Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2004. In der Welt erinnert Wolfgang Sofsky daran, dass in Deutschland vor zwanzig Jahren auch noch gefoltert wurde. Die Berliner Zeitung sah, wie Haydn den Pianisten Lang Lang aufs Äußerste verblüffte. In der taz erklärt Schwester Johanna, wie man den Schleier bindet. Die FAZ schlägt ein Gebetsfrühstück mit Islamisten im Weißen Haus vor. Die NZZ und die SZ stellen neue Bauten von Rem Kohlhaas und der Architekten Schmidt, Hammer und Lassen vor.

Welt, 01.06.2004

Der Soziologe Wolfgang Sofsky (mehr hiersagt ein paar wahre Sätze zur Folterdebatte:

"Die deutsche Folterdebatte zeichnet sich nicht gerade durch Klarheit und Substanz aus. Pathetische Gesten ersetzen Argumente, Selbstgerechtigkeit überdeckt Ignoranz. Was die Tortur anlangt, haben Deutschland und Europa nicht den geringsten Vorsprung vor anderen Nationen. Sich auf einer höheren Treppenstufe der Zivilisation zu wähnen ist Hochmut und Heuchelei. Fast jede Nation der EU kennt die Folter aus seiner jüngsten Geschichte: Frankreich in Algerien, Belgien im Kongo, Großbritannien in Nordirland; Spanien, Portugal und Griechenland unter der faschistischen Diktatur, Polen und Ungarn unter der kommunistischen Parteiherrschaft. In Deutschland währte die Zeit der Folter bis in die achtziger Jahre - in den Gefängnissen der DDR."

NZZ, 01.06.2004

Ulrich Höhns stellt mit ein paar Sätzen, die so kubisch sind wie das Gebäude selbst, das von den Architekten Schmidt, Hammer und Lassen entworfene neue ARoS-Kunstmuseum in Arhus vor: "Das neue ARoS-Kunstmuseum in Arhus ist ein mit rotem Klinker verkleideter, durch wenige senkrechte und waagrechte Glasschlitze geöffneter, streng klassisch anmutender Würfel von 50 Metern Kantenlänge, der ohne erkennbare Rücksichtnahme auf den Kontext in eine zwar heterogene, aber doch harmonische Stadtstruktur einbricht."

Weitere Artikel: Andreas Nentwich bespricht mit viel Empathie Reinhard Baumgarts Lebenserinnerungen "Damals". Andreas Oplatka schickt eine kundige Reportage über die Arbeit des wissenschaftlichen Collegium Budapest und stellt einige der dort zur Zeit Forschenden vor. Patricia Benecke gratuliert der Royal Academy of Dramatic Art, kurz RADA, der wichtigsten Schauspielschule Großbitanniens, zum hundertsten Geburtstag.

Besprechungen gelten dem "Rigoletto" bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden und den 10. Ittinger Pfingstkonzerten.

Berliner Zeitung, 01.06.2004

Die Berliner Zeitung ist noch ganz außer Atem. Lang Lang war da, der chinesische Pianist, und er spielte Haydn. Wolfgang Fuhrmann beschreibt es so: "Als im ersten Satz von Haydns C-Dur-Sonate Hob. XVI/50 das scheinbar nichtige Thema, aus dem so viel geworden ist, wiederkehrte, ein paar unbegleitete, hingetupfte Töne in der rechten Hand, reckte Lang Lang den Zeigefinger der linken hoch: Sieh mal einer an, da isses wieder. Und als sich im Finale desselben Werks die Musik in bedenklicher Weise vertrat, auf der falschen harmonischen Stufe landete, da malte sich auf Lang Langs Miene ein Ausdruck äußerster Verblüffung, als widerführe ihm dies zum ersten Mal."
Stichwörter: ISS, Musik, Sonate, Lang Lang

TAZ, 01.06.2004

Passend zu Pfingsten hat Gabriele Goettle eine "radikale Landkommune", genauer das Kloster Sankt Gertrud, besucht und porträtiert die dort lebende Schwester Johanna. Über die klösterliche Kleiderordnung etwa ist von dieser zu erfahren: "Da wäre zum Beispiel der Schleier. Dieser Schleier hat drei Teile: Stirnband, Unterschleier und Überschleier. Den schwarzen Überschleier befestigen wir mit Stecknadeln am weißen Unterschleier, und das sitzt wunderbar fest, sogar beim Fahrradfahren. Schleier habe ich drei in Schwarz. Die weißen sind nur für die Novizinnen - allerdings haben wir auch einen weißen für die Hostienbäckerei oder für schmutzige Arbeiten, denn er lässt sich besser waschen."

Weiteres: In tazzwei berichtet Daniel Schultz über das inzwischen 13. "Wave Gotik Treffen" (mehr hier) in Leipzig ("Gothics suchen einen Sinn - überall"). Auf der Medienseite porträtiert Tobias Moorstedt Amerikas "umtriebigsten investigativen Journalisten", Seymour M. Hersh, der im New Yorker den amerikanischen Folterskandal im Irak aufgedeckt hat. In der Kolumne "Berliner Ökonomie" erzählt Falko Hennig von seiner Hochzeit (herzlichen Glückwunsch auch) in einem Club auf dem Gelände des Berliner Großmarkts ("10 Euro Reingewinn"). Und Matthias Buschle bespricht die Ausstellung "Louise Lawler and Others" im Basler Museum für Gegenwartskunst, die nach dem Wechselspiel zwischen Kunstwerken und dem Leben ihrer Besitzer fragt.

Und hier Tom.

FR, 01.06.2004

Mit sichtlichem Respekt und doch irgendwie enttäuscht zeigt sich Kritiker Peter Michalzik von Nicolas Stemanns Inszenierung von "German Roots" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, die ab September auch am Hamburger Thalia Theater zu sehen sein wird. Sein Einwand: "Weil er alles so fix wenden und drehen kann, wirkt Stemann (zusammen mit seinem Dramaturg und Co-Autor Bernd Stegemann) immer schlauer als das, was eine der Figuren gerade sagt. Und so sind sie wie der Igel immer schon da, wenn der Hase der deutschen Geschichte erst ankommt."

Markus Götte führt durch die neue Holocaustgedenkstätte Belzec im Südosten Polens. In Times mager denkt Burhard Müller-Ullrich über den Zusammenhang der besonderen Qualitäten der Stadt Köln und den Bedingungen des geheimnisvollen Verschwindens von Kalif Kaplan darin nach ("Komödie und Klamauk haben eine große Tradition in dieser wunderbaren Stadt"). Und auf der Medienseite weist Jürgen Roth mit entschiedenem Abstand - auch gegenüber der Person, nicht nur dem Hype - auf das dokumentarische Porträt von Herlinde Koelbl über den Journalisten und Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre (hier) hin, das der WDR heute Abend zeigt.

Besprochen wird außerdem eine als "großer Auftritt" avisierte Ausstellung des dänisch-isländischen Künstlers Olafur Eliasson im Kunstmuseum Wolfsburg.

SZ, 01.06.2004

"Gleichzeitig opak und transparent, schroff und einladend, bunkerartig unzerstörbar und ephemer wie eine Origami-Arbeit" begeistert sich Jörg Häntzschel über Rem Koolhaas' (Website) Bibliotheksneubau in Seattle (Bilder hier und hier).

Weiteres:Über die christliche Prägung all unserer Werte denkt der Sozialphilosoph Detlef Hortser in einem Essay nach. "Schreiben als Ausdruck eines antiquierten Glamour" ist die Leitfigur in Andrian Kreyes Porträt von Candace Bushnell, deren Kolumne "Sex and the City" im New York Observer zur Grundlage der gleichnamigen Fernsehserie wurde.
Fritz Göttler gibt einen kleinen Ausblick auf den amerikanischen Kinosommer. Petra Steinberger erinnert an die Gründung der PLO vor 40 Jahren. Thomas Steinfeld berichtet über einen kleinen Skandal bei den Literaturtagen in Norwegen, und Olaf B. Rader resümiert eine Magdeburger Tagung, die an das Heilige Römische Reich erinnerte. "zri" informiert über die neueste Siegestrophäe im Oval Office: Saddam Husseins Waffe, die er trug, als man ihn in seinem Erdloch fand. Und in der Zwischenzeit räsoniert Harald Eggebrecht anlässlich eines Besuchs in der Zuni-Reservation über Amerika und das Streben nach Glück.

Einigermaßen fassungslos ("Schmarren") machte Gustav Seibt die Uraufführung des "Stauffenberg"-Dramas von David Sternbach (eigentlich Diether Lorenz) am Berliner Schillertheater, die unter der Schirmherrschaft von ver.di-Chef Bsirske stand und unter anderem von der EU und dem Bundeswehrverband gesponsert wurde. Besprochen werden des weiteren zwei neue Filme des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore-eda, eine Inszenierung von Charles Gounods Shakespeare-Oper "Romeo et Juliette" am Münchner Nationaltheater, eine Aufführung von Verdis "Rigoletto" durch den Alte-Musik-Spezialisten Thomas Hengelbrock bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden und eine Ausstellung in der Schatzkammer der Wiener Hofburg mit Textil- und Goldschmiedekunst der Normannen und Staufer.

Außerdem Bücher, darunter eine ganze Reihe von Biografien zu Eduard Möricke aus Anlass seines 200. Geburtstags und zwei Studien zum modernen Islam von Ludwig Ammann und Fouad Allam. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FAZ, 01.06.2004

"Kein Buchstabe ist zuviel", schwärmt Jordan Mejias von der Reportage des kanadischen Kollegen Patrick Graham, der für das Harper's Magazine ein Jahr im irakischen Widerstand "eingebettet" war und sich mit Mohammed anfreundete. "Der Reporter und der Widerstandskämpfer lernen sich kennen, sie unterhalten sich über Gott und die Welt und die Nachwelt mitsamt ihren Jungfrauen aus reinem Licht. 'Je mehr er redete', schreibt Graham, 'desto ähnlicher wurde er einem Gast, der im Weißen Haus willkommen wäre, um ein Gebetsfrühstück zu veranstalten und dabei gegen die Schwulenehe zu predigen.' Nach Gott liefert nur noch Sex mehr Gesprächsstoff." Leider stellt Harper's die Reportage nicht online.

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier bewundert Diogenes, wo man sich traut, Amazon und dessen Rabattforderungen von teils 50 Prozent zu trotzen. Sebastian Esser berichtet aus Israel von einer Tagung über die Bedeutung der digitalen Bilder des Krieges. Jürgen Kaube hat Sozialwissenschaftlern in Berlin zugehört, die sich nach den Gründen ihrer schwindenden Öffentlichkeitswirkung fragen. Dirk Schümer verabschiedet den in Venedig verstorbenen Philologen und Kulturmanager Vittore Branca (eine Hommage zum Neunzigsten). Matthias Grünzig lobt den gelungenen Umbau der Jakobikirche im thüringischen Mühlhausen zur Stadtbibliothek. Arnulf Baring erfährt in politischen Zeitschriften vom "Auslaufmodell Deutschland" und der Forderung nach mehr Dezentralismus.

Auf der Medienseite fürchtet Michael Hanfeld, dass die Verlegung der Filmproduktionsfirma Trebitsch an den Ufa-Standort in Berlin das Ende einer Ära sein könnte. Joseph Oehrlein stöhnt über die geplante Einstellung des spanischsprachigen Programms der Deutschen Welle.

Auf der letzten Seite druckt die FAZ einen weiteren Auszug aus Richard A. Clarkes "Against All Enemies" ab. Ilona Lehnhart porträtiert den neuen Direktor der Berliner Gemäldegalerie Bernd Lindemann. Dass Frankreich wegen des Verbots der Erinnerungen des Mitterand-Arztes Claude Gubler nun acht Jahre später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wird, deutet Jürg Altwegg als "schallende Ohrfeige".

Besprochen werden eine Giorgione-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum zu Wien, Alize Zandwijks Version von Tschechows "Iwanow" am Thalia Theater in Hamburg, Stephan Rottkamps "zerrupfte" Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" in Freiburg, Thomas Hengelbrocks historisch originalgetreu instrumentalisierte Aufführung von Verdis "Rigoletto" auf den Pfingstfestspielen in Baden-Baden, Andreas Homokis Inszenierung von Gounods "Romeo et Juliette" in München, der Abschiedsauftritt der Sängerin Cher in Köln, ein Konzert des Chors der Gächinger Kantorei in der Stuttgarter Stiftskirche, und Bücher, darunter Günter Lülings Studie zu den christlichen Wurzeln des Islam "A Challenge to Islam for Reformation" ("Der Rezensent mag bloß zu referieren, was stupende Gelehrsamkeit da zusammengetragen hat", staunt Wolfgang Günter Lerch), der achte Band der Gesamtausgabe von Ludwig Harig "Wer schreibt, der bleibt" mit Essays und Reden sowie Dacia Marainis Kommentar des japanischen Tagebuchs ihrer Mutter, "Ein Schiff nach Kobe" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).