Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2004. In der Welt spricht Martin Walser ausführlich über seinen neuen Roman "Der Augenblick der Liebe" und seinen alten wunderbaren Verlag. Die FAZ prangert Gerhard Schröders "Realpolitik" gegenüber Moskau an. Die SZ wurde Zeuge eines Unglücks: Dem Pianisten Nikolai Tokarev fehlte bei Schumanns Toccata Opus 7 die dringend notwendige "leuchtende Legato-Festigkeit".

Welt, 12.07.2004

Eckhard Fuhr führt ein schönes langes Gespräch mit Martin Walser. Es geht um Walsers neuen Roman "Der Augenblick der Liebe", der von der Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau, aber auch von sieghafter Gattenliebe handelt, und ganz bestimmt nichts mit Martina Zöllners "Bleibtreu" zu tun hat ("Es ist doch lächerlich zu glauben, ein Autor schreibe ein Buch als Antwort auf ein anderes Buch."); und es geht um das Alter, den Tod, die Liebe, La Mettrie und den Bundespräsidenten. Und natürlich geht es auch um die "Skandalgestik eines FAZ-Herausgebers" und den Abschied von Suhrkamp: "Ich war in einem wunderbaren Verlag. Dann kam eine Machtausübung von außen. Und da hat mein wunderbarer Verlag sich mehr beeindrucken lassen, als es für mich erträglich war. Das ist zu einem Lehrstück über Machtausübung im Kulturbetrieb geworden. Das war drastisch, das war ungeheuer, dass so etwas möglich ist, dass dann noch in verschiedenen Quartieren ein paar Opportunisten aufspringen auf diesen Saisonzug." Zur Frage, welcher Verlag künftig seine alten Bücher herausbringen soll, antwortet Walser dürr: " Das wird noch verhandelt. Um Human-Güter sollte man nicht streiten wie um Kolonien."

Ralf Dahrendorf stellt dem Europäischen Verfassungsentwurf auf der Meinungsseite ein recht strenges Zeugnis aus: "Man kann in jedem Fall davon ausgehen, dass der aktuelle Text des Vertrages nicht zwei Jahrhunderte (wie die Verfassung der Vereinigten Staaten) oder auch nur zwei Jahrzehnte überdauern wird.

NZZ, 12.07.2004

An der ETH Zürich werden die Lehrstühle für Literatur abgeschafft, berichtet Roman Bucheli. Nur zwei bleiben übrig, die allerdings ihre "Anschlussfähigkeit an die Natur- und Technikwissenschaften" beweisen müssen. "Das Konzept für die verbliebenen zwei Literatur-Lehrstühle könnte also heißen: Es ist nicht auszuschließen, dass auch einmal über Literatur gesprochen wird", spottet Bucheli böse.

Weitere Artikel: Alfred Cattani stellt die Arbeit der American Swiss Foundation vor. Andreas Nentwich macht einen langen Spaziergang durch Esslingen am Neckar. Leopold Federmair schreibt zum Hundertsten von Pablo Neruda (mehr hier und hier).

Besprochen werden die Ausstellung "Born to be a star" im Künstlerhaus Wien, ein Sinfoniekonzert (Haydn und Mozart) des Zürcher Opernorchesters mit Marc Minkowski und eine Ausstellung der brasilianischen Möbeldesigner Fernando und Humberto Campana im Londoner Design Museum.

FR, 12.07.2004

"Man trifft sich, doch wie man den lieben langen Tag miteinander redete, schien man sich allein seiner selbst und seiner Existenz zu vergewissern." Ulrich Clewing ärgert sich über ein Symposium der Stiftung "Topographie des Terrors", auf dem nicht nur die Vergangenheit verklärt, sondern auch Stolpersteine für die Zukunft geschaffen wurden. Klaudia Brunst verabschiedet Inge Meysel, die ewige, die einzige Mutter der Nation. Robert Kaltenbrunner blättert im arch+-Doppelheft, das Peter Sloterdijks Gedanken zum Raum diskutiert. In Times mager versucht Martina Meister vergeblich, nicht vor Alfred Brendel zu husten.

Die Medienseite nutzt Sebastian Moll, um den kleinen US-Sender Outdoor Life Network vorzustellen, der als einziger die Tour de France überträgt. Jennifer Bligh gratuliert der erfolgreichen Reiseführerreihe Lonely Planet zum Dreißigjährigen.

Besprechungen widmen sich dem einzigen deutschen Konzert der Jazzmusiker Herbie Hancock & Friends in Essen (eine "Partie Stehfußball" auf hohem Niveau, meint Michael Rüsenberg), der Ausstellung "The Photographs, so far" von Jim Dine in der Kölner SK Stiftung Kultur sowie Büchern, nämlich Heike Herzogs und Eva Wäldes Studie der "Suizide als Folge deutscher Abschiebungspolitik" sowie ein "instruktiver" Sammelband über Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933.

TAZ, 12.07.2004

Isabel Lipthay begibt sich auf Spurensuche nach Malva Marina, der Tochter des chilenischen Schriftstellers Pablo Neruda (mehr), die noch während des Krieges in Holland starb, ohne dass ihr Vater sich je zu ihr bekannt hätte. Immerhin hat Federico Garcia Lorca (mehr) zu ihrer Geburt gratuliert. "Der weiße Elefant überlegt,/ ob er dir ein Schwert oder eine Rose geben solle;/ Java, Flammen von Stahl und grüne Hand,/ das chilenische Meer, Walzer und Kronen./ Kindchen aus Madrid, Malva Marina,/ ich will dir weder die Blume geben noch die Muschel;/ einen Strauß von Salz und Liebe, himmlisches Licht/ lege ich dir in Gedanken auf deinen Mund."

Frieder Reininghaus beäugt den saisonalen Theaterpoker in Bayreuth und entdeckt Altbekanntes. "In der Hauptsache verwertet das Unternehmen Festspiele derzeit noch ein stark gealtert wirkendes Programm der 90er-Jahre, versucht aber, für die nächste Zeit einige schrille Akzente zu setzen und für Events zu sorgen - unter Umgehung des Hauptfeldes der reputierten und ernsthaft diskutablen Opernregisseure." Mit einem Bier in der Hand trifft Max Dax German Popov in Frankfurt, der als "Our Man From Odessa" gerade sein Album "Trans Balkan Express" lanciert hat.

In der tazzwei unterhält sich Arno Frank mit Morgan Spurlock, dem freiwilligen Versuchskaninchen in Sachen McDonalds-Alleinernährung. Jan Feddersen schreibt zum Tod von Inge Meysel. Peter Unfried gesteht seinem kalifornischen Tagebuch die Verzweiflung über amerikanische Parkgebührexzesse. Eher schadenfroh kommentiert Niklaus Hablützel die Ratlosigkeit der Verleiher angesichts Michael Moores Kopierempfehlung für seinen eigenen Film.

Auf der Medienseite stellt Jan-Hendrik Wulf die Initiative "Telephone FM" (mehr) vor, die Radio für den Irak machen will. "stg" meldet die Ablehnung von Clements geplanten Kartellrechtslockerungen im Bundesrat. Ulrich Clewing schwärmt über die Ausstellung Rohkunstbau: "Hier, in Groß-Leuthen im Land Brandenburg, ist mehr möglich, als man sich je hätte träumen lassen".

Schließlich Tom.

SZ, 12.07.2004

Der Völkerrechtler Michael Bothe hat im Den Haager Prozess um den israelischen Sperrzaun die Arabische Liga vertreten. Im Gespräch mit Andrian Kreye hofft er, dass der Richterspruch auch Wirkung zeigt. "Der Gerichtshof hat ganz eindeutig und einstimmig erklärt, dass die Siedlungspolitik Israels völkerrechtswidrig ist. Damit ist die Zusage von Präsident Bush, er wäre damit einverstanden, wenn Teile des Westjordanlandes bei einer endgültigen Friedensregelung an Israel gingen und Siedlungen aufrecht erhalten werden sollten, mit dem Makel der Rechtswidrigkeit behaftet."

"Wir waren Zeugen eines Unglücks, einer Katastrophe geworden." Joachim Kaiser referiert erschüttert ein Konzert des jungen wie begabten Pianisten Nikolai Tokarev im Schloss Nymphenburg. "Tokarev beging den Fehler, mit des jungen Schumann Toccata Opus 7 anzufangen, einem stolzen, hochvirtuosen Glanzstück, welches selbst ein Horowitz, ein Gilels, ein S. Richter nicht an den Anfang setzen würden. Diese Toccata misslang Tokarev exemplarisch. Es fehlte der genialische Glanz, die leuchtende Legato-Festigkeit stürmischer Bewegung."

Weiteres: "Im Kanon der europäischen Werte gibt es einen Neuzugang. Die Würde der Person hat die Menschenwürde abgelöst." Alexander Kissler erwartet nach dem diesbezüglichen Urteil des Europäischen Gerichtshofes nun heftige Debattenstürme am Horizont heraufziehen. Kai Strittmatter schreibt ein schönes Stück über den jetzt wieder entdeckten Admiral, Entdecker und Eunuchen Zheng He, der schon im 15. Jahrhundert ein Kolumbus oder Magellan hätte werden können, wenn seine Vorgesetzten es denn so gewollt hätten. Anerkennung zollt Fritz Göttler der französischen Verlegerin Viviane Hamy, die im Herbst keine Bücher auf den Markt werfen will. Wenig Respekt erhält dagegen die Stiftung "Topographie des Terrors" von Jens Bisky für ihren "matten Blick nach vorn" auf einer Tagung in Berlin. Johannes Rubner gratuliert dem Pianisten Van Cliburn zum Siebzigsten. Tobias Timm freut sich über die inoffizielle und damit wieder beste Loveparade seit Jahren.

Auf der Medienseite erzählt Christopher Keil von der Operation Lebkuchen, dem Tag, als Bill Clinton zu Kerner nach Hamburg kam. Tomas Avenarius informiert über die Ermordung des Springer-Journalisten und Herausgebers der russischen Forbes-Ausgabe Paul Klebnikov.

Besprochen werden Johan Kramers "The Other Final", ein Film über ein "Fußballspiel der besonderen Art", Jesse Harris' und Ron Sexsmith' Konzert bei der Ruhrtriennale in Bochum, Christian von Treskows "geschickte Massenchoreographie" von Shakespeares "Sommernachtstraum" in Jena, die große Nostalgie-Show "Art and the 60's" in der Londoner Tate Britain, und Bücher, darunter ein Band mit Gedichten des Spaniers Jaime Gil de Biedma, zwei Bände über die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Politik im Europa der Zwischenkriegszeit sowie Armin Kratzerts Roman "Playboy" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.07.2004

Kerstin Holm spießt einige hübsche Zitate des Bundeskanzlers bei seiner Moskau-Visite in der letzten Woche auf. In der Jukos-Affäre zum Beispiel erkannte Gerhard Schröder "keine Anzeichen dafür, dass etwas nicht rechtsstaatlich gelaufen sei". Holm kommentiert: "Nach des Kanzlers beredtem Schweigen zu Tschetschenien, zur Einebnung der russischen Medienlandschaft und seinen anerkennenden Worten zu Putins verdächtig überwältigendem Parlamentswahlerfolg war diese verbale Umarmung seines Freundes im Kreml vielleicht das eklatanteste Beispiel für eine Realpolitik, die sich den Luxus liberaler Spitzfindigkeiten nicht mehr leisten mag."

Weitere Artikel: Thomas Wagner kommentiert die Weigerung der Witwe von Josef Beuys, einen Kunstpreis der Stadt Düsseldorf nach ihrem Gatten benennen zu lassen. Michael Hanfeld schreibt den Nachruf auf Inge Meysel. Heinrich Wefing feiert Richtfest beim Holocaust-Mahnmal. Josef Oehrlein schildert die Feiern zum hundertsten Geburtstag Pablo Nerudas in Chile. Joseph Hanimann berichtet vom Festivalauftakt in Avignon, das in diesem Jahr deutsche Produktionen etwa von Thomas Ostermeier, Frank Castorf oder Sasha Waltz ins Zentrum stellt. Volker Weidermann nennt Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" sein Lieblingsbuch. Boris Hohmeyer erhebt denkmalschützerische Bedenken gegen die Neugestaltung der Foyers der Hamburgischen Staatsoper. Walter Haubrich stellt den Dokumentarfilm "La muerte de nadie" vor, der die tieftraurige Geschichte über Francos letzten Hingerichteten, den DDR-Flüchtling Georg Welzel, erzählt. Heinrich Wefing resümiert ein Symposion zur Neugestaltung der "Topographie des Terrors" in Berlin. Walter Hinck schreibt zum Tod des Literaturkritikers Heinrich Vormweg. Wolfgang Sandner gratuliert dem amerikanischen Pianisten Van Cliburn zum Siebzigsten. Andreas Rossmann freut sich über eine in Dortmund geplante Filiale der Neuen Nationalgalerie. Abgedruckt wird der Auszug aus Uwe Tellkamps Roman "Der Schlaf in den Uhren", mit dem der Autor den Bachmannpreis gewann (der Auszug steht auch schon seit einigen Wochen im Netz).

Auf der Medienseite gratuliert Christian Deutschmann dem Hörspielregisseur Heinz von Cramer zum Achtzigsten. Und Kerstin Holm berichtet jetzt auch über die Ermordung des Forbes-Journalisten Paul Klebnikow.

Auf der letzten Seite legt Andreas Rosenfelder eine Reportage über zwei regelmäßoige Besucher niederländischer Coffeeshops vor. Esther Kilchmann stellt das literarische Internetportal Blütenleser vor. Und Christian Schwägerl zeichnet ein Profil des Künstlers Steven Kurtz, der mit seinem Critical Art Ensemble Aktionen gegen die Gentechnologie unternimmt.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Volker Stelzmann im Kunstverein Coburg und Sachbücher, darunter eine Studie von Birgit Schwarz über das von Hitler geplante monströse Kunstmuseum in Linz.