18.06.2004. In der NZZ mag Ulrich Beck anders als Frank Schirrmacher nicht glauben, dass die Deutschen zugleich mit ihrem Problem des Alterns auch noch das Problem der Welt lösen können. In der FR gratuliert Jacques Derrida seinem Kollegen Jürgen Habermas zum Fünfundsiebzigsten. Und dieser wiederum kritisiert in der SZ die europäischen Medien, die keine europäische Öffentlichkeit herstellen. Die FAZ benennt die Folterpraxis in Israel. Die taz stellt uns den brasilianischen Songschreiber Vinicius Catuaria vor.
NZZ, 18.06.2004
Der Soziologe
Ulrich Beck polemisiert gegen
Frank Schirrmacher, der das
demographische Problem in seinem Buch
"Das Methusalem-Komplott" als ein deutsches Problem darstelle ("Wir müssen das Problem unseres eigenen Alterns lösen, um das
Problem der Welt zu lösen", zitiert Beck Schirrmacher) und schlägt statt dessen eine
europäische Perspektive vor: "Auf der einen Seite entstünde ein Bewusstsein dafür, dass es sich gerade nicht um ein nationales Versagen handelt, sondern um Fragen, die
alle europäischen Gesellschaften und Regierungen auf die eine oder andere Weise zu beantworten gezwungen sind. Auf der anderen Seite erlaubte dies nationalen Regierungen, sich mit europäischen Argumenten zu wappnen."
Weitere Artikel: Roman Hollenstein
besucht das von
Daniel Libeskind entworfene
Jüdische Museum von
Kopenhagen. Besprochen werden eine
Ausstellung der bibliophilen Sammlung
Pierre Beres in der
Bibliotheca Bodmeriana,
Choreografien aus
Afrika und der
Schweiz bei den
Berner Tanztagen und eine kleine
Delacroix-Ausstellung im
Louvre.
Auf der
Filmseite bespricht Alexandra Stäheli den Film von "Before Sunset" von Richard Linklater.
Und
Maja Turowskaja erzählt vom großen Erfolg der zehnteiligen Fernsehadaption von
Fjodor Dostojewskis "Der Idiot" in Russland: "Es steht zu vermuten, dass die Fernsehserie ihre Beliebtheit beim Publikum nicht nur den radikalen Handlungsumschwüngen verdankt, mit denen Dostojewski niemals spart, oder seinen - neuerdings wieder modischen - Phobien (Antikatholizismus, Antinihilismus), sondern eben dieser leise hartnäckigen, unheilbaren
Güte und Menschlichkeit, die in der enttäuschten, zynischen Welt von heute so defizitär sind."
Auf der
Medien- und Informatikseite berichtet "mm" von einer internationalen Konferenz über
Radiofeatures in Luzern. "ras"
betrachtet feuilletonistische und philosophische Bemühungen um den
Fußball mit einiger Ironie. Und Sabine Windlin
stellt die
Maison des Journalistes in Paris, eine Zufluchtsstätte für
verfolgte Journalisten vor.
TAZ, 18.06.2004
Max Dax
porträtiert den
Songwriter Vinicius Cantuaria - Hitlieferant für brasilianische Superstars und
Erneuerer des Bossa Nova. Cantuaria lebte in Manaus - "Ich bin mit den
Indianern im Urwald groß geworden und prägte mir ihre Melodien und ihr Rhythmusgefühl ein." - in Rio de Janeiro - "Zum ersten Mal habe ich die schwarzen Menschen aus Afrika gesehen und ihre Spielart des Samba gehört. Den Samba gab es natürlich auch bei uns im Urwald. Aber in Rio hatte ich den Eindruck, dass sie den
Samba in Stereo spielten." - und in New York - "Erst mit der Bossa Nova wurde der
Jazz in den Neunzigern in einem anderen Körper wiedergeboren. Und das ist gut so, denn die Bossa Nova ist die schönste Musik der Welt: Sie ist melodiös, sie ist rhythmisch, sie ist dabei minimalistisch, sie hat eine Tradition und sie ist dramatisch."
Weitere Artikel: Dietmar Kammerer
berichtet über den umstrittenen Plan, den
Deutschen Filmpreis künftig von der Deutschen Filmakademie vergeben zu lassen. Dirk Knipphals
gratuliert in der tazzwei
Jürgen Habermas zum Fünfundsiebzigsten und erinnert an die
Wallfahrt von vier tazlern zum "Projektleiter der Moderne" im Oktober 1980. Die "große, die umfassende Würdigung", meint Knipphals, ist aber noch nicht fällig an diesem Geburtstag. "So historisch kann man diesen Philosophen noch gar nicht sehen. Er ist ja weiterhin im Ring,
still alive and kicking, präsent in den deutschen Debatten, selbst von den USA aus, wo er sich seit seiner Emeritierung in Frankfurt gern aufhält."
Besprochen werden
Techno-CDs, die "zu sehr rocken", nämlich "Transphormer" von
Alter Ego und "Introducing Light and Sound" von
Monne Automne und ein
Fotoband von
Jens Liebchen über Künstler und ihre Werke im Reichstagsgebäude.
Schließlich
Tom.
FR, 18.06.2004
In aller Ausführlichkeit
gratuliert Jacques Derrida seinem Philosophenfreund
Jürgen Habermas zum Fünfundsiebzigsten und blickt auf die "so wenig gemeine gemeinsame Geschichte" zurück: "
Ich liebe diese Geschichte, ich lerne sie zu lieben. Ihre philosophische und politische Bedeutung ragt schon jetzt über uns beide hinaus. Sie nimmt mich in die Pflicht, und ich hoffe, dass sie in der
Ordnung der Philosophie bei mehr als nur einem zweierlei abfordert: ein
politisches Engagement der Philosophen - darüber nachzudenken, was jenseits der gewöhnlichen Leidenschaften des Lebens Verantwortung heißen sollte - und die
Rechtschaffenheit, also
Redlichkeit des Denkens: gegenüber dem Anderen, gegenüber dem Ereignis, gegenüber Politik und Geschichte, gegenüber der Zukunft. In Deutschland, in Frankreich, in Europa und in der Welt, die kommen wird."
In Times mager
erinnert Christine Pries an die Zeit, als sich Derrida und Habermas noch als unerbittliche Widersacher in puncto Vernunft gegenüber standen, die "
Wacht am Main gegen
subversive französische Umtriebe".
Weiteres: Elke Buhr
berichtet von der
Art Basel, dass auf der Kunstmesse keine Spur von Krise zu bemerken ist und sich die
Young German Artists als
"Erfolgsproduzenten in Sachen Öl" erweisen.
Gemeldet wird zudem ein Zuschauer-Einbruch bei den Ruhrfestspiele, die im ersten Jahr unter
Frank Castorf nur noch eine Auslastungsquote von 35 Prozent vorweisen können.
Welt, 18.06.2004
Glückwünsche an
Jürgen Habermas schickt auch Ekkehard Fuhr, der erfreut registriert, dass bei Habermas nicht mehr der
"Ton des Argwohns" gegen alles vorherrsche, "was die mühsam erreichte postnationale Zivilisierung der Westdeutschen zu gefährden schien": "Als politischer Intellektueller ist er dank seines
Spürsinns für Kommendes wieder ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt."
Das Forum räumt Platz frei für das
Plädoyer von Unionspolitikern wie
Günter Nooke und
Peter Gauweiler, die die deutschen
Gedenkstätten neu zu konzipieren: Ihrer Meinung nach wird "dem Gedenken an die
Opfer der beiden Diktaturen nicht angemessen Rechnung getragen". Und es bestehe "vielfach der falsche Eindruck fort, dass die SED-Diktatur lediglich als
regionales Ereignis auf dem Boden der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zu betrachten und eben nicht als Bestandteil der
gemeinsamen deutschen Nationalgeschichte darzustellen sei. Dieser falschen und für die Erinnerungskultur fatalen Fehleinschätzung sollte nicht weiterhin Vorschub geleistet werden. Der für das Verständnis unserer Geschichte so wichtige Zusammenhang zwischen beiden Diktaturen und das Gedenken an deren Opfer muss sich in einem
stringenten Gesamtkonzept wieder finden."
SZ, 18.06.2004
Die
Wahlen zum Europaparlament waren kein Erfolg für die europäische Einheit: Entweder haben die Bürger gar nicht gewählt oder Euroskeptiker nach Straßburg geschickt. Im Interview überlegt
Jürgen Habermas, warum das so ist: "'Europa' ist als solches ein
Reizthema, aber die Probleme, die in den europäischen Institutionen abgearbeitet werden, werden nicht zu Reizthemen, an denen sich über nationale Grenzen hinweg Meinungen kristallisieren würden. Daran tragen auch die
Medien, in erster Linie die Presse Schuld. Die nationalen Öffentlichkeiten müssten sich füreinander öffnen und die Diskussionen, die in den jeweils anderen Nationen geführt werden, zu Hause präsent machen. Stattdessen kooperiert die
FAZ mit der
Herald Tribune und die
Süddeutsche mit der
New York Times. Die Kommunikation der Wirtschaftseliten, die doch lieber die
Financial Times auf englisch lesen sollten, ist für unsere
kleinkarierten Redaktionen offenbar wichtiger als der transnationale Zusammenhang der europäischen Bürger."
Franziska Augstein gratuliert dem Philosophen zum Fünfundsiebigsten und freut sich, dass
Habermas in seinem neuen Buch
"Der gespaltene Westen" die USA "mit der immerfrischen Kraft der Vernunft" schilt.
Weitere Artikel: Der
Europarechtler Joseph H. H. Weiler plädiert für eine
EU-Verfassung mit Gottesbezug: "Das edle Erbe der Französischen Revolution, wie es sich in der französischen Verfassung niederschlägt, sollte ebenso bedacht werden wie die Symbolsprache jener Verfassungen, die eine Invocatio Dei vornehmen. Wer den Gottesbezug ablehnt, verwechselt
Säkularismus mit
Neutralität." Eva Karcher schlendert über die
35. Art Basel. Caroline Neubaur berichtet von einem Kongress, bei dem sich
Psychoanalytiker über
Terrorismus nachdachten. In der Rubrik "Vom Satzbau" widmet sich
Brigitte Kronauer virtuos dem
Periodenbau. Und auf der
Medienseite beschreibt Hans-Jürgen Jakobs den Kauf des Musiksenders
Viva durch
Viacom als "Anfang einer amerikanischen Expansion".
Besprochen werden
Francis Vebers Filmkomödie
"Ruby & Quentin - Der Killer und die Klette" mit Gerard Depardieu und Jean Reno (Er "erzählt von einer
Liebe zwischen Gerard Depardieu und Jean Reno, die ziemlich lang braucht, um sich herauszukristallisieren, aber schließlich von großer Unerschütterlichkeit ist: 'Du hast
richtige Pferdeaugen ... Da fühle ich mich gleich wie in einem Stall'", schreibt ein hingerissener Fritz Göttler), die Foto-Ausstellung
"Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" im Berliner
Gropius-Bau, die Aufführung der
Fielding-Oper "Tom Jones" von Francois-Andre Danican Philidor bei den
Tagen für Alte Musik in Bamberg,
Bücher, darunter Rolf Wiggershaus'
Habermas-Biografie und
Johannes Kühns bisher unveröffentlichte Jugenderzählung "Ein Ende zur rechten Zeit" (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr) und
Richard Strauss' "Daphne" an der Wiener Staatsoper ("'Du hättest Zuckmayer heiraten sollen', ätzte
Fritz Kortner, als seine Gattin Johanna Hofer sich an einem Sonnenuntergang entzückte", erzählt Gerhard Persche, der mit diesem Satz sein eigenes Misstrauen gegen Strauss' Naturidylle beschrieben findet.)
FAZ, 18.06.2004
Lorenz Jäger
greift noch einmal die Argumente
Michael Wolffsohns auf, der die
Folter in einigen Fällen für gerechtfertigt hält, und verweist auf einen zweiten jüdischen Befürworter der Folter, den amerikanischen Anwalt
Alan Dershowitz, und die
Folterpraxis in Israel: "Dass man den Fall Wolffsohn skandalisierte, ungerecht und überzogen, war nur möglich, weil man nicht aussprechen wollte, was doch jedem
Unbefangenen auf der Zunge liegt. Man schlug auf den einen, weil es bequemer war, der weltpolitisch ungleich wichtigeren Debatte auszuweichen. Hierzulande ist die Legitimität der Folter ein
theoretisches Gedankenspiel.
Andernorts ist sie eine Frage, mit der sich eine Bevölkerung, eine Regierung und ihre Dienste täglich konfrontiert sehen."
Karol Sauerland berichtet über die tiefe
politische Krise in
Polen und führt sie auf eine mangelnde
Vergangenheitsbewältigung zurück, die etwa dazu führte, dass
Zehntausende von IMs bis heute in Amt und Würden sind: "Man kann sich vorstellen, dass sie sich schnell dem neuen System angepasst haben. Zu einer Anhebung der
demokratischen Kultur haben sie aber bestimmt nicht beigetragen, sondern eher zur Aufrechterhaltung einer Mentalität, die mit zur heutigen Krise führte: statt Eigeninitiative ein
Warten auf Anordnungen von oben, statt Transparenz Geheimhaltung von Informationen, statt gerechter Prozeduren Vetternwirtschaft und Korruption."
Weitere Artikel: Dirk Schümer
glossiert den "Lama-Skandal" um den spuckenden italienischen Nationalspieler
Francesco Totti.
Auf der
Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass die
ARD nach dem Streit mit der Akademie der Künste die
"Woche des Hörspiels" nun allein veranstaltet. Hanfeld hat auch einer Mainzer Diskussion über zwanzig Jahre
Privatfunk zugehört. Und Jürg Altwegg berichtet Ungeheures aus
Basel: Der einst renommierten
Basler Zeitung wurden im Rahmen einer populistisch-regionalistischen Zeitungsreform der
Kulturteil und das legendäre
Samstagsmagazin eingestampft - aber Basel hat noch eine Bevölkerung, die gegen so etwas
protestiert!
Auf der
letzten Seite schreibt Regina Mönch ein liebevolles Porträt des thüringischen Dorfs
Bauerbach, wo einst
Schiller lebte und wo man bis heute Schillers Erbe
andächtig pflegt. Joachim Müller-Jung erklärt uns den Begriff der
"Polkörperdiagnostik", die eine Einschätzung künstlich befruchteter Eizellen auf ihre Funktionstüchtigkeit erlauben soll und aus
bioethischen Gründen nicht unumstritten ist. Und Andreas Rossmann erinnert an den Prinzen
Johann Moritz von Nassau-Siegen, der einst die Stadt Kleve zur Blüte brachte und hier
Gärten anlegte und dem nun mit einem
Denkmal gehuldigt wird.
Besprochen werden eine Ausstellung mit
Malerei und
Fotografie des 19. Jahrhunderts in
München,
Richard Strauss' "Daphne" in Wien,
Volker Koepps Dokumentarfilm
"Dieses Jahr in Czernowitz", ein
Auftritt der Sängerin
Nelly Furtado in München und eine Ausstellung im Hamburger
Ernst-Barlach-Haus, die an die jüdischen Künstler
Otto Freundlich (1878-1943),
Paul Gangolf (1879-1939) und
Moissey Kogan (1879-1943) erinnert.