Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2004. In der NZZ schildern zwei irakische Autoren ihre Genugtuung über den Prozess gegen Saddam Hussein. Die FAZ enthüllt, wie sich Spider-Man vor der Waschmaschine und Köln vor der Unesco blamiert. In der FR nimmt der linke Intellektuelle Peter Fuchs kritisch zu den neuen Sozialgesetzen Stellung, während sich beim linken Intellektuellen Michael Rutschky in der taz die Angst vorm Schwund nicht einstellen will. In der Welt singt der Autor Petros Markaris  ein Hohelied auf die "Schlauheit der Plebejer", womit diesmal aber die griechischen Fußballer gemeint sind.

FAZ, 07.07.2004

Michael Althen beschreibt entzückt, wie sich Spider-Man im zweiten Teil logisch weiterentwickelt: "Er leidet unter der Doppelbelastung als Student und Superheld, wie es sonst nur alleinerziehende Mütter tun, die ja auch so etwas wie Superheldinnen in der Wirklichkeit sind ... Aber ehe er seinen Heldendress in der Mülltonne entsorgt, kommt noch eine jener Szenen, mit denen Regisseur Sam Raimi den Superhelden vom Kopf auf die Füße stellt, indem er zeigt, dass dies kein Film der großen Gesten, sondern der kleinen Frustrationen ist. Denn als er sein Kostüm aus der Waschmaschine holt, stellt er fest, daß seine ganze Wäsche rot und blau verfärbt ist. Und bekanntlich sind es ja immer die kleinen Dinge im Leben, die das Fass zum Überlaufen bringen."

Die Unesco hat den Kölner Dom auf die Liste der Weltkulturerbestätten gesetzt, die sie als "besonders gefährdet" ansieht. Das ist die Folge "einer Stadtentwicklung, die der 157 Meter hohen gotischen Kathedrale am anderen Flußufer mehrere Hochhäuser von 103 bis 140 Meter Höhe als 'modernes' Pendant gegenüberstellen möchten. Es ist das erste Mal, daß eine der inzwischen dreißig Weltkulturerbestätten in Deutschland auf diesen Index gesetzt wird, der derzeit dreiunddreißig Positionen enthält", berichtet Andreas Rossmann. Typisch findet er die Reaktion der Kölner Regierung: "Nicht einmal jetzt, da er vollzogen ist und einen gewaltigen Imageschaden anrichtet, scheint die Stadtspitze dazu bereit. Wie anders ist die Mischung aus Trotz und Rechtfertigung, Pauschalisierungen und Platitüden, Kleinkrämergeist und Lokalpatriotismus zu verstehen, die die Reaktion von Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) kennzeichnet?"

Weitere Artikel: Der Philosoph Wilfried Hinsch plädiert für ein kodifiziertes Interventionsrecht, um "das angesichts schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen unter bestimmten Umständen moralisch Notwendige mit einer für den Frieden konstitutiven Völkerrechtsordnung in Übereinstimmung zu bringen". Oliver Jungen berichtet über eine Dortmunder Tagung, die sich Hermann Brochs Kampf für die Menschenrechte widmete. Zhou Derong meldet die Neuauflage des buddhistischen Kanons in China: 7245 Bände in einer Auflage von 99 Exemplaren. Josef Oehrlein schildert Querelen am argentinischen Teatro Colon: In den vergangenen acht Jahren hatte es neun Direktoren, jetzt gab auch Direktor Gabriel Senanes "voller Wut" über die Strippenzieher in der Stadtverwaltung auf. Die russische Intelligenz hat ein Denkmal bekommen, berichtet kho. Es ist ein "gen Himmel stürmenden Bronze-Pegasus, der von groben Stahlplanken zugleich durchbohrt und emporgehoben wird", entworfen hat ihn der Bildhauer Daniel Mitljanski. hhm meldet die Einstellung des Argon Verlags. Das Land Nordrhein-Westfalen hat die Sammlung Ackerman erworben, meldet aro. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Zeichners Bernd Pfarr. In der Reihe "Mein Lieblingsbuch" erklärt Andreas Maier (mehr), wie er sich von Aljoscha in Dmitri Karamasow verwandelt hat.

Auf der Medienseite geht's um schlechte Presse: Das ZDF-Magazin Wiso hat kürzlich berichtet, die Bundesagentur für Arbeit habe für positive Berichte im Fernsehen bezahlt. Ein "klassisches Eigentor", finden Claudia Bröll und Michael Hanfeld, denn auch Wiso habe laut epd bei mindestens einer Sendung mit der Bundesagentur "kooperiert". Wie diese Kooperation ausgesehen hat, erklären uns die FAZ-Autoren nicht. Christian Geinitz erzählt, dass der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) Zeitungsberichte über Korruptionsaffären in seinem Rathaus als Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze empfindet.

Auf der letzten Seite porträtiert Dietmar Dath Spider-Man alias Peter Parker und seine Schöpfer Stan Lee und Steve Ditko. Matthias Hannemann schreibt über Willy Brandts Exilbuch "Misslyckad Revolt" zum 20. Juli 1944, das den Schweden klar machen sollte, "es gibt ein 'anderes Deutschland', trotz dessen Unsichtbarkeit". An die hundert Staaten - darunter vor allem Japan und die USA - kommen ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Internationale Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY) nicht nach, berichtet Oliver Tolmein. Die Folge: selbst bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden inzwischen "Deals" ausgehandelt zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagten, um die Verfahren abzukürzen und damit kostengünstiger zu halten.

Besprochen werden eine Ausstellung von Donald Judd im K20 in Düsseldorf, die JazzBaltica auf Schloss Salzau und eine Ausstellung der Architekten Herzog & de Meuron im Basler Schaulager.

Welt, 07.07.2004

Der Schriftsteller Petros Markaris weiß genau, warum die Griechen die EM gewonnen haben: "Viele haben sich über das defensive Spiel der griechischen Mannschaft ironisch, oder gar verächtlich geäußert. Wenn man aber gegen Goliaths überleben will, muss man sich wie David verhalten. Anders herum gesagt: Wenn man jeden zweiten Abend gegen ein anderes Römisches Reich kämpft, braucht man das Durchhaltevermögen und die Schlauheit der Plebejer." Der "große Meister der plebejischen Schlauheit" aber, so Markaris, ist Otto Rehhagel.

In einem langen Interview räumt Katharina Wagner (mehr) mit einigen Spekulationen auf: "Dass ich schon den 'Tristan' inszenieren sollte, stimmt genauso wenig, wie dass ich mich mit Christian Thielemann verloben werde."

FR, 07.07.2004

Der Systemtheoretiker Peter Fuchs hat die Signale gehört (wo sind die linken Intellektuellen, die zu den neuen Sozialgesetzen Stellung nehmen?, fragte neulich die FAZ) und betrachtet das Thema aus systemtheoretischer Sicht, die aber mit der gewerkschaftlichen zu konvergieren scheint: "Es geht um einen Gabentausch der einseitigen Art. Die Arbeitnehmer geben etwas, sie erhalten nichts zurück, keine Gegengabe wie eine Garantie auf Arbeit, Stabilisierung von Urlaubsgeld oder Gewährung von Weihnachtsgeld. Die Arbeitgeber profitieren von der Evidenz der Arbeitslosigkeit und des damit verknüpften (durch neuere Reformmaßnahmen) zunehmenden Elends und zunehmender Demütigung. Sie profitieren zusätzlich von wohlfeilen Zukunftsversprechen: Mehrarbeit statt mehr Arbeit fördere die Wirtschaft und das Wachstum."

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke schreibt zum Tod des Künstlers und Cartoonisten Bernd Pfarr, dessen Geschöpfe wie Sondermann nun verwaist zurückbleiben. Vanessa Joan Müller berichtet über die Manifesta 5 in San Sebastian, die "das Niveau internationaler Großausstellungen" erreicht habe. In Times Mager kommentiert Christoph Schröder die Abschaffung des zur Holtzbrinck-Gruppe gehörenden Argon Verlags ("mal ganz ehrlich: Wer hat auf die Fortsetzung von Romanen wie 'Capri und Kartoffelpuffer', 'Champagner und Kartoffelchips' oder 'Quetschkartoffeln und Karriere' unter dem Titel 'Küsse am Kartoffelfeuer' gewartet?") Gemeldet wird, dass Christoph Schlingensief die Proben zum "Parsifal" in Bayreuth wieder aufnimmt.

TAZ, 07.07.2004

Auch Michael Rutschky hat die Signale gehört und denkt auf der Meinungsseite über die Sozialstaatsreformen nach, allerdings will er an die kursierende "Angst vor Schwund und Verlust und Verarmung " nicht recht glauben - denn sie ist für ihn in Deutschland immer da und tritt nur in immer neuen Verkleidungen auf, "als Phantasma, das sich an der Wirtschaftsflaute ebenso festmachen kann wie an den Energiereserven. Vielleicht muss man sich weiter umschauen, welche Gestalten die Verarmungsangst noch alle annehmen kann. Eine Gestalt, die fürchterliches Unheil angerichtet hat, ist für uns ja vollkommen abgestorben: dass die Deutschen über zu wenig Lebensraum verfügen und deshalb im Osten welchen erobern müssen. Dagegen war eben gerade die Angst hoch aktuell, dass die Deutschen, weil sie sich nur so spärlich vermehren, ihren Lebensraum immer dünner bevölkern und irgendwann aussterben werden - gewiss eine weitere Variante der Verarmungsangst. Der bekannte Frankfurter Mitherausgeber verlieh ihr erfolgreich Ausdruck..."

Im Kulturteil bespricht Andreas Fanizadeh Pedro Lemebels Roman "Träume aus Plüsch". Besprechungen gelten ferner dem Film "Spider Man 2" (mehr hier) und Erasmus Schöfers Roman "Zwielicht".

Auf tazzwei schildert Klaus-Peter Klingelschmitt das idyllische Leben und Sterben in der Hessenklinik Rüsselsheim, Hammerstation 5a: "Seit acht Tagen liege ich auf der Station: Verdacht auf Diabetes nach einer Stoffwechselentgleisung. Der schwer alkoholabhängige Patient auf Radikalentzug nebenan, der literweise Wasser trinken muss, um das Gift aus seinem Körper zu schwemmen, hastet über den Gang zur Toilette. Sie ist wieder einmal bis unter den Rand beschmiert mit dem Stuhl von Patienten, die in den frühen Morgenstunden dort ihre Windeln geöffnet haben. Das Desinfektionsspray hilft jetzt auch nicht mehr. Die zweite Toilette ist besetzt. In seiner Not uriniert der Alkoholiker ins Waschbecken. Kotspuren auch dort. Ein Patient versuchte, seine verschmutzte Windel auszuwaschen."

Auf der Medienseite berichtet "stg" über die missliche Lage der überregionalen deutschen Zeitungen, deren Anzeigenaufkommen weiter zurückgegangen ist.

Und hier Tom.

NZZ, 07.07.2004

Wie sollen Saddam Husseins Verbrechen geahndet werden - der Diktator steht im neuen Irak vor Gericht. Die NZZ bittet zwei irakische Intellektuelle zu Wort.

Der Schriftsteller Najem Wali malt in einem sehr beeindruckenden hoch pathetischen Text noch einmal ein Bild von Husseins Schreckensherrschaft und schließt. "Die Video- und Tonbänder, die er zurückließ, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, wenden sich nun gegen ihn. Es gibt keine Alternative zu einem von irakischen Richtern durchgeführten Gerichtsverfahren gegen Saddam Hussein und seine Schergen."

Der Lyriker, Übersetzer und Verleger Khalid Al-Maaly denkt ähnlich: "Saddam Hussein und sein System vor Gericht zu stellen, muss in erster Linie für uns Iraker eine Lektion sein. Dieser Prozess sollte zum ersten Schritt in einen Rechtsstaat und in eine Zivilgesellschaft werden."
(Beide Texte finden sich unter diesem Link.)

Weitere Artikel: Roman Hollenstein meldet, dass Lugano seinen Kongresspalast neu gestalten will. Besprochen werden Luk Percevals "Tristan"-Inszenierung in Hamburg, einige neuere französische Romane und, in der Reihe "Das historische Buch", Martin Bundis Studie "Gewissensfreiheit und Inquisition im rätischen Alpenraum". Außerdem lesen wir ein paar kurze Phono-Hinweise.

SZ, 07.07.2004

"Die Schröder-Müntefering-SPD hat sich auf eine bemerkenswert harte und unsentimentale Weise dafür entschieden, die Randständigen diesseits der Mitte hinter und unter sich zu lassen", schreibt der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter im Aufmacher des Feuilletons, weshalb sie den Partei-Abtrünnigen eigentlich dankbar sein sollte. "Schröder braucht eine politische Kraft, die dem bürgerlichen Lager die Unterschichten wieder entwindet. Seine neumittige SPD ist dazu nicht mehr in der Lage."

Alexander Kissler stellt begeistert das von Claus Leggewie initiierte politische Bildarchiv im Internet, "BiPolAr" vor, das er in bester Tradition eines Aby Warburg sieht: "Die bisher 327 Bilder erzählen die Gespenstergeschichte des menschlichen Suchens und Irrens, beginnend bei der Beweinung Christi auf dem Gemälde Mantegnas, weiterführend zum Teppich von Bayeux, vorläufig endend vielleicht mit dem Foto einer künstlich befruchteten Eizelle und den südkoreanischen Klon-Experimenten. Dazwischen haben Napoleon, Lenin, Hitler, Stalin, Che Guevara, Helmut Kohl und Gerhard Schröder ihren Auftritt."

Weiteres: Florian Coulmas, seit diesem Monat Direktor des Deutschen Instituts in Tokio, huldigt seiner neuen Heimat und weist darauf hin, dass Tokio die einzige nicht-westliche Weltstadt ist: "Tokio nimmt den Platz des Kronzeugen dafür ein, dass die Globalisierung keine rein westliche Angelegenheit ist." Gert G. Wagner und Wolfgang erinnern daran, dass es Mephistoteles ist, der da spricht: "Grau ist alle Theorie". Werner Burkhardt berichtet von der Jazz Baltica im holsteinischen Salzau, Holger Liebs war bei einem Folkfestival im thüringischen Rudolstadt.

Besprochen werden die "Spider-Man"-Forsetzung (die Tobias Kniebe als Geschichte einer Supermacht gesehen hat, "die alles hinschmeißen könnte, wenn sie nicht endlich, endlich geliebt wird"), Martin Scorseses "Feel Like Going Home"(hier die Website der Filmreihe "The Blues", eine Ausstellung von Louise Lawler im Museum für Gegenwartskunst in Basel und Bücher, darunter Franz Kafkas "Amtliche Schriften" und Viola Roggenkamps Gespräche mit "Frau ohne Kind" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Erfreulicherweise wird gemeldet, dass der plötzlich erkrankte Christoph Schlingensief plötzlich wieder gesundet ist und die Proben für seinen Bayreuther "Parsifal" wieder aufgenommen hat.