Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2004. Die Berliner Zeitung stößt eine neue Hauptstadtdebatte an: Berlin soll sich an die Länder übergeben. In der Welt macht Hans Christoph Buch die afrikanischen Eliten für das Elend Afrikas mit verantwortlich. In der SZ begrüßt Navid Kermani das Bekenntnis der irakischen Eliten zum Säkularismus. Die Zeit feiert Ariane Mnouchkine, die den Zuschauerraum zum Gelobten Land macht.

Berliner Zeitung, 17.06.2004

Der Feuilletonchef des Berliner Zeitung Harald Jähner stößt eine neue Hauptstadtdebatte an - sein Modell: Berlin soll von den Ländern, und auch vom Bund regiert werden:
"Für die deutschen Länder wäre Berlin eine ideale Bühne zur Selbstdarstellung, wenn sie die Hauptstadt als die ihre begreifen könnten. Dazu müsste Berlin als erstes seinen Status als eigenes Bundesland aufgeben, und in weiten Bereichen von Bund und Ländern regiert werden. Man kann nicht Hauptstadt sein und zugleich als Land mit den anderen Bundesländern konkurrieren wollen. Hauptstadt zu sein und weiter zu werden, heißt deshalb für Berlin logischerweise, nicht nur kassieren zu können, sondern auch Opfer an Souveränität zu bringen. Es muss die Aufgabe der Föderalismuskommission werden, ordnungspolitische Wege zu weisen, dass nicht nur der Bund, sondern auch die Länder mehr Gestaltungsräume in Berlin bekommen."

Zeit, 17.06.2004

Ariane Mnouchkines neues Stück, "Le dernier Caravanserail", aufgeführt bei der Ruhrtriennale, hat Peter Kümmel die Globalisierung endlich einmal nicht von innen, sondern von außen gezeigt. Sieben Stunden sieht man Flüchtlingen dabei zu, wie sie versuchen, Einzug ins Gelobte Land zu halten. "Mnouchkine verfolgt nicht die Figuren bis ins Persönliche, sie erleuchtet keine Charaktere; sie zeigt den kollektiven Charakter, der in der Festung herrscht. Die Regisseurin als Samariterin, die Szene als böses Märchen. Die Holzschnitthaftigkeit dieses Theaters fällt auf seine Zuschauer zurück. Plötzlich sehen wir uns selbst, wie aus Mnouchkines hartem Holz geschnitten, und es gefällt uns nicht, was wir sehen: kindische Leute, die im Theater Rührung suchen und Bestätigung für die Hoffnung, selbst nicht Festung, sondern nur Festungsbewohner zu sein."

Die Deutsche Filmakademie will den Deutschen Filmpreis künftig selbst vergeben. Kulturstaatsministerin Christina Weiss hat offenbar schon zugestimmt, doch damit, fürchtet Katja Nicodemus, setzt sie die Zukunft des Filmpreises aufs Spiel: "Sollte der deutsche Filmpreis im nächsten Jahr wirklich per Mehrheitsentscheid von der Akademie ermittelt werden, dann bedeutet dies auch eine inhaltliche Neudefinition. Weg von einer nicht immer mutigen, aber doch unberechenbaren Auszeichnung ... Hin zu einem durchbürokratisierten Verfahren ... Selbst prominente Akademiemitglieder wie die Regisseurin Caroline Link räumen ein, dass das zukünftige Procedere Ausreißerentscheidungen wie etwa Christian Petzolds Film 'Die innere Sicherheit' ausschließt. Nur Christina Weiss wehrt sich immer noch beharrlich gegen Heiner Müllers Binsenweisheit, dass zehn Deutsche natürlich dümmer sind als fünf Deutsche."

Weitere Artikel: Auf einer ganzen Seite erkundet Evelyn Finger den Bewusstseinsstand der schwarzen Emanzipationsbewegung im afroamerikanischen Modern Dance: Sie hat den Choreografen Bill T. Jones und das Alvin Ailey American Dance Theater in New York besucht. Merten Worthmann berichtet von der Kunstbiennale Manifesta 5 in San Sebastian. Thomas Groß porträtiert die "inzwischen gereiften HipHopper" Beastie Boys. Klaus Hartung berichtet über den von Boris Groys veranstalteten Kongress "The Post-Communist Condition" in Berlin. Konrad Heidkamp schreibt zum Tod Ray Charles'. In der Leitglosse behauptet Thomas E. Schmidt, "Klein Fritzchen" hätte Angst vor den großen bösen Engländern.

Besprochen werden Richard Linklaters Film "Before Sunset" und eine Ausstellung von Olafur Eliasson im Kunstmuseum Wolfsburg.

Den Aufmacher des Literaturteils widmet Iris Radisch "Schattenkind", P.F. Thomeses Buch über den Tod seines Kindes (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Im Dossier porträtiert Andreas Molitor die "erste gesamtdeutsche Heldin" Franziska von Almsick, im Politikteil beschreibt Uwe Wesel 200 Jahre europäische Terrorgeschichte und die Zeitläufte erinnern an den polnischen Nationalhelden Michal Drzymala.

Welt, 17.06.2004

In der Welt verweist Hans Christoph Buch (mehr hier) anhand von aktuellen Beispielen aus dem Sudan und Ruanda auf die Mitverantwortung der afrikanischen Eliten am Elend des Kontinents: "Ihr Mangel an schlechtem Gewissen entspringt dem in Afrika weit verbreiteten Stammesdenken, das niemand beim Namen zu nennen wagt, weil das Wort Stamm einen kolonialen Beiklang hat: Tribalismus klingt vornehmer. Jede ethnische Gruppe ist sich selbst am nächsten, und wer wirtschaftliche oder politische Macht ausübt, sorgt zuerst für den eigenen Familienclan; Nepotismus und Klientelismus sind andere Worte dafür."

NZZ, 17.06.2004

Beat Stauffer hat sich mit Intellektuellen in Marokko unterhalten, die die seit Jahren zunehmende religiöse Intoleranz in ihrem Land für die Anschläge von Madrid verantwortlich machen. "Zu ihnen gehört der Kolumnist und Schriftsteller Lotfi Akalay... Der prononciert laizistische Autor wurde schon mehrfach zur Zielscheibe islamistischer Eiferer. In der größten islamistischen Zeitung des Landes, sagt Akalay, sei er auf der Titelseite in einem Leitartikel als 'Feind des Islam' gebrandmarkt worden. Da es die Redaktion zudem für nötig befunden habe, dem Artikel ein großformatiges Bild beizufügen, habe er sich während zweier Wochen nicht mehr getraut, seine Wohnung zu verlassen. Für Akalay tragen deshalb islamistische Meinungsmacher zumindest eine Mitschuld an der ideologischen Verblendung der Terroristen, die in Madrid zur Tat geschritten sind." Der Schriftsteller Abdelhaq Serhane geht noch weiter. Er meint, das Königshaus "habe seit den siebziger Jahren alles unternommen, um den Zentren kritischen Denkens im Land die Mittel zu entziehen oder sie ganz einfach aufzulösen. "Gleichzeitig habe der König islamistische Bewegungen unterstützt und gar wahhabitische Prediger aus Saudiarabien ins Land kommen lassen, um die linksoppositionellen Kräfte zu schwächen."

Online wird gemeldet, dass der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Besprochen werden eine Ausstellung im New Yorker Museum of Natural History mit Fröschen ("begnadete Tarnexperten und schrillbunte Kreaturen, 24 phantastisch gemusterte Arten aus Argentinien, China, Mexiko, Russland und Madagaskar"), das neue Album " No Roots " von Faithless (das Hanspeter Künzler gegen den "proletarischen Sozialdünkel der britischen Musikpresse" verteidigt und durchaus hypnotisch findet) und Bücher, so Friedrich Achleitners Miniaturen "wiener linien" und Judith Butlers neue Schrift über Politik und Ethik "The Powers of Mourning and Violence" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 17.06.2004

"Ausgerechnet das missratene Engagement der USA hat dazu beigetragen, dass der Wille der Iraker nach Selbstbestimmung womöglich noch eine Chance haben könnte, sich durchzusetzen", schreibt Narvid Kermani im Aufmacher. "Wer sich - aus Ressentiment oder übertriebener Empathie - damit abfindet, dass die arabische Kultur sich nicht mit der Demokratie vertrage, dem sollte es mindestens zu denken geben, dass bei allen Differenzen innerhalb der verschiedenen politischen und ethnischen Lager nur Extremisten und alte Kader die Staatsform des neuen Irak in Zweifel ziehen: eine säkulare Republik. Ob sie verwirklicht werden kann, steht noch in den Sternen, aber erkennbar ist der Wille der meisten Iraker, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen... Gewiss wird die Religion eine stärkere Rolle spielen als in Europa. Aber dass der Irak kein Gottesstaat nach iranischem Vorbild werden wird, darüber herrscht selbst in der schiitischen Geistlichkeit weitgehender Konsens."

"So sinnfällig haben sich Politik und Fußball nie zuvor verbinden lassen", schreibt SZ-Chef Hans-Werner Kilz auf der Medienseite nach dem unentschiedenen Europameisterschaftsspiel Deutschland-Niederlande. "Gerhard Schröder und Rudi Völler, die beiden wichtigsten Deutschen an diesem Dienstag, die Mutmacher der Nation, der eine den Kopf tief drin im Schlamassel, der andere gerade dabei, sich frei zu buddeln. So einen 1:1-Sieg wie Völler hätte er jetzt auch gern, der schwimmende Bundeskanzler, einen Befreiungsschlag, irgend etwas, was jetzt nach vorne weist."

Weitere Artikel: Fritz Göttler berichtet von Michael Moores, mit Vergnügen ausgefochtenen Problemen wegen seines jüngsten Films "Fahrenheit 9/11" - diesmal mit der "Motion Picture Association of Ameria", die dem Film ein R-Rating verpasste, "das heißt, Jugendliche unter 17 Jahren dürfen nur mit elterlicher Begleitung ins Kino, um zu sehen, wie Bush und seine Sippschaft den Irakkrieg vermasselten." Susan Vahabzadeh stellt ein Produkt der Firma "Clear Play" vor: einen DVD-Spieler, der mit Hilfe eines Softwareprogramms, das man immer wieder aktualisieren kann, Sexszenen und Gewaltdarstellungen nicht zeigt - "also jede herkömmliche DVD, die man im Laden kauft, verändern kann." Jörg Häntzschel sagt uns, was der europäische Start des Musik-Online-Dienstes 'iTunes Music Store' für die Zukunft der Popmusik bedeutet. Aus Anlass des Designparcours, der heute in München unter dem Motto "Was ist Design?" eröffnet wird, wagt Dorothee Müller eine düstere Prognose: "Das Design hierzulande ist... akut vom Verschwinden bedroht." Sonja Zekri hat mit dem CDU-Kulturpolitiker Günter Nooke über sein Konzept zur "Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte" gesprochen. Wolfgang Jean Storch schreibt zum Tod des Tonplastikers Lothar Fischer. Jens Bisky meldet die Förderentscheidungen der Bundeskulturstiftung, die auch dem Perlentaucher mit 1,3 Millionen Euro hilft, einen englischsprachigen Dienst aufzubauen (mehr hier). Lothar Müller freut sich über den Friedenspreis des deutschen Buchhandels für den Schriftsteller Peter Esterhazy, "die Personalunion von mitteleuropäischem Witz und Literatur".

Besprochen werden Philipp Himmelmanns Inszenierung von Guiseppe Verdis "Don Carlos" an der Berliner Staatsoper, Richard Linklaters Film "Before Sunset", David Zuckers Film "My Boss's Daughter", Garry Marshalls neue Komödie "Liebe auf Umwegen", Sandra Gugliottas Film "Ein Glückstag" und Bücher, darunter Manuel de Lopes Roman "Fremdes Blut" und ein neues Buch über den 17. Juni 1953, das allerdings Rezensentin Franziska Augstein nicht selten peinlich berührte (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 17.06.2004

Martina Meister schreibt über ein wunderbares neues Museum in Paris, "La Maison Rouge", das Anfang Juni eröffnet wurde. Die erste Ausstellung ("L'Intime, le collectionneur derriere la porte") zeigt, wie die "Kunst bei den Menschen wohnt", vor allem bei Sammlern: "Wie muss man sich beispielsweise den Schlaf von Monsieur O. vorstellen, in dessen Schlafzimmer Henri Michaux und Herman Nitsch, Tesumi Kudo und Gina Pane, afrikanische Masken und ein kleiner Glassarg mit einer jungen, schlafenden Frau aus Wachs, einer Heiligenreliquie, zusammenleben? Hat Herr O. Sex in einem Bett, auf dessen vier Ecken die Künstlerin Julia Scher kleine Monitore montiert hat, die im Stil von Überwachungskameras das Geschehen in anderen Betten zeigen?"

Thomas Medicus zeigt sich beeindruckt von einer Berliner Veranstaltung zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes gegen die deutsche Besatzung und stellt fest: "Klar schien... dass Gerhard Schröder, als er anlässlich seiner Einladung in die Normandie das endgültige Ende der Nachkriegsgeschichte erklärte, falsch lag. Wenn der Kanzler im August in Warschau an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes teilnimmt, wird er sich davon überzeugen können, dass zumindest in Ostmitteleuropa von Geschichtsentsorgung keine Rede sein kann."

Weitere Artikel: Ina Hartwig begrüßt Peter Esterhazy (mehr hier) als neuen Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: "Dieser Schriftsteller bewegt genau jene Fragen, die eines Friedenspreisträgers würdig sind." Und Christian Horn erörtert in Times Mager Pobleme des kanadischen Buchmarktes.

TAZ, 17.06.2004

"Sollte dies etwa Hinweis sein, dass der über beiden Titeln schwebende Holtzbrinck-Konzern seine Berliner Pflanze nicht mehr ganz so lieb hat und ihr fürderhin den Premium-Status entzieht", fragt auf der Medienseite süffisant Steffen Grimberg, der Tagesspiegel-Chef "Don" Giovanni di Lorenzo nicht ohne Holtzbrinck-Hintergedanken als neuen Zeit-Chefredakteur nach Hamburg ziehen sieht. Alexander Leopold erklärt auf der Meinungsseite den Hintergrund, vor dem der Börsenverein des deutschen Buchhandels den Schriftsteller Peter Esterhazy zum diesjährigen Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels erkor: Esterhazy beklage in seinen Büchern "nicht nur die Zerstörung des Menschen durch Terror und Gewalt", sondern versuche auch, dessen "Wiederauferstehung in Trauer und Ironie" zu begründen.

Besprochen werden Richard Linklaters Film "Before Sunset" und Jürgen Habermas' neues Buch "Der gespaltene Westen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und TOM.

FAZ, 17.06.2004

Peter Esterhazy ist zum Friedenspreisträger des deutschen Buchhandles gewählt worden - und Lorenz Jäger ist mit dieser Wahl zufrieden: "Sie signalisiert eine deutliche Entscheidung für die Wahrnehmung jener ost- und mitteleuropäischen Stimmen, die eine andere, hierzulande wenig bekannte Geschichte der Vergangenheit zu erzählen haben.."

Und fast hätte Michael Althen den Schluss von Richard Linklaters "wunderbarem" Film "Before Sunset" erzählt, in dem Julie Delpy und Ethan Hawke an einem Pariser Sommernachmittag auf eine Affäre zurückblicken: "Julie Delpy legt eine Platte von Nina Simone auf, und während man sich noch fragt, ob das wirklich nötig ist, nachdem sie kurz zuvor selbst zur Gitarre gegriffen hat, macht sie etwas, das nicht nur Ethan Hawke die Augen übergehen lässt." Da hilft wohl nur der Gang ins Kino!

Weitere Artikel: In der Glosse beschwert sich Richard Kämmerlings über den ZDF-Fußballmoderator Johannes B. Kerner, der in seinen Kommentaren zum Spiel Deutschland-Niederlande "penetrant auf der Klaviatur jovialer Talkmasterrhetorik spielte". Andreas Rossmann fürchtet, dass dem ehemaligen Regierungsviertel in Bonn "Geschichts- und Gesichtsverlust" drohen.

Auf der Kinoseite gratuliert Michael Althen Helmut Dietl zum Sechzigsten. Bert Rebhandl blickt zurück auf fünfzig Jahre Filmfest Oberhausen. Und Andreas Kilb berichtet (leider recht kurz), wie Michael Moores Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" die amerikanische Kinobranche spaltet.

Auf der Medienseite würdigt Christian Eichler live geschriebene Fußballgedichte Robert Gernhardts. Gisa Funck hat einige wegweisende Fernsehproduktionen der diesjährigen Cologne Conference gesehen, die heute beginnt. Katja Gelinsky meldet, dass Amerikas Waffenlobby ein eigenes Radioprogramm, die NRA-News macht. Ferner wird gemeldet, dass sich die SZ neu positionieren will und an eine Beilage im Tabloidformat denkt (originell, wie die deutschen Zeitungen alles nachmachen!)

Auf der letzten Seite präsentiert Oliver Hilmes, der in diesem Tagen sein Buch "Witwe im Wahn - das Leben der Alma Mahler-Werfel" (mehr hier) herausbringt, einige erschütternde und bisher unbekannte Dokumente über Alma Mahlers Antisemitismus. Andreas Rosenfelder berichtet, dass sich Köln mit einem Festival namens c/o pop und einem Kongress namens mem 04 über den Verlust der Popkomm tröstet. Und Dietmar Dath porträtiert den Comiczeichner Craig Thompson.

Besprochen werden Harrison Birtwistles neue Oper "The Io Passion" beim Britten-Festival in Suffolk, ein Auftrtitt des Popsängers Sting in Berlin, die Kunstbiennale Manifesta 5 in San Sebastian und eine Ausstellung mit Modefotografien im MoMA.