Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2004. Die SZ plädiert gegen Elite-Universitäten in Deutschland. Die FR empfiehlt den Perlentaucher. In der taz meint Richard Clarke: Bin Laden lebt symbolisch. Die FAZ fragt: Wird der Stierkampf in Spanien verboten. In der Welt erklärt Wibke Buhns, dass und warum sie Deutschland liebt. Die Zeit zieht eine vernichtende Bilanz des Irak-Kriegs.

Zeit, 09.06.2004

Thomas Assheuer sieht durch die Folterbilder von Abu Ghraib den "Glauben an die segensreiche Wirkung des Liberalismus" erschüttert, und er zieht Bilanz: "Die Operation 'Irakische Demokratie', die bis zu siebentausend Zivilisten, ungezählten irakischen und 800 amerikanischen Soldaten das Leben kostete, strebt ihrer Vollendung entgegen." Und mir kostet "kosten" mit Dativ jedes Mal zehn Euro für die Kaffeekasse.

Auch Thomas E. Schmidt denkt in der Leitglosse über die Bilder des Krieges nach. Aus Bolivien berichtet Peter Kümmel, der zur "Fortschrittskonferenz" nach La Paz eingeladen war: "Bolivien erweist sich als uraltes Kind. Es zittert im Fieber unbezwungener Kinderkrankheiten. Kaum ein Land hat mehr Militärputsche erlebt, die Bevölkerung hat die niedrigste Lebenserwartung des Kontinents, die soziale Ungerechtigkeit ist extrem, das Gesundheitssystem beklagenswert."

Weitere Artikel: Achatz von Müller stellt nach dem Streit um die Präsentation der Flick-Sammlung in Berlin die Frage, ob Kunst den Menschen nicht vielleicht doch reinwaschen kann. Hanno Rauterberg erzählt einen Alptraum aus Braunschweig: Das dortige Stadtschloss, ein epigonaler Bau aus dem 19. Jahrhundert, nach dem Krieg abgerissen, wird von einer Tochter des Otto-Konzerns als vorgehängte Fassade für eine Shopping-Mall wieder aufgebaut, und es beteiligen sich daran ganz honorige Architekten. Petra Kipphoff stellt Bernd Lindemann, den neuen Chef der Berliner Gemäldegalerie vor. Renate Klett porträtiert die avantgardistische New Yorker Theatergruppe The Wooster Group, die bekannt wurde, weil Willem Dafoe nach wie vor in ihr mitspielt. Wolfram Goertz stellt Essens altneue Philharmonie vor.

Besprochen werden Tanz-Performances des Festivals "In Transit" am Berliner Haus der Kulturen der Welt, Pepe Danquarts Dokumentarfilm über die Tour de France "Höllentour", Tom McCarthys Film "Station Agent"

Aufmacher des Literaturteils ist Martin Warnkes Besprechung einer Neuübersetzung von Schriften Giorgio Vasaris. Und Iris Radisch freut sich in der Glosse über den Büchner-Preis für Wilhelm Genazino.

Im Dossier bietet uns Michael Schwelien eine Innenansicht des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Im Wirtschaftsteil erinnert der Historiker Niall Ferguson an den Banker Nathan Rothschild, der sein Vermögen machte, indem er den britischen Feldzug gegen Napoleon finanzierte. Und Thomas Fischermann rät ab vom Kauf von Google-Aktien (wenn's denn mal so weit ist).

FR, 09.06.2004

Es ist wieder die Zeit angebrochen, in der das Feuilleton dem Fußball die Ehre erweist. Christian Thomas analysiert fußballerische Bewegungsabläufe unter ästhetischen Gesichtspunkten und stellt etwas wie einen Innovationsdruck beim Jubeln fest: "Bobic hat alle Anlagen, die ein spektakulärer Jubler mitbringt. Er weiß, dass er sich als Torschütze ein nur begrenztes Repertoire an Jubelgesten nicht leisten kann. Gerade Goalgetter sind heute, wenn sie sich ans Triumphieren machen, zum Gestaltwillen verdammt. Etwas anders gesagt: Ein Torschützendasein, das Zukunft beansprucht, lässt sich in den Arenen der Gegenwart nur noch als ein Verhalten denken, das mit Blick auf seine mimischen und gestischen Möglichkeiten mental vollständig auf der Höhe ist."

Der Perlentaucher ist ein Kleinod, schwärmt Janko Puls im Netzwert und empfiehlt die Feuilleton-Rundschau zur allmorgendlichen Orientierung.

Auf der Medienseite bastelt sich Christian Schlüter aus Cicero (Website), Matador (Website), Cigar (Website) und reichlich Klischees das ideale Männermagazin zusammen. Und es wird gemeldet, dass Grimms Märchen zum Weltkulturerbe erklärt werden sollen.

Ansonsten regiert das Rezensionsfeuilleton. Es werden besprochen Rene Polleschs "Hallo Hotel?!" beim Festival Theaterformen, Michael Thalheimers Kölner Inszenierung von Kleists "Familie Schroffenstein", Hans Werner Henzes Version von Giovanni Paisiellos "Il Re Teodoro in Venezia" bei den Schwetzinger Festspielen, Christoffer Boes Debütfilm "Reconstruction", Klaus Theweleits Fußball-Essay "Tor zur Welt" und Sigrid Bauschingers zweite Biografie der schillernden Dichterin Else Lasker-Schüler.

NZZ, 09.06.2004

Ein originelles Jubiläum feiert die NZZ: Frank Schäfer gratuliert den Jerry-Cotton-Romanen zum Fünfzigsten: "Bevor man den anachronistischen Jaguar E-Type gegen das zeitgenössische Modell XKR auszutauschen wagte, vergingen viele Jahre und ebenso viele Grundsatzdiskussionen in der Redaktion."

Weitere Artikel: Peter Hagmann hat sich bei den Wiener Festwochen die Konzerte mit Anton Weberns Gesamtwerk - "nicht weniger als 13 Konzerte innerhalb von 36 Stunden" - angehört. Besprochen werden der Film "Depuis qu'Otar est parti" (mehr hier) von Julie Bertuccelli und einige Bücher, darunter Bernhard Stettlers Studie "Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert" und Michael Kumpfmüllers zweiter Roman "Durst" (mehr hier).

Welt, 09.06.2004

Die Welt ist immer noch ganz aufgeregt, dass Horst Köhler einfach so gestanden hat, dieses Land zu lieben, und lässt heute Wibke Bruhns ("Meines Vaters Land") darauf reagieren: "Deutschland hat einen weiten Weg hinter sich, und inzwischen ist es ein ganz normales Land, nicht besser und nicht schlechter als andere."
Stichwörter: Köhler, Horst

SZ, 09.06.2004

"Manche Türme entstehen, indem man um sie herum den Wasserspiegel senkt, und manche Türme fangen an zu leuchten, wenn man um sie herum das Licht löscht." Aufs Dramatischste macht Thomas Steinfeld deutlich, warum das Ausrufen von Eliteuniversitäten ein Irrtum ist. "Über Jahrzehnte hinweg sind die deutschen Universitäten immer größer geworden, während gleichzeitig, umgerechnet auf jeden Studenten, immer weniger Geld für sie ausgegeben wurde. Daran ändert sich nichts, wenn das Bildungsministerium nun maximal zehn Universitäten mit insgesamt knapp zwei Milliarden Euro fördert. Im Gegenteil, die miserabel funktionierenden, schlecht ausgestatteten, intellektuell verwahrlosten akademischen Institutionen bleiben bestenfalls dort, wo sie heute sind, während sich über ihnen die 'Leuchttürme' erheben dürfen. Was ist der Plan von den Eliteuniversitäten anderes als die Billigung und abschließende Befestigung des akademischen Elends für die überwiegende Mehrheit der Hochschulen in Deutschland?"

Volker Breidecker klatscht Beifall für den Direktor der Frankfurter Schirn Kunsthalle Max Hollein, der sich im Tagesspiegel (hier) vehement gegen die technische Effekthascherei im Museumsbetrieb gewandt hat. "Hat der Besucher die Ladenzeilen mit Einkaufsmöglichkeiten für den niederen wie gehobenen Kunstbedarf durchschritten, taucht er im beschleunigten Ausstellungsverkehr vollends ein in die Dauerbeschallung unter Soundteppichen. Herabhängende flimmernde Monitore und großflächige Video-Screens sorgen für Hightech-Animationen, die in eigens eingerichteten dunklen Kinosälen unterhaltsam und lehrreich vertieft werden."

Weitere Artikel: Fritz Göttler unterhält sich mit dem Regisseur David Cronenberg über seinen neuen Film "Spider" und dessen obsessive Rhythmen und Tapeten. Wiederum Fritz Göttler vergleicht Harry Potter mit dem Bayreuther "Ring" und stellt fest, dass beide ein Kontroll-Problem haben. Gerhard Persche hat sich bei einer Diskussion im Rahmen der Wiener Festwochen über die aktuelle Relevanz des Gesamtwerks Anton von Weberns informieren können. Im Star-Album stellt Anke Sterneborg den Schauspieler Thomas Jane als "Mischung aus Romantik und Gewalttätigkeit" vor. Und Alwxander Kissler hat die geschickte Nutzung von Ronald Reagans Tod als Werbung für die Alzheimer-Forschung - und damit auch der umstrittenen Embryonenforschung - beobachtet.

Auf der Medienseite gratuliert ein trauriger Paul Sahner, Mitglied der Chefredaktion von Bunte, dem an Demenz erkrankten und imaginär noch immer auf der Bühne stehenden Entertainer Harald Juhnke zum Fünfundsiebzigsten. Hans Leyendecker hat sich den Fall des angeklagten Stern-Journalisten Hans-Martin Tillack einmal genauer angesehen und findet, dass er einem politischen Schurkenstück sehr ähnlich sieht. Und Franz Kotteder lobt Franz Xaver Karls wunderbare Karl-Valentin-Porträt-Studie im br-Fernsehen.

Außerdem wird gemeldet, dass der deutsche Maler Georg Baselitz und der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer zu den diesjährigen Preisträgern des japanischen Kunstpreises "Praemium Imperiale", des selbst ernannten "Nobelpreises der Künste", gehören, sowie dass es wegen unrechtmäßiger Ausstellung einiger Klimt-Gemälde zu einem Gerichtsverfahren gegen Österreich kommen könnte.

Besprochen werden Kazuko Watanabes Inszenierung von Haruki Murakamis "Underground" im Rahmen des Berliner Festivals "In Transit", Thomas MyCarthys Film "The Station Agent", David Cronenbergs düster-faszinierendes Psychodrama namens "Spider", Lilo Mangelsdorffs Film "Damen und Herren ab 65" (siehe hier), der dokumentiert, wie Pina Bausch (Homepage) mit Senioren gearbeitet hat, die drei Basler Ausstellungen um die Künstlerfreunde Hans Arp, Kurt Schwitters, Alexander Calder und Joan Mira, und Bücher - Leonardo da Vincis verstreute Gedankenblitze, Viola Roggenkamps Roman "Familienleben", David Brooks' Rückbesinnungsbuch "On Paradise Drive", die Erinnerungen und Gedanken von Papst Johannes Paul II., der Fotokatalog "Eingelagerte Welten - Candida Höfer in ethnographischen Sammlungen" und Wolfgang Koydls John-Kerry-Biografie.

Weitere Medien, 09.06.2004

In Liberation finden wir dieses Foto von der Trauerfeier eines moslemischen Führers in Kaschmir.
Stichwörter: Liberation, Kaschmir

TAZ, 09.06.2004

Im Gespräch mit Eric Chauvistre äußert sich Richard Clarke über den vermeintlichen Erfolg im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus. Man werde so lange keinen Erfolg bei der Bekämpfung Al-Quaidas haben, bis man ihrer Strukturen und Motive Rechnung trage. Etwa zu glauben, man könne dem Terror mit Osama Bin Ladens Tod ein Ende bereiten, sei bestenfalls Wunschdenken: "Bin Laden jetzt festzunehmen würde real nichts ändern. Es wäre symbolisch, hätte aber keine taktischen Konsequenzen. Alles was Bin Laden ausmacht, ist symbolisch. Und er könnte diese Rolle tot genauso spielen, wie er es lebendig tut."

Weitere Artikel: Mit der EU-Osterweiterung sind die Roma zur größten Minderheit innerhalb der EU geworden. Daniel Bax sieht in deren Integration nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine kulturelle Chance. Für Barbara Bollwahn steht fest: Nur auf Kuba kommt man mit den wesentlichen Dingen des Lebens in Berührung, zum Beispiel mit "grünen Witzen". Steffen Grimberg stellt die deutsche Zeitungsnot in einen gesamteuropäischen Kontext. Gegen diejenigen, die sie ständig schlechtreden, ergreift Christian Füller Partei für die einzig innovative Kraft in der Bildungspolitik: Edelgard Bulmahn.

Außerdem: Auf dem großen Futur-Kongreß des Bundesbildungsministeriums in Berlin konnten Anna Lehmann und Christian Füller beobachten, wie Politiker den Jugendlichen - nicht immer glaubwürdig - eine "Mitmachzukunft" voraussagen. Rainer Moritz weint schon im Voraus über die Fußball-EM - weil die deutsche Mannschaft das Singen verlernt hat. Und im Schlagloch würdigt Michael Rutschky den verstorbenen Ronald Reagan als Sieger des Kalten Krieges wider Erwarten.

Besprochen werden Michel Houellebecqs "Elementarteilchen" am Schauspielhaus Zürich in der Regie von Marthaler-Nachfolger Johan Simons und der bislang schlechteste Roman des Jahres - FX Karls "Starschnitt"

Und schließlich TOM.

FAZ, 09.06.2004

Dieter Bartetzko freut sich über die Restaurierung der Gigantomachie des Pergamonaltars auf der Berliner Museumsinsel. Regina Mönch berichtet, dass die notleidende Stiftung Weimarer Klassik zusätzliche 1,8 Millionen Euro vom Bund erhält. In der Leitglosse betrachtet Niklas Maak einige neue Gemälde, die extra fürs Kanzleramt gemalt und vom Kanzler huldvoll inspiziert wurden. Gemeldet wird, dass die Mitglieder des Ordens pour le merite, wie schon diese Zeitung, beschlossen haben, an der bewährten Rechtschreibung festzuhalten. Andreas Platthaus gratuliert Donald Duck zum Siebzigsten und begrüßt die Wiederveröffentlichung einiger Propaganda-Comics aus dem Zweiten Weltkrieg auf DVD. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften, die sich mit Erinnerung und Vergessen auseinandersetzen. Susanne Klingenstein berichtet, dass einige amerikanische Elite-Universitäten wie Harvard oder das MIT ihre Lehrpläne reformieren- in Harvard sollen auch Geisteswissenschaftler sich mit der Naturwissenschaft befassen, im MIT spielt die Biologie eine immer größere Rolle.

Auf der Medienseite liest Jürg Altwegg die jährlich herausgebrachte Bilanzbeilage von Le Monde. Man macht 25 Millionen Euro Verlust und vergleicht sich mit den Autoren Philippe Cohen und Pierre Pean, die ein linksnationalistisches und sehr erfolgreiches Pamphlet ("La face cachee du Monde") gegen die Zeitung herausgebracht hatten - Le Monde gesteht den Autoren im Vergleich überraschender Weise zu, "dass ein Presseorgan frei und lebhaft kritisiert werden darf".

Auf der letzten Seite meditiert Paul Ingendaay über den ewig umstrittenen Stierkampf und weiß gegen Ende seines Artikels auch Neues zu berichten: "So streng die Innenwelt der Tauromachie geordnet zu sein scheint, so unübersehbar ist sie in den letzten Monaten unter Druck geraten. Der Widerstand der Tierschützer ist zwar nichts Neues, und manche Schriftsteller schreiben jährlich ihren Anti-Stierkampf-Artikel; neu aber ist, dass im April mit Barcelona gleich eine ganze Stadt die Corrida offiziell verboten hat. Die Gesetzesnovelle überholte eine Tierschutzbestimmung aus dem Jahr 1988, die zwar öffentliche Schauspiele, bei denen Tiere leiden müssen, untersagte, den Stierkampf aber davon ausnahm. Sollte sich dieses Verbot auf ganz Katalonien ausdehnen, dann hätte vielleicht auch eine EU-Initiative gegen die Tauromachie gewisse Erfolgsaussichten."

Außerdem auf der letzten Seite: Jordan Mejias schildert den Fall einer 88-jährigen Dame, die in Kalifornien gegen den Staat Österreich klagt, um einige Klimt-Gemälde zurückzubekommen, die sich einst im Besitz ihrer Familie befanden. Und Robert von Lucius zeichnet ein Profil des Autors Jostein Gaarder, der den Willy-Brandt-Preis erhalten hat.

Besprochen werden einige Spektakel zu Janaceks 150. Geburtstag bei den Wiener Festwochen, Tom McCarthys Film "The Station Agent" (der uns von Andreas Kilb innig ans Herz gelegt wird), Rene Polleschs "Hallo Hotel!" beim Festival Theaterformen in Braunschweig, eine Dramatisierung von Houellebecqs "Elementarteilchen" in Zürich und eine Ausstellung mit Aquarellen und Gouachen von Ernst Wilhelm Nay in München.