Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2004. Die  NZZ macht eine jüngste Tendenz deutscher Vergangenheitspolitik aus: Mäkeln an den Befreiern. In der Welt erklärt der israelische Historiker Gadi Taub, warum die Siedler Anti-Zionisten sind. Die FAZ weiß, dass Bill Clintons Memoiren chaotisch sind. Die SZ berichtet über polnische Schmerzen bei der Vergangenheitsbewältigung.

NZZ, 21.06.2004

Eine "jüngste Tendenz deutscher Vergangenheitspolitik" in Deutschland analysiert Richard Herzinger im Feuilletonaufmacher: Da man es als Makel empfinde, die Demokratie nicht aus eigenen Kräften gegründet zu haben, "hat ein vergangenheitspolitischer Diskurs begonnen, der die moralischen Motive der einstigen Sieger- und Besatzungsmacht in Zweifel zieht und damit deren Anteil an der demokratischen Läuterung der Deutschen nach 1945 zu minimieren versucht". Herzinger erinnert an die Debatte um Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" über den Bombenkrieg der Alliierten: "Solche nicht unproblematische Neubeleuchtungen der Vorgeschichte der bundesdeutschen Demokratie helfen dabei, das moralische Unterlegenheitsgefühl gegenüber den demokratischen Umerziehern von einst zu überwinden. So schwingt bei der Verdammung des Irak-Kriegs und in der berechtigten Empörung über Foltermethoden in der US-Armee oft die unterschwellige Genugtuung mit, sich dem einstigen Lehrmeister in Sachen Völkerrecht, Demokratie und Menschenrechte endlich moralisch überlegen fühlen zu dürfen."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann stellt in der Reihe Kulturszene Frankreich Philippe Beaussant vor, der sich als Konzertveranstalter und Schriftsteller Verdienste um den Siegeszug der Alten Musik in historischer Aufführungspraxis erwarb. Michael Braun gratuliert dem Lyriker Wulf Kirsten zum Siebzigsten. Die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld erinnert an die Bedeutung des Reisens für Mozarts Werk - Anlass des Artikels ist, dass der Korpus der Reisen Wolfgang Amadeus Mozarts vom Europarat in Straßburg mit der Bezeichnung "Major Cultural Route" versehen wurde. Jakob Knaus besucht die Villa Bertramka bei Prag, wo Mozart große Erfolge feierte.

Besprochen werden Giacomo Meyerbeers "Africaine" in Straßburg und Jules Massenets "Manon" in Genf.

SZ, 21.06.2004

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum bietet jedem 10.000 Dollar, der in Osteuropa einen Juden-Mörder anzeigt (mehr hier). Im Baltikum wurden schon 260 Verfahren eröffnet, Polen aber ist empört, meldet Thomas Urban. "Der stellvertretende IPN-Präsident Witold Kulesza (IPN steht für: Institut für das Nationale Gedächtnis), der auch die staatsanwaltschafliche Abteilung leitet, drückte sein Erstaunen darüber aus, dass Polen nun in einer Reihe genannt werde mit Ländern im ehemaligen Ostblock, in denen die Führung oder ein Teil der Bevölkerung offen mit den Besatzern kollaboriert hätten. Kuleszas Bemerkung bezog sich nicht nur auf Lettland und Litauen, wo derartige Infoleitungen bereits vor zwei Jahren geschaltet wurden und die eingehenden Informationen mittlerweile zur Einleitung von 260 Untersuchungsverfahren geführt haben, sondern auch auf die Slowakei, Kroatien, Rumänien und Ungarn, wo die Behörden auf die eine oder andere Weise an der Deportation von Juden beteiligt gewesen waren. In Polen hingegen hat es eine derartige Kollaboration von Amtsstellen nicht gegeben - denn es gab keine polnischen Behörden; Polen sollte als Staat und als Kulturnation ausgelöscht werden.

Mainat Abdulajewa erzählt, wie die Russen sich in Tschetschenien bedienen: Sie klauen das Öl, bereichern sich am Budget, das eigentlich für den Wiederaufbau Tschetscheniens bestimmt ist und erpressen Geld durch Geiselnahme. So lange der Krieg für die Russen derart "profitabel" ist, meint Abdulajewa bitter, wird er auch nicht enden.

Weitere Artikel: Patrick Krause erinnert an die Popperbewegung, die vor 25 Jahren "einen blonden Samtvorhang über ihr Auge fallen ließ". Prächtig unterhalten hat sich Anke Sterneborg bei der Verleihung des deutschen Filmpreises im Berliner Tempodrom. Abgedruckt ist die Rede, die Elfriede Jelinek zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises am Sonntag hielt: Wie der Mensch auf die Bühne kommt. Detlef Esslinger erzählt, wie Dustin Hoffmann in einen Werbespot für Audi gekommen ist. Alexander Kissler berichtet von einer Münchner Tagung über die Rolle von Religionskulturen und Glaubensgemeinschaften in den USA und Europa. Marianne Heuwagen gratuliert dem Museumsdirektor Pontus Hulten zum Achtzigsten, Nico Bleutge dem Schriftsteller Wulf Kirsten zum Siebzigsten.

Für die Medienseite hat Hans Leyendecker den PR-Unternehmer Moritz Hunzinger besucht. Hans Hoff porträtiert Roy Brandon Burgess, "Gegenentwurf" zu Haim Saban und bei General Electric (GE) verantwortlich fürs internationale TV-Geschäft und digitale Projekte. Fritz Wolf schreibt zum Tod des Fernsehautors Peter Märthesheimer.

Besprochen werden die Uraufführung von Moritz von Uslars "Lulu" im Bochumer Schauspielhaus, Peter Gersinas Film "Mädchen Mädchen 2", die Ausstellung "Die Zehn Gebote" im Dresdner Hygiene-Museum, Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Annemarie Seidel und Carl Zuckmayer (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr) und die Aufführung von Mozarts später g-Moll-Symphonie mit den br-Symphonikern unter Marc Minkowski: "Der Franzose Marc Minkowski hat mit musikalischem Ausdrucksfuror gezeigt, um welche untergründigen Dinge es Mozarts Dämon in dem heute allzu berühmten Stück eigentlich gegangen ist", lobt Wolfgang Schreiber.

Welt, 21.06.2004

Im Forum erklärt der israelische Historiker Gadi Taub, warum die Siedler Anti-Zionisten sind: "der Zionismus wollte jüdisches Leben normalisieren, indem er die Juden zu einem Volk unter vielen machte - souverän in ihrem eigenen demokratischen Nationalstaat. Die religiösen Nationalisten dagegen sahen das Instrument dieser Normalisierung, den demokratischen Staat, als einen temporären Schritt in eine andere Richtung, als eine Phase auf dem Weg zur religiösen Erlösung. Deshalb machen sie sich auch keine Sorgen darüber, dass die Besetzung eines ganzen Volkes den demokratischen jüdischen Staat seine Existenz kosten wird. Dieser säkulare Staat ist für sie nur Mittel zum Zweck, kein Ziel an sich, und wenn die Mittel ausgewechselt werden müssen, dann bitte sehr."

FR, 21.06.2004

Michael Rutschky kommt in einem Essay über Politik und Herrschaft in modernen Zeiten auf folgende Überlegung: "Schaut man sich noch einmal das generalisierte Misstrauen an, das Herr Ansommer mittels seiner Ohrfeige dem Bundeskanzler, mein Freund W. als Zeitungsleser dem Präsidenten Putin, so viele Medienkonsumenten dem Präsidenten Bush entgegenbringen; liest man dies Misstrauen als Sehnsucht nach dem guten Herrscher (der Schröder und Putin und Bush unmöglich sein können) - : dann verblüfft doch, wie gründlich hier das ehrwürdige Schema der Patronage die Gegenwart bestimmt."

Einige "Momente echten Glamours und echter Tradition, nicht etwas schief Angeschminktes" hat Rüdiger Suchsland bei der Vergabe der Deutschen Filmpreise erlebt, aber natürlich auch viel "halbstarkes Mittelmaß". Trotzdem versteht er nicht, dass der Preis "ohne Not" von "Kulturstaatsministerin Christina Weiß und ihren Souffleuren um den Produzenten Bernd Eichinger jetzt geopfert" wird: "Weiß fährt die deutsche Kinokunst willentlich gegen die Wand."

Weiteres: Johannes Wendland kündigt ein "Ereignis von höchst sentimentalem Charakter" in Dresden an: Morgen nämlich wird die 28 Tonnen schwere Haube 80 Meter hoch auf die Kuppel des Frauenkirche gehievt. Beglückt ruft Wendland aus: "Die Frauenkirche ist gebauter Bürgerwille." Sascha Michel berichtet von den "Interventionen" der Frankfurter Römerberggesprächen, die der "Angst in der B-Ebene" gewidmet waren. Franz Anton Cramer berichtet von der Eröffnung eines neuen Nationalen Tanzzentrums in Paris, des Centre national de la danse, Inge Günther meldet die Einweihung eines Deutsch-Französisches Kulturzentrums in Ramallah. Alexander Kluy entnimmt jüngeren Studien, dass Architekten vor einer neuen Herausforderung stehen: Für das Alter zu bauen. Sandra Danicke liefert in Times mager Gedanken zur Philanthropie, Jessica Simpson und Adam Green.

Besprochen werden die Ausstellung "Wirklich wahr!" im Ruhrlandmuseum Essen und Bücher, darunter Pierre Bourdieus Studie über den "Staatsadel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 21.06.2004

Tobias Rapp hat beim Sonar Festival in Barcelona so etwas wie die "Einberufung der Generalstände des Dancefloor-Planeten" erlebt und "schöne Entdeckungen von globaler Zeichenzirkulation und lokaler Aneignung" gemacht. Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises beschlich Cristina Nord die Ahnung, dass es um den deutschen Film "nicht so gut" bestellt ist.

Besprochen wird eine Ausstellung von Olafur Eliasson im Kunstmuseum Wolfsburg, die Tim Ackermann sichtlich irritiert hat: "Monofrequenzleuchten tauchen den ersten Raum in tiefes Orange. Die Menschen darin erscheinen grau, bis das Gehirn versucht, die Farben aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Hilflos muss man erfahren, wie Technik das eigene Auge manipulieren kann").

Und noch Tom.

FAZ, 21.06.2004

Auch Jordan Mejias hat Bill Clintons heißerwartete Memoiren noch nicht gelesen, aber unter Verweis auf eine vorschnell erschienene Kritik der New York Times vermutet er schon mal: "In "My Life", seinem auf knapp tausend Seiten angeschwollenen Erinnerungsband, scheint er ... bemüht zu sein, dem Chaos seines Lebens und seiner Präsidentschaft eine adäquat chaotische Buchform zu geben."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann glossiert den leicht blamablen Umstand, dass die Auslastung der Ruhrfeststpiele unter der Leitung Frank Castorfs von 75 auf 34 Prozent stürzte. C. B. freut sich, das eine erst 1999 wieder aufgetauchte Nietzsche-Büste Max Klingers nun im Berliner Kolbe-Museum zu sehen ist. Edo Reents gratuliert Ray Davies, dem Kopf der Kinks zum Sechzigsten. Michael Althen berichtet von der Verleihung des deutschen Filmpreises, bei der Fatih Akins Film "Gegen die Wand" großer Sieger war. Wiebke Hüster beneidet die Franzosen um das gerade eingeweihte Centre national de la danse in Pantin bei Paris - und sie plädiert für eine ähnliche Einrichtung in Deutschland. Peter Jochen Winters berichtet von einer feierlichen Begegnung im Gartenhaus der einstigen ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, in der Hannoverschen Straße.

Auf der Medienseite schreibt Hans-Dieter Seidel zum Tod des Drehbuchautors Peter Märthesheimer.

Auf der letzten Seite präsentiert Hansgeorg Hermann einen eindrücklichen Reisebericht aus Tirana, wo er die Schriftsteller Ismael Kadare und Ylljet Alicka besuchte und einen kulturellen Aufbruch beobachtete. Wolfgang Sandner berichtet, dass der Jazzer Joe Zawinul in Wien im Hotel Vienna am Stadtpark ein neues "Birdland" eröffnet. Und Christian Schwägerl porträtiert den Neurologen Michael Madeja, der für die Hertie-Stiftung große Forschungsmittel verwaltet und verteilt.

Besprochen werden eine Ausstellung über die "urig getarnten und lange Zeit vergessenen Alpenbunker" der Schweiz, ein "Fidelio" in Köln, eine Ausstellung der Sommerbilder Max Liebermanns in der Hamburger Kunsthalle und Sachbücher, darunter eine Neuausgabe von Georg Groddecks "wildem Klassiker" "Das Buch vom Es" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).