Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2004. Die taz setzt sich an den Avid-Schnittcomputer und zerbricht die lineare Logik des Erzählkinos. Die FR findet die Erklärung für die Frömmigkeit der Amerikaner in der Tiefe des Raums. Die NZZ stellt uns den Chinesen vor. In der SZ beklagt Klaus-Dieter Lehmann die Diskussion über die "Göring-Collection". Die FAZ-Kultur relativiert sich.

TAZ, 09.07.2004

Tilmann Baumgärtel spekuliert über die Frage, warum immer mehr Filme, bis hin in den plattesten Mainstream, die bisher übliche lineare Erzähllogik sprengen, um die Zeit mal rückwärts, mal kreisförmig oder als Puzzle anzuordnen, und er deutet es als Reaktion des Kinos auf die digitalen Logiken neuer Medien und als "ein Zeichen dafür, dass das jahrelange Sitzen vor Avid-Schnittcomputern bei einigen Regisseuren einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben muss. Im Gegensatz zur traditionellen Montage, bei der die Filmstreifen am Schneidetisch aneinander gestückelt werden, überträgt man beim non-linear editing das gesamte Filmmaterial auf den Rechner und montiert es in beliebiger Reihenfolge aneinander. Der Regisseur und der Cutter sehen die verschiedenen Szenen, die sie aneinander fügen wollen, gleichzeitig auf dem Monitor und können andere Abfolgen ausprobieren. Wenn die Aufgabe der Kinomontage zuvor vor allem darin bestand, die Szenen und Zeitabläufe in eine lineare Ordnung zu bringen, dann lässt einen das nichtlineare Schneiden erfahren, wie willkürlich diese Eingriffe in die Filmzeit letztlich sind."

Weiteres: Auf der Medienseite schreibt Imke Schridde über den entstehenden englischsprachigen Dienst des Perlentauchers. Auf den Seiten 3 bis 6 zieht die taz die "desaströse Halbzeitbilanz" der zweiten Regierung Schröder. Besprochen wird Helge Schneiders Spektakel "Mendy - das Wusical" an der Berliner Volksbühne.

Schließlich Tom.

FR, 09.07.2004

Helmut Müller-Sievers versucht, das Wesen der evangelikalen Frömmigkeit in den USA zu erklären und findet heraus, dass es sich um eine Sache des Raumes handelt: "Des geographischen Raums, der in Texas, in Nebraska, in Montana so leer, ungegliedert und feindlich ist, dass er nach einem Gott als Grund geradezu schreit; des sozialen Raums, dessen lokale Einrichtungen durch die urbane Expansion und den gleichzeitigen Rückzug jeglicher Regierungspräsenz amorph geworden ist; des psychologischen Raumes schließlich, der allen Beteuerungen zum Trotz, nicht mehr durch die vertikale Hierarchie der Familie strukturiert wird... sondern durch horizontale Einflüsse wie die riesigen High Schools und die Colleges, in denen sich der soziale Hochdruck unmittelbar auf die schutzlosen Teenager-Psychen auswirkt." Gott, es ist ein schlimmes Land.

Weitere Artikel: Stefan Behr schreibt zum Tod des großen Karikaturisten und Satirikers Chlodwig Poth (hier eine Zeichnung, hier seine Homepage). Christine Pries spießt in Times mager das beflissene Denglisch einer demnächst in Frankfurt abgehaltenen Future University auf ("'Great minds' sollen da 'connected' werden. Das 'inspirirende Casino der Johann Wolfgang Goethe Universität' unterstützt als 'Cross Intelligence Umgebung' 'die Teilnehmer Wissen zu teilen'") Gemeldet wird, dass Gerard Mortier zur Fusion von Ruhrfestspielen und Ruhrtrriennale rät.

Besprochen wird eine Ausstellung über den in Deutschland noch weithin unbekannten, in Großbritannien aber gefeierten Architekten Geoffrey Bawa (Bilder) aus Sri Lanka (den Ingeborg Flagge einen "magischen Realisten" der Architektur nennt).

NZZ, 09.07.2004

Matthias Messmer reist für einen "Schauplatz China" an die Stätten der Mao-Verehrung in einer nach wie vor von der KP beherrschten und doch postmodernen Gesellschaft und kommt zu ganz erstaunlichen Einsichten über den Chinesen an sich: "Wer glaubt, Chinas Elite sei einem starren und unbeweglichen Denken verhaftet, irrt. Der Chinese ist im Allgemeinen realistisch und praktisch genug, objektive Unvereinbarkeiten als solche stehen zu lassen. Zusätzlich helfen ihm ein ausgeprägter Sinn für Humor und sein angeborener Individualismus, das Leben so zu akzeptieren, wie es von oben diktiert wird."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein reist nach Como, wo in einer Ausstellung des großen Architekten Giuseppe Terragni (aber nicht seiner faschistischen Sympathien) gedacht wird. Marc Zitzmann resümiert die sich neigende Ära des Intendanten Hugues Gall an der Pariser Oper - im September tritt Gerard Mortier seine Nachfolge an. Hubertus Adam gratuliert dem Architekten Michael Graves zum Siebzigsten. Besprochen wird eine Ausstellung über Kunst und Werbung im Museion Bozen.

Auf der Filmseite geht's um neue Filme von Larry Clark, den Film "O homem que copiava" des Brasilianers Jorge Furtado und einen Band mit Schriften von Rudolf Arnheim.

Auf der Medien- und Informatikseite finden wir einen langen Artikel zur Zusammenarbeit der NZZ mit der Publigroupe, an die der Anzeigenverkauf übertragen wird, ein Ereignis, das für ein gewaltiges Rauschen auf den Medienseiten Schweizer Zeitungen sorgte. Außerdem versucht "jvr" die rätselhafte Mode immer neuer Lifestyle-Magazine zu verstehen, die ausgerechnet vom bitterarmen Berlin ausgeht. Und "gsz" konstatiert, dass "Hightech-Unternehmer in Israel von ihren militärischen Erfahrungen" profitieren.

SZ, 09.07.2004

Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, verteidigt im Interview mit Jens Bisky und Ulrich Raulff die Übernahme der Flick Collection: "Als er auf unsere Bedingungen einging, war klar, dass er einen Reinwaschungseffekt über die Kunst nicht erreichen will. Insofern tut man ihm da Unrecht. All das habe ich in der Pressekonferenz im Januar 2003 bereits gesagt. Damals habe ich Reaktionen erwartet - aber die kamen nicht. Bis auf wenige, vereinzelte Stimmen herrschte Zustimmung. Erst mehr als ein Jahr später mit dem Artikel in der Zeit und letztlich erst mit Salomon Korns offenen Briefen kam eine Debatte, in die Korn alle Reizvokabeln einführte, die man nur einführen kann. Die Chance auf einen rationalen Dialog ging damit verloren. Sie können auf 'Blutgeld' oder auf 'Göring Collection' relativ wenig erwidern."

Weiteres: Sonja Zekri erinnert im Fall Yukos daran, dass es "seit der Kosakenataman Jermak im Auftrage der Unternehmerfamilie Stroganow die Tartaren Sibiriens niedergeworfen" hat, also seit 1582 dem Kreml darum ging, die Kontrolle über die russischen Bodenschätze zu halten. Georg Hohmann schildert, wie nun auch die Bush-Regierung vergeblich am Sturz von Fidel Castro gearbeitet hat. Ralf Dombrowski schreibt zum Abschluss des Jazzfestivals in Montreal.

Chlodwig Poth ist tot; Oliver Maria Schmitt, früherer Chefredakteur der Titanic, hat den Himmel über Frankfurt dicke Tränen weinen sehen. Fritz Göttler verabschiedet den verstorbenen Filmemacher Vlado Kristl, Jörg Häntzschel gratuliert dem Architekten Michael Graves zum siebzigsten Geburtstag. Gemeldet wird, dass die Amerikaner laut Umfrage immer weniger lesen ("Nur 56,6 Prozent Prozent der Befragten lasen im vergangenen Jahr überhaupt ein Buch"); der Umsatz der deutschen Buchbranche ist ebenfalls gesunken, und zwar um 1,7 Prozent im letzten Jahr.

Besprochen werden Matthew Barneys "Cremaster"-Zyklus, der nun komplett im Münchner Filmmuseum gezeigt wird und Bücher, darunter Dirk Wittenborns Pret-a-porter-Roman "Catwalk" und ein Buch zu Danzigs Geschichte von Peter Oliver Loew (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.07.2004

Mark Siemons grübelt grübelt über die Argumente der Interventionisten, die jeden Kulturrelativismus verweigern, und findet sie irgendwie unlogisch: "So betrifft das Relativierungsverbot unterschwellig auch die kulturellen Kontingenzen und politisch-wirtschaftlichen Interessen 'des Westens'. Mit anderen Worten: Die Antirelativisten binden die Werte, deren Universalität sie zum Durchbruch verhelfen wollen, ohne Bedenken an eine einzelne Kultur, die eigene nämlich."

Weitere Artikel: Der Export- und Importverein "German Theater Abroad" hat in New York "Five Days of Gemütlichkeit" veranstaltet - szenische Lesungen der neuesten Werke von Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Roland Schimmelpfennig, Theresia Walser u.a. - doch keine einzige New Yorker Zeitung hat es zur Kenntnis genommen, berichtet Jordan Mejias. Richard Kämmerlings erklärt "Die Beschießung des Botanischen Gartens" von Donald Antrim zu seinem Lieblingsbuch (es hat alles, so Kämmerlings, "was der deutschen Literatur fehlt: eine Mischung aus Witz, Intelligenz und Bosheit"). Birgit Svensson hat vom irakischen Kulturminister Jawad al-Jaza'iri erfahren, dass er hoffnungsfroh ist, die meisten Kulturschätze seines Landes retten zu können. Auch habe er der FAZ angeboten, "in einem künftigen Gespräch weitere Aufklärung darüber zu geben", inwiefern der Kommunismus im Irak sich von dem des alten Ostblocks unterscheidet. Michael Gassmann stellt das neu eröffnete Freiburger Universitätsmuseum vor. Oliver Jungen war auf einer Hattinger Tagung über Megafon und Mikrofon. Frank Helbert stellt die Kartause im italienischen Padula vor, die in ein Museum für zeitgenössische Kunst verwandelt wurde. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Zeichners Chlodwig Poth. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Michael Graves zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld den Rückzug des Studios Hamburg aus den Verkaufsverhandlungen über Babelsberg. Hans-Christian Rössler hat sich von Al Dschaziras Nachrichtenchef Ahmad es Sheikh die journalistischen Prinzipien des Senders erklären lassen. Auf der letzten Seite porträtiert Katja Gelinsky den Schauspieler Bill Cosby. Joseph Hanimann stellt die anatomische Sammlung Orfila in Paris vor, die ausgelagert werden soll, um Platz für Studenten zu schaffen. Und Regina Mönch erzählt, dass die Ausstellung "Die Brüder Grimm in Berlin" in der Humboldt-Universität die Marxsche Feuerbachthese an der Wand des Foyers verdeckt, was für Streit sorgt.

Besprochen werden die Ausstellung "Die industriellen Ikonen: Design Danmark" im Kunstgewerbemuseum Kopenhagen, das Bollywood-Musical "Indian Love Story" und Bücher, darunter Walter Grasskamps Buch über "Das Cover von Sgt. Pepper" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).