25.06.2004. In der SZ erzählt Christoph Schlingensief, warum er in der namibischen Wüste 100.000 Robben mit Wagner beschallte. Die NZZ erklärt die Kunst pakistanischer Nautch Girls. Die taz führt uns in die Philosophie des liberalen Foucaultchen ein. In der FAZ gibt der Autor Richard Ford einen recht mutlosen Ausblick auf die anstehenden Wahlen in den USA. Die Welt will bei der EM mehr Blut sehen.
SZ, 25.06.2004
"Ich bin eigentlich ein
metaphysisch obdachloser Metaphysiker",
bekennt Christoph Schlingensief in einem ausgesprochen unterhaltsamen Gespräch mit Joachim Kaiser über seinen "Parsifal" in Bayreuth. "Ich würde so gerne in einem Land Oper inszenieren, wo ich keine Sprache kann. Und wo die mich auch nicht verstehen, wo die nicht wissen, dass ich
'Tötet Helmut Kohl' gerufen habe, wo die nicht wissen, dass ich irgendwie auch eine Wagner-Rallye mache. Die Wagner-Rallye war mein Kompliment an die Straße, zu sagen: 'Leute ich bin eigentlich auch für die Verwandten aus dem Ruhrgebiet da, ich bin nicht nur
für Glorias da und wie die alle heißen.' Und ich habe vor acht Wochen
meine Krise gekriegt, weil ich gemerkt habe, ich habe
ein Bühnenbild entworfen, was genau so Scheiße ist wie alles andere, was ich da sonst sehe... Ich will, Richard Wagner, den ich wirklich verehre, umsetzen. In der Wüste, da haben wir
100.000 Robben mit Wagners
'Siegfried' beschallt.'
Weiteres: Petra Steinberger referiert, was die Amerikaner von dem derzeit - mehr oder weniger sublimiert -
kriegslüsternen Fußball-Europa halten. Dirk Peitz fürchtet die unabsehbaren Folgen einer neuer
Portoregelung für den Plattenmarkt, nach der
Vinylscheiben nicht mehr als Warensendung, sondern als
Frachtpost gelten. Gottfried Knapp klärt darüber auf, dass die meisten Bilder, die als "Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland" in den Museen hängen, eine
braune Vergangenheit haben, jetzt legt
Bayerns Staatsgemäldesammlung erstmals Rechenschaft über die prekären Provenienzen ab. Roswitha Budeus Budde spricht mit der Cheflektorin des
Patmos-Verlags, Daniela Filthaut, über die jüngsten Verlagszukäufe und das Kinderbuchprogramm. Fritz Göttler gratuliert dem Filmemacher
Sidney Lumet zum Achtzigsten. Wolfgang Jean Stock eröffnet das
Stiftungsmuseum Lothar Fischer im oberpfälzischen Neumarkt. Und auf der Medienseite lästert Benjamin Henrichs über Fußballreporter
Reinhold Beckmann, der nach dem deutschen Aus allen Ernstes eine
Reformdebatte für den deutschen Fußball ankündigte.
Besprochen werden die
Lamborghini-Schau in der Münchner Pinakothek der Moderne (Kein Zweifel, meint Holger Liebs:
"Lamborghini ist böse"), eine
Foucault-Ausstellung im
Schwulen Museum Berlin,
Calixto Bieitos "Entführung" in Berlin und Bücher, darunter
Alfred Kerrs nachgelassene Novelle "Der Dichter und die Meerschweinchen" und
Cornelia Jöchners Band "Politische Räume" (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
NZZ, 25.06.2004
In einem
"Schauplatz Lahore" beschreibt Bernhard Imhasly den Versuch pakistanischer Künstler, ihre subversiven, gegen religiöse und gesellschaftliche Intoleranz protestierende Kunst "hinter der historischen Legitimität von Gebräuchen der
islamischen Hofkultur" zu verbergen. Wie zum Beispiel
Iqbal Hussain, der seine Bilder in seinem Cafe in der Fort Road ausstellt: "Was die Mullahs der Großen Moschee besonders erzürnt, sind die Bilder, die Iqbal von den
Frauen an der Fort Road malt. Es sind die Frauen, die über die Balkone lehnen, jene, die mit Iqbal reden, wenn sie aus den Rikschas steigen. Es sind Prostituierte; aber nur die Mullahs nennen sie Huren. In der Alltagssprache von Lahore heißen sie immer noch
'Nautch Girls', Tanzmädchen. Der Name knüpft an eine Tradition an, als Sexualität außerhalb der Ehe noch zum Code eines komplexen kulturellen Verhaltens
städtischer Eliten gehörte, eingebettet in Musik und Tanz und die Rezitation von Gedichten. Es war inspiriert vom höfischen Ritual und von dessen Pflege einer exquisiten und umfassenden Sinneslust. Auch Iqbals Mutter war, wie seine Großmutter und seine Tante,
Tanzmädchen am Hof des Maharadschas von Patiala gewesen."
Weitere Artikel: Der
Völkerrechtler Daniel Thürer erklärt die Bedeutung und Weiterentwicklung des
Völkerrechts an den Beispielen Kosovo, Ruanda und Irak. Aldo Keel
meldet kurz die Einführung
"leicht lesbarer" Literatur in Norwegen. Besprochen werden eine
Retrospektive von
Willi Baumeister im Münchner
Lenbachhaus und eine
Retrospektive Luigi Colanis in der Nancy-Halle in Karlsruhe.
Auf der Filmseite werden besprochen das Computer-Märchen
"Shrek 2" (
homepage),
John Sayles' "Casa de los babys" (
homepage),
"Les petites gens" (
homepage) des Kasachen
Nariman Turebajew und
"Last Life in the Universe" (
homepage) von
Pen-ek Ratanaruang. Außerdem ein
Buch von
Georg Seeßlen über die drei "Matrix"-Filme.
Auf der Medien- und Informatikseite
beschreibt Heribert Seifert die Entwicklungen auf der "Dauerbaustelle" der Tageszeitung
Die Welt und hofft, dass mit der Berufung
Roger Köppels die Sanierungsphase endlich abgeschlossen ist. Wenig amüsant findet es Seifert allerdings, dass alle "Sätze, die
Jan-Eric Peters, Chef der Gesamtredaktion 'Welt' und 'Berliner Morgenpost', dieser Zeitung gesagt hat", erst gedruckt werden durften, nachdem sie im Springer-Hochhaus
gegengelesen worden waren. So viel zu deutschen Journalisten, die sich über diese Unsitte bei Politikern beklagen.
Weiteres: Gsz.
berichtet über das Problem, Computer als Hilfsinstrumente in der
reinen Mathematik einzusetzen. Und S.B.
erklärt, wie
Intel die
PC-Architektur verändern will.
TAZ, 25.06.2004
In Deutschland,
schreibt Ulrich Brieler, sei der einst so doll radikale
Foucault zwanzig Jahre zu einem
"liberalen Foucaultchen" herabgesunken, gerade noch gut für eine postökologische Philosophie der
Lebenskunst: "Am deutlichsten wird diese Verschiebung der Pole Politik versus
Ästhetik und Kritik versus
Affirmation in den Beiträgen zum späten Foucault der Technologien des Selbst. Im Angebot erscheint hier allen Ernstes das Modell einer Lebensführung für den wohlstandsgebeugten Mittelklässler. Ein bisschen
Tai Chi und ökologische Müllentsorgung, ein wenig an die anderen denken und das Elend in der Dritten Welt nicht vergessen, ironisch sein und auch des Todes eingedenk - und
fertig ist der Lebenskünstler."
Weitere Artikel: Thomas Winkler
bespricht neue
Country-Alben. Harald Peters
hört sich neuen deutschen HipHop an. Christina Nord
resümiert den jüngsten Stand der Debatte um eine deutsche
Filmakademie.
Auf der
Tagesthemenseite unterhält sich Klaus Raab mit
Daniel Cohn-Bendit, der behauptet, die deutsche
EM-Mannschaft sei untergegangen, weil man sich hierzulande nicht den
Einwanderern öffne. Auf der
Meinungsseite interviewt Beate Seel den ägyptischen Politologen
Ahmad Badawi, der über die Voraussetzzungen von
Reformen in den
arabischen Ländern nachdenkt. Für die
tazzwei begleitete Tobias Rapp die Redaktion der linksradikalen Zeitung
Jungle World auf eine
Israel-Reise.
Schließlich
Tom.
FR, 25.06.2004
Thomas Medicus hat
Ingeborg Junge-Reyer, seit wenigen Monaten amtierende Stadtentwicklungssenatorin und Andreas Nachama auf einem Gang über die
Topografie des Terrors begleitet und
gefragt: Was kommt architektonisch nach dem Ende der
Ära Zumthor? "Es gehe, so Frau Junge-Reyer, um einen 'Ort des Denkens und Nachdenkens', einen Ort der Erinnerung "nicht an ein
gescheitertes Bauvorhaben", sondern an die Verbrechen der
nationalsozialistischen Terrorzentrale. Eine neue architektonische Gestaltung dürfe deshalb nicht die 'Bedeutung des Ortes verbergen' - ein Bekenntnis zur Bescheidenheit, das aufhorchen ließ, nicht nur weil der Kostenrahmen von
23 Millionen Euro eingehalten werden muss."
Weitere Artikel: Sebastian Moll
schildert Reaktionen auf
Bill Clintons Autobiografie. Jürgen Roth
erinnert sich in Times Mager an ein
Klassentreffen.
Gemeldet wird die Verleihung des
Unesco-Musikpreises an den senegalesischen Sänger
Youssou N'Dour.
Besprochen werden eine
Adaption von
Marcel Prousts "Recherche" durch das niederländische
ro theater bei den Wiener Festwochen, eine
Ausstellung des "Anarchitekten"
Gordon Matta-Clark im
Frankfurter Portikus und eine
Ausstellung zur Geschichte des
Fußballs im
Historischen Museum Speyer.
Welt, 25.06.2004
"Europa hat das
Gespenst des Nationalismus besiegt", muss Ekkehard Fuhr im Zuge der EM enttäuscht
feststellen. Doch "damit hat Europa dem
Fußball den Garaus gemacht. Warum soll man sich das Gekicke eigentlich noch ansehen, zu dem sich bei Länderspielen EU-Fußballer, die sich vom europäischen Fußballmarkt untereinander alle kennen, als Nationalspieler verkleiden? Fußball, in dem nicht die blutige europäische Geschichte mit
Klassenkämpfen und
vaterländischen Kriegen nachhallt, ihn mit Erinnerung und Bedeutung auflädt und dem Match eine
kathartische Wirkung zu geben vermag, ist wie
alkoholfreies Bier: gut gemeint und
ungenießbar."
FAZ, 25.06.2004
Aufmacher sind einige eher mutlose, an seine europäischen Freunde gerichtete Betrachtungen des amerikanischen Autors
Richard Ford zu den kommenden
amerikanischen Wahlen: "Es drängt sich der Eindruck auf, dass
niemand hier bereit ist, Dinge zu hören, die man noch nicht gehört hat, und dass die Wahlen - die einst als einendes bürgerliches Sakrament galten - wiederum zu einer
Pattsituation führen werden, und das in einem Land, in dem nur ein Drittel der Wahlberechtigten zur Wahl geht und alles von wenigen, noch unschlüssigeren 'Wechselwählern' abhängt, die ihre Wahlentscheidung zu treffen scheinen, während sie auf dem Parkplatz vor dem Wahllokal hastig eine
Zigarette rauchen."
Andreas Platthaus mag die vielen Sympathiebekundungen für
Rudi Völler in der Leitglosse nicht mitmachen und findet, das sein Rückzug in die Stimmung des Landes passe: "Alle
jammern, aber jeder stiehlt sich aus der
Verantwortung." Gerhard Stadelmaier findet es
sehr richtig, dass die Ruhrfestspiele dem "Regisseur, der die Langeweile und die Qual als
Exzess pflegt",
Frank Castorf, nach nur einer Saison kündigen. Johan Schloemann
hat sich in Berlin den Vortrag des Juristen Lawrence Lessig (
"Free Culture" und ein
Weblog) angehört, der den
freien Zugang zur Kultur fordert, mag seinen radikalen Thesen aber nicht folgen. Christian Schwägerl resümiert eine neurowissenschaftliche Tagung in
Loccum über die Frage "Wie funktioniert das
Gewissen?" Eleonore Büning stellt die Pläne der
Berliner Opern vor. Günther Prechter preist das vom Architekten Friedrich Kurrent entworfene
Museum für die Bildhauerin
Maria Biljan-Bilger im österreichischen Sommerein. Michael Althen gratuliert
Sidney Lumet zum Achtzigsten.
Auf der
Medienseite kritisiert Michael Hanfeld das Straßburger Urteil, das der Privatsphäre
Caroline von Monacos höhere Rechte einräumte als der
Pressefreiheit. Hans-Dieter Seidel
singt eine Hymne auf
Christian Petzolds Film
"Wolfsburg" und vor allem seine Hauptdarstellerin
Nina Hoss, die seiner Ansicht nach den Bundesfilmpreis hätte bekommen müssen - was man heute Abend auf
Arte überprüfen kann. Karl-Peter Schwarz beschreibt, wie die
Tschechen den Sieg über die
Deutschen in der
EM feierten. Stefan Niggemeier
konstatiert, dass
MTV im deutschen Musikfernsehen wieder
Monopolist ist, nachdem der Konzern
Viacom den gebeutelten deutschen Konkurrenten gekauft hat.
Auf der
letzten Seite erzählt Brita Sachs, wie die
Bayerischen Staatsgemäldesammlungen versuchen, den Vorbesitzern der letzten unrechtmäßig von
Göring erworbenen Bildern auf die Spur zu kommen. Jürg Altwegg lässt Einschätzungen zu
Michel Foucault zwanzig Jahre nach seinem Tod Revue passieren. Lorenz Jäger schreibt ein kleines Porträt zum hundertsten Geburtstag des Musikers und späteren Thomaskantors
Kurt Thomas, der einst das
Musische Gymnasium in Frankfurt leitete.
Besprochen werden eine Kunstausstellung zum Thema der
zehn Gebote im Dresdner
Hygiene-Museum, eine Dramatisierung von
Eichendorffs "Taugenichts" im Theater Heidelberg und
Sachbücher.