14.05.2004. In der SZ will Alfred Brendel nicht die Gouvernante der Komponisten spielen. Die NZZ ergründet mit Meriwether Lewis und William Clark die "Manifest Destiny" der USA. Die taz wartet darauf, dass das Land wenigstens einmal stillhält. Die FAZ stellt klar, dass das neue Europa auch nicht jünger ist als das alte. Und die FR erklärt den Unterschied zwischen dem Jammern und dem Jammern über das Jammern.
NZZ, 14.05.2004
Hartmut Wasser
erzählt noch einmal die Geschichte der beiden Pioniere
Meriwether Lewis und William Clark (mehr
hier), die "zu den Quellen des Missouri, sodann über die Rocky Mountains zur Mündung des Columbia in den Pazifik und zurück" reisten. Auf ihrer Expedition erkundeten und kartographierten sie den halben Kontinent und legten den Grundstein für die amerikanische Überzeugung einer
"Manifest Destiny". Und: "So gewiss die Expedition ohne die Hilfe der 'Native Americans' - der
Mandans und
Hidatsa, der
Shoshone am Rande der Rocky Mountains, der
Nez Perce am Columbia oder der
Clatsop am Pazifik - gescheitert wäre, so war sie da und dort auf unverhüllte Feindseligkeit gestossen, bei den
Teton Sioux der Dakotas etwa oder bei den
Blackfeet am Oberlauf des Missouri."
Weiteres: Paul Jandl
beschreibt, auf wie unterschiedlich Weise in
Budapest Geschichte aufgearbeitet wird: Während die neue
Holocaust-Gedenkstätte sehr zurückhaltend gestaltet ist, wird im schon etwas älteren
Haus des Terrors der Schrecken des Kommunismus "
auf multimedialem Höchstniveau inszeniert". Besprochen werden die beiden
Tilman-Riemenschneider-
Ausstellungen in Würzburg, eine
Schau des Rotterdamer Architektenteam
MVRDV in Bern, das neue
Pina-Bausch-Stück im Schauspielhaus Wuppertal.
Auf der Filmseite geht's um
Lars von Triers Hilf-Jörgen-Leth-Projekt - den Film "The 5 Obstructions" -, um
Wolfgang Petersens Sandalen-Schlager "Troja" und
Theo Angelopoulos' Trilogie-Auftakt "Die Erde weint".
Auf der Medienseite
berichtet "liv", dass
RTL an einem Kooperationsvertrag mit dem zentralen
chinesischen Staatsfernsehen (
CCTV) arbeitet. "Er sieht neben dem Austausch von Nachrichtenmaterial und technischer Hilfestellung etwa im Sport - einem der populärsten Bereiche im chinesischen Fernsehen - unter anderem die Zusammenarbeit
bei der Entwicklung neuer Formate und Programme vor."
Heribert Seifert
stellt uns etwas genauer den Journalisten
Seymour Hersh vor, dem wir die Enthüllungen über das Massaker von
My Lai oder über die Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib verdanken und der als klassischer
muck-raker (Mistfink) den Gegentypus zu seinem erfolgreichen Kollegen
Bob Woodward verkörpert. Martin Hitz
meldet einen weiteren
Fälkschungsskandal in amerikanischen Medien. Diesmal trifft es
USA Today und seinen langgedienten Starreporter
Jack Kelley.
SZ, 14.05.2004
Im Aufmacher erklärt Andrian Kreye, warum nur
Hollywood uns vor der
Klimakatastrophe schützen kann. Anlass ist
Roland Emmerichs jüngster Film
"The Day After Tomorrow", der, "so pathetisch das klingen mag", "der Menschheit damit wahrscheinlich
einen großen Dienst erwiesen hat. Kaum ein Film hat in der Geschichte von Hollywood eine vergleichbare politische Diskussion ausgelöst. Noch dazu eine Debatte, die schon so lange überfällig war."
In einem Interview spricht
Alfred Brendel, der heute in München den Internationalen Ernst von Siemens Musikpreis erhält, über Gedichte, Schlager und Charakter. "Ich versuche die Botschaft der Stücke zu empfangen und nicht den Stücken zu sagen, was sie sein sollen, was der Komponist hätte komponieren sollen. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, die
Gouvernante der Komponisten zu sein und sie wie kleine Kinder zu behandeln."
Weiteres: Susan Vahabzadeh sah in
Cannes Filme von Paolo Sorrentino, Leo Frazer und Kore-Eda Hirokazu und
gewann den Eindruck, dass hier "ein ganzes
Filmprogramm auf den Jurypräsidenten Quentin Tarantino zugeschnitten wurde". Jens Schneider informiert über einen "unnötigen Streit" um eine
Ausstellung über das Schicksal von Deserteuren und Kriegsgegnern im
Gefängnis Torgau, die NS- zugunsten Nachkriegs-Opfern an den Rand dränge; dieser Vorwurf werde der Schau nicht gerecht. Alexander Kissler kritisiert das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, das in einer von seinem Leiter Gerhard Besier herausgegebenen Zeitschrift einmal mehr
Scientology verharmlose und der Sekte eine Plattform böte. Die Schriftstellerin
Marica Bodrozic (
"Tito ist tot") porträtiert den serbischen Lyriker und Prosaautor
Miodrag Pavlovic (
"Die Bucht der Aphrodite"). Karl Bruckmaier konstatiert in seiner Popkolumne eine
Rückkehr der Singer/Songwriter. Zu lesen ist die Aufsehen erregende
Dankesrede von Daniel Barenboim anlässlich der Auszeichnung mit dem israelischen Wolf-Preis für seine Verdienste um Völkerverständigung und Freiheit und eine
Ankündigung der Deutschland-Tournee von
Britney Spears ("Frau mit ca. einer Eigenschaft").
Außerdem hat "Prof.Dr.alex" allerlei
prominente Titelbetrüger ergoogelt, der
neue Intendant am
Heidelberger Theater, Peter Spuhler, wird vorgestellt, und auf der Medienseite lesen wir ein kleines Porträt des ehemaligen
Weltwoche- und
künftigen Welt-Chefs Roger Köppel, dem "Weltkonservativismus" bescheinigt sowie baldiges Scheitern prophezeit werden: "Als Schweizer kannst du nie erfassen,
wie Franz Müntefering tickt."
Besprochen werden die
Eröffnung der
Münchner Biennale mit Johannes Maria Stauds Poe-Oper "Berenice", eine Ausstellung am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, die zeigt,
"wie Meisterwerke entstehen", die
Uraufführung von Roland Schimmelpfennig und Justine del Cortes Stück
"Canto minor" - der Titel ist eine Anlehnung an Pablo Nerudas "Canto General" - durch das Nationaltheater Chile in Mühlheim und eine
"Hamlet"- Inszenierung am Londoner
Old Vic mit dem jüngsten Darsteller in der Geschichte des Hauses,
Ben Wishaw. Er hat mit Laurence Olivier, John Gielgud und Richard Burton illustre Vorgänger und gibt seinen Hamlet
"hühnerbrüstig" und "verhuscht".
Und Bücher, darunter der neue Prosaband "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" von
Botho Strauss und eine Studie über die Astrologie im Protestantismus (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
TAZ, 14.05.2004
In
tazzwei denkt Michael Streck über den zwar nicht verdauten, das
amerikanische Selbstvertrauen aber dennoch nicht erschütternden
Schock angesichts der irakischen Folterbilder nach. "Was muss noch passieren, fragen sich Beobachter von außen verzweifelt, damit Amerika nicht mehr still hält? Wann folgen auf
zwei Minuten Folterfotos in den Abendnachrichten nicht mehr
drei Minuten Werbung gegen Sodbrennen?"
Auf den Kulturseiten
porträtiert Sven von Reden im Aufmacher den "radikalen Filmemacher"
Emile de Antonio und empfiehlt eine Berliner Retrospektive (Programm
hier). "Mit einer dokumentarischen Ästhetik, die sich aus den Collagetheorien der bildenden Kunst herleitete, hat de Antonio ein
dokumentarisches Werk geschaffen, das in seiner komplexen Aufarbeitung der
Geschichte Amerikas im Kalten Krieg unvergleichlich ist. Dass er damit nicht die Publikumsmassen erreichen konnte wie
Michael Moore, ist klar."
Inge Wenzl
berichtet vom
Weltkulturforum in Barcelona, das schleppend anläuft und Kritik anzieht. Tobias Rapp
schlägt seine "Achse des Hiphop" von
D-12 über
Pete Rock bis zum
Yesterdays New Quintet. Aus
Cannes berichtet Cristina Nord über ein filmisches Selbstporträt des iranischen Regisseurs
Abbas Kiarostami, der über die Vorteile der Digitalvideokamera nachdenkt, mit der auch sein neuer Spielfilm "Five" entstand.
Und
hier TOM.
FR, 14.05.2004
In einem Interview
interpretiert die Professorin für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin,
Christina von Braun, die
Folterbilder aus dem Irak als "Trophäe". Sie glaubt dagegen allerdings nicht an die gezielte Inszenierung der Misshandlung männlicher Gefangener durch weibliches Aufsichtspersonal. Sie sei sich "nicht sicher, dass die Armee das von vornherein geplant hat. Ich glaube eher, dass die Soldaten
geschlechtsneutral eingesetzt wurden und die Fotos
nachträglich eine andere Dimension bekommen haben."
"
Cannes feiert den Autorenfilm",
befindet Daniel Kothenschulte nach erster Begutachtung von Filmen von Almodovar, Sorrentino und Kore-eda. In Times mager
reflektiert Christian Schlüter anlässlich Raus Berliner Rede über das
Jammern: "Es gibt das Jammern und das Jammern über das Jammern - Letzteres ließe sich auch als reflexives Jammern oder als Jammern zweiter Ordnung bezeichnen." Besprochen werden die
Ausstellung "Leben, Liebe und Tod: Das Werk von
James Lee Byars" in der Frankfurter
Schirn Kunsthalle und eine
Inszenierung der
"Hermannsschlacht" von Kleist durch den "politisch denkenden" Theatermacher Johannes Lepper am
Theater Oberhausen.
Gemeldet wird schließlich noch, dass
Moritz von Uslar den
Montblanc-Literaturpreis gewonnen hat und der
Tod des Kärntner Dichters
Michael Guttenbrunner (
hier).
FAZ, 14.05.2004
Die neuen EU-Mitglieder sind auch nicht fruchtbarer als wir, weiß Christian Schwägerl von einem Seminar des
Berlin-Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung: "In den Beitrittsländern lebten im Schnitt weniger junge Menschen als in der 'alten EU', und die Geburtenrate liege mit 1,2 Kindern pro Frau noch unter der von Deutschland."
"Auch Verlage haben ihr Schicksal", kommentiert Hannes Hintermeier zufrieden den Rückzug von
Ullstein nach Berlin, nicht ohne zu mahnen: "Noch ist alles eine Baustelle." Andreas Kilb hat die Eröffnungsparty hinter sich und
berichtet vom
Filmfest-Alltag in
Cannes. Celal Sengör verteidigt die Kritik des
türkischen Generalstabschefs am geplanten Hochschulgesetz als durchaus legitim. "edo" berichtet, dass der
Mord an Emmett Till wieder aufgerollt wird, im Gedächtnis durch
Bob Dylans Song (hier der
Text). Michael Althen gratuliert Regisseur
George Lucas zum Sechzigsten. Timo John feiert dreihundert Jahre
Museumsschloss Ludwigsburg.
Auf der Medienseite resümiert der Politik- und Medienwissenschafter
Stefan Appelius anlässlich der
Beteiligung der SPD an der
FR noch einmal deren schwierige Beziehung, nicht ohne süffisant einen Brief des Mitbegründers
Karl Gerold aus dem Jahr 1950 zu zitieren. "Die SPD
Hessen-Süd versucht seit der Zeit, da ich als Mitherausgeber und Chefredakteur der
Frankfurter Rundschau wirke, immer wieder, auf dem Wege über meine Person
parteipolitischen Einfluss auf die unabhängige, demokratische Gestaltung dieser Zeitung zu nehmen. Meine Aufgabe ist es jedoch, der einfachen Chronistenpflicht eines jeden
anständigen Journalisten zu genügen. Es ist unmöglich, dass ich mich dieser Verpflichtung, die ich gegenüber der gesamten Öffentlichkeit habe, im falsch verstandenen Interesse einer Partei entziehe."
Gesine Schwan (
mehr), derzeit immerhin Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt/Oder, erklärt in einem ganzseitigen Essay im Politikteil die Bedeutung des
Vertrauens für die
Politik. "Wenn wir - im Osten wie im Westen Deutschlands - die Schwierigkeiten des
italienischen Mezzogiorno vermeiden wollen, müssen wir sehr schnell die Grundlagen an gesellschaftlichen Vereinigungen und an
zivilgesellschaftlichen Initiativen, die wir ja haben, stärken." Natürlich endet der Artikel mit dem Hinweis, dass eine Bundespräsidentin Schwan genau das versuchen würde.
Besprochen werden eine
Bilanzausstellung zum 25-jährigen Jubiläum des
"Rote Couch" Projekts von
Horst Wackerbarth im NRW-Forum Düsseldorf (
hier Ausschnitte aus den Clips der Videoausstellung), eine Schau textiler Kostbarkeiten aus den königlichen
Hofwerkstätten zu Palermo in der Wiener Hofburg,
Jean Phillippe Rameaus Oper "Dardanus" unter Jonathan Lunn in Passau ("Eine wahrlich freche, unheilige Dreifaltigkeit", freut sich Ellen Kohlhaas), und Bücher, darunter
Victor Segalens imaginäre "Malereien" sowie
Christian Janeckes Sammelband zur Kulturgeschichte der Haartracht (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Auf der letzten Seite wird
Thomas Bernhards fast vergessenen Kurzdrama
"Rosa" aus dem Jahr 1960 abgedruckt. So geht's los:
"MÖRDER
schleift die von ihm erwürgte Rosa herein
Wenn mich nur niemand
gesehen hat."