Die Einrichtung sei, unter anderem, verfassungswidrig, antikommunistisch, wissenschaftsfeindlich, gesetzlos und korrupt." Einer der Gründe war sicherlich dieser: "Die chinesische Verfassung garantiert den Bürgern Pressefreiheit, das Propagandaministerium aber verbietet schon den Gebrauch des Wortes 'Pressefreiheit'." (Eine englische Übersetzung des Textes haben wir hier gefunden. Auch die New York Times berichtete über den Text, weitere Artikel hier.)

Michael Althen hat sich in Berlin Wolfgang Petersens 200 Millionen Dollar teuren "Troja"-Film angesehen, den man nach langen Zögern realisiert hat, nachdem der Drehbuchautor David Benioff eine Fassung vorgelegt hat, "die alle elektrisiert haben soll". Aber Althen versteht nicht ganz: "Worin der Trick bestanden haben mag, wird nach Ansicht des Films nicht ganz deutlich, das naheliegende Personal ist versammelt, spricht von Zeit zu Zeit jene markigen Sätze, die sich Homer kaum hätte träumen lassen, und die Ausgrabungsarbeiten hat zur Abwechslung nicht Schliemann, sondern der Computer erledigt."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay konstatiert "fieberhaftes Stühlerücken" in der spanischen Kulturwelt, weil die neue spanische Regierung ihrer Klientel nun Posten schaffen muss. Dietmar Dath wendet sich in der Leitglosse gegen die Formulierung "etwas nervt" in seriösen Zusammenhängen wie - nehmen wir an - zum Beispiel dieser Zeitung. Karol Sauerland resümiert einen Streit in der polnischen Öffentlichkeit über eine ihrer zentralen Figuren - nämlich Adam Michnik: Krzysztof Klopotowski schlug in der Rzeczpospolita vor, einen Film über Michniks heldenhafte Taten zu drehen, die er auf sein Judentum zurückführt. Bronislaw Swiderski warf Klopotowski Antisemitismus vor, denn seine jüdische Herkunft habe für Michnik selbst nie eine Rolle gespielt. Stefan Tolksdorf resümiert eine Freiburger Tagung zu spätantiken Höhensiedlungen (mehr hier).

Auf der Bücher-und-Themen-Seite liest Jürgen Kaube die Werke zweier zentraler Soziologen der Bundesrepublik, nämlich Helmut Schelsky und Ralf Dahrendorf, wieder.

Auf der Medienseite schreibt Michael Ludwig über die Reaktionen in Polen auf den Tod des Reporters Waldemar Milewicz im Irak

Auf der letzen Seite berichtet August Hamburger eindringlich vom iranischen Kulturfestival "Entfernte Nähe" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, wo er in Vorführungen der Volksmusik den "frisson des Archaischen" spürte, wo er aber auch sehr moderne Dokumentarfilme über die Lage der Frauen sah. Andre Paul berichtet über ein Projekt, das die Aufnahme des Erzgebirges in die Unesco-Welterbeliste erreichen will. Und Oliver Tolmein porträtiert Heike Zirden, die die Aktion Sorgenkind zur Aktion Mensch modernisieren half.

Besprochen werden die "Leenane"-Trilogie des irischen Dramatikers Martin McDonagh in Basel, die Ausstellung "Kunst - ein Kinderspiel" mit Kunst für Kinder in der Frankfurter Schirn, Karl-Amadeus Hartmanns "Simplicissimus"-Oper in Stuttgart, das Musical "Nullvier" in Gelsenkirchen und eine Ausstellung über den Wiener "Stimmungsimpressionismus" des 19. Jahrhunderts in der Galerie Belvedere.