Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2004. Die FAZ lüftet das Geheimnnis von Brenner's Park-Hotel zu Baden-Baden. In der FR verzeiht Thomas Ostermeier dem Publikum in Avignon. In der NZZ plaudert Ulla Lenze an syrischen Gebirgsbächen über Nietzsche. Die SZ bedauert das männliche Geschlecht.

FAZ, 16.07.2004

Auf der letzten Seite erzählt Frank-Rutger Hausmann (mehr) die Geschichte von Brenner's Park-Hotel zu Baden-Baden, das in den vierziger Jahren von der Gestapo benutzt wurde und dem Herman Wouk in seiner zweibändigen Familiensaga "The Winds of War" ("Der Feuersturm", 1972) und "War and Remembrance" ("Der Krieg", "Weltsturm", 1979/80) ein Denkmal gesetzt hat. "Louis Ferdinand Celine hat zu Beginn seines fulminanten Romans 'Nord', später von Werner Bökenkamp kongenial ins Deutsche übersetzt, die gespenstische Atmosphäre der Götterdämmerung eingefangen, die im Brenner herrschte ... Diese 'Gäste' lebten, wenn man Celine glauben darf, in Saus und Braus. Ihre Betreuung lag bei Legationsrat Schulze (Dr. Josef Schlemann), der in den zwanziger Jahren Vizekonsul in Marseille gewesen war. Er habe sich, so Celine, jeden Tag von der Luftwaffe fangfrische Krustazeen und Fische vom Mittelmeer einfliegen lassen, um ja nicht auf sein Lieblingsgericht verzichten zu müssen: 'Die ganze Wehrmacht flutete zurück, verlor Europa, kann man sagen, ließ zwanzig Armeen im Stich, aber Schulzes Bouillabaisse blieb die Hauptsorge des Brenner."

Auf der Medienseite beschreibt Esther Kilchmann die Jagd nach der sehr beliebten Webloggerin Plain Layne, deren Website plötzlich abgeschaltet war. "Ihre Web-Freunde fragten sich, was passiert war, da Layne auch nicht mehr auf E-Mails antwortete. Sie fanden heraus, dass niemand von ihnen Laynes Telefonnummer oder Privatadresse besaß. Nach detektivischen Nachforschungen, die jedem Hinweis auf Laynes Alltagsleben nachgingen, stellte sich im letzten Monat heraus, dass hinter dem Netz eine Layne nie existiert hatte. Sie war ein Kunstprodukt. Ihr Autor ist der fünfunddreißigjährige Odin Soli, der mit 'Acanit' vor vier Jahren bereits eine ähnliche Web-Frau geschaffen hatte. Der Teilzeitschriftsteller betrachtet das Internet offenbar als Experimentierfeld für die Erfindung glaubhafter Gestalten."

Weitere Artikel: Horst Haider Munske denkt darüber nach, wie die Rechtschreibreform rückgängig gemacht werden kann. Lorenz Jäger erklärt Goethes "Dichtung und Wahrheit" für sein Lieblingsbuch. Gina Thomas meldet Neuigkeiten aus Großbritannien: die Ritter- und Damentitel sollen abgeschafft werden und das Empire in den Geschichtsunterricht zurückkehren. Andreas Obst war hin und weg von Jessye Normans (mehr) Auftritt beim Musikfestival Colmar, wo er auch gleich eine potentielle Nachfolgerin erlebt hat, Indra Thomas , die nicht nur wundervoll sang, sondern sich auch noch "artig für die Einladung nach Colmar bedankte". Ulrich Olshausen resümiert das elfte Jazzfestival in Istanbul. Jürgen Richter stellt den Neubau am Heiligen Grab in Görlitz vor.

Auf der Medienseite meldet kho., dass der russische Fernsehsender NTW "die letzten kritischen Programme zur Sommerpause abgesetzt" hat. Opfer ist auch die "jeden Freitag abend live übertragene Diskussionsrunde Swoboda slowa (Freiheit des Wortes) mit dem einst für Radio Liberty tätigen Moderator Sawwik Schuster". Und Michael Hanfeld meldet "Rekordumsatz von 657 Millionen Pfund und einen Gewinn von 37 Millionen Pfund" von BBC Worldwide im Jahr 2003. Uff. Auf der letzten Seite singt Edo Reents dem Bosch Winkelschleifer ein Ständchen - "Solange mein Bosch-Winkelschleifer aus Leinfelden-Echterdingen (bei Stuttgart) kommt, halte ich mich raus aus dem Klassenkampf" - dem es an den Kragen gehen soll. Und Hannes Hintermeier stellt die neue Verlagsleitung des Luchterhand Literaturverlags vor: "Georg Reuchlein soll ab 1. Januar den Verlag leiten, Regina Kammerer wird Cheflektorin."

Besprochen werden eine Installation des slowakischen Künstlers Matej Kren in der Städtischen Galerie Bratislava, Cristina Comencinis Film "Der schönste Tag in meinem Leben", eine Ausstellung mit Fotos von Benjamin Katz, der Georg Baselitz bei der Arbeit beobachtet hat, in der Bonner Bundeskunsthalle und Bücher, darunter eine Untersuchung von Janina Urussowa über "Die Stadt der Sowjets im Film 1917-1941" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 16.07.2004

Im Interview erklärt Thomas Ostermeier, warum die Franzosen in Avignon seinen "Woyzeck" am Ende nicht so recht beklatscht haben: "Es hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Zuschauer gefroren haben wie ein Schneider und einfach ins Warme kommen wollten."

Weiteres: Thomas Venker, Chefredakteur des Popkultur-Magazins Intro in Köln und Mit-Betreiber zweier Schallplattenlabels (www.onitor.de, www.scheinselbstaendig.net) beklagt die Kommerzialisierung der Popkultur im Hessischen Rundfunk. Florian Malzacher berichtet aufgeregt von Harald Schmidts erstem Kabarettprogramm nach der "Kreativpause". Ulrich Speck war bei der Tagung "Deutsche und jüdische Kultur- und Geistesgeschichte überdenken" auf Schloss Elmau. In Times Mager erzählt Detlef Kuhlbrodt, wo Berlin besonders "großstädtisch und weitläufig" aussieht.

Besprochen werden eine Retrospektive auf den Brasilianer Cildo Meireles im Hamburger Kunstverein und eine Dauerausstellung im sächsischen Zschadraß, einem Dorf für psychisch Kranke.

TAZ, 16.07.2004

Ahmir "?uestlove" Thomson, Schlagzeuger und Kopf der HipHop-Gruppe The Roots, erklärt im Interview, was es mit dem Namen ihres neuen Albums "The Tipping Point" auf sich hat: "Es scheint so, als ob zwischen 2000 und 2010 das Gegenteil von so ziemlich allem eintritt, was man erwarten konnte. Das Ergebnis ist zum Beispiel darin zu sehen, dass ausgerechnet ein Schwarzer die Nummer eins im Golfsport ist, nämlich Tiger Woods. Während die Nummer eins unter den Rappern ein Weißer ist, nämlich Eminem. Das hätte mir in den Achtzigern niemand erzählen können, dass ein 25-jähriger Schwarzer jeden Weißen in jedem beliebigen Golfturnier wegputzen wird. Das war unvorstellbar."

Andreas Klaeui berichtet vom Theaterfestival in Avignon. Besprochen wird die neue CD von Wiley, "Treddin On Thin Ice". Auf der Meinungsseite wird auf sieben Zeilen der "Perlentaucher für Fußball- und Medienkritiker" vorgestellt: Die Website indirekter-freistoss.de.

Schließlich Tom.

NZZ, 16.07.2004

Die Kölner Autorin Ulla Lenze ist im Rahmen eines Austauschprojektes nach Syrien gereist und gibt in einem lesenswerten Artikel ihre Eindrücke wieder. Von einem Spaziergang mit Bekannten hat sie etwa folgende Szene in Erinnerung: "Ich spreche die Probleme an, die Hegel hinterlassen habe, nehme gar das Wort Totalitarismus in den Mund und rede von der intellektuellen Notwendigkeit, ein geschlossenes System zu sprengen. Er wird schon verstehen. Oder nicht? Ich frage, weil er schweigt, warum Nietzsche hier so beliebt sei. 'Er ist so poetisch', sagt er knapp und macht eine höfliche Geste, die mir den Vortritt lässt. Ich will noch nicht aufgeben (oder bilde ich mir alles nur ein?), also schwärme ich, ohne heucheln zu müssen, von der Hilfsbereitschaft der Menschen hier, ihrer Freundlichkeit. 'Sie strahlen so viel Lebensfreude aus!' Ich drehe mich um und sehe ihm in die Augen; soll er das Nichtgesagte in meinen lesen. Er lächelt, bleibt stehen, wischt sich mit einem Tuch über die Stirn und zeigt in den strahlend blauen Himmel: 'Das liegt am Wetter. Der Himmel ist immer offen. Wussten Sie, dass in Finnland die meisten Selbstmorde stattfinden?'"

Weiteres: Beatrice Eichmann-Leutenegger begleitet die aufwendigen Vorbereitungen für eine "Wilhelm Tell"-Aufführung, die in Kooperation mit dem Weimarer Nationaltheater auf dem Schweizer Rütli stattfindet. Stefan Martens und Astrid M. Eckert (mehr hier und hier) geben eine Geschichtslektion über eine "alliierte Posse" in der Überlieferungsgeschichte der Aufzeichnungen von Joseph Goebbels. Marianne Zelger-Vogt spricht mit David Pountney, dem neuen Intendanten der Bregenzer Festspiele, über seine Pläne als Festspielleiter.

Auf der Filmseite gibt es einen Vorgeschmack auf das kommende Filmfestival in Locarno. Robert Richter porträtiert den iranischen Filmemacher Kamran Schirdel, dessen Dokumentarfilme Teil einer Retrospektive in Locarno sind. Außerdem wird Matthew Parkhills Film "Dot the I" besprochen.

Auf der Medienseite durchleuchtet Volker S. Stahr, wie sich die Medien in der Anzeigenflaute mit Product Placement, Gewinnspielen und Corporate Publishing neue Gelquellen erschließen. "In Europa nennt man die Kofinanzierung durch Product Placement, Sponsoring und ähnliche Einnahmen vornehm 'Kooperationen'. Wie prächtig dieses Geschäft läuft, offenbarte kürzlich der Evangelische Pressedienst. So verschaffte sich die Rheinland-Pfälzische Weinwirtschaft mit einem Zuschuss zur ZDF-Produktion 'Sabine' (die Rede ist von 100 000 Euro) eine Werbeplattform. In der Sendung prosteten die Darsteller in Berliner Lokalen mit Wein aus der Pfalz. Auch der Mainzer Wirtschafts- und Weinbau-Minister kam ins Bild. Sehr prominent zu sehen war zudem der neue VW Beetle. Volkswagen hatte die Serie mit einer sechsstelligen Summe unterstützt."

Gemeldet werden neue Versuche, der Spam-Flut Herr zu werden, dass Ulrich Reitz als Chefredakteur von der schwarzen Rheinischen Post zur roten WAZ wechselt und dass die Sun in Liverpool auch weiterhin unerwünscht ist.

Die Buchrezensionen widmen sich heute politischen Büchern, zum Beispiel Brigitte Seebacher Brandts Erinnnerungen an Willy Brandt (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.07.2004

"Hier zu Lande findet sich kein einziger Eintrag einer weiblichen Führungskraft unter den 'top female executives' des Wall Street Journal", hält Sonja Zekri in einer Bestandsaufnahme zur Lage der Geschlechter fest. Aber ganz so schlecht wie den Männer geht es den Frauen dann zum Glück nicht: " Jungen bringen schlechtere Zensuren nach Hause, schwänzen häufiger und machen seltener einen Abschluss. Sie landen öfter auf der Sonderschule oder im Knast: Verbrecher - und ihre Opfer- sind meist männlich... Der Mann, ein desorientierter halbgebildeter Delinquent. Ein Fall für den Artenschutz. Nur wenn es ans Geldverdienen geht und darum, die schrumpfenden Bildungsressourcen in Macht und Status umzumünzen, berappelt sich das schwächelnde Geschlecht und hält sich - siehe oben - unangefochten an der Spitze."

Weiteres: Henning Klüver beklagt die Abwicklung der Goethe-Institute in Italien. Bis 2012 müssen sie mit 30 bis 40 Prozent weniger Zuschüssen rechnen. Jens Bisky macht neue Vorschläge, wie der Berliner Schlossplatz genutzt werden soll. Fritz Göttler meldet, dass die Harvard School of Public Health den Jugendschutz in amerikanischen Kinos für ungenügend hält. Alex Rühle tingelt mit Harald Schmidt durch deutsche Stadthallen. Petra Steinberger entdeckt die Weblogs von Andrew Sullivan und Glenn Reynolds, die das alte "Talk Radio" wie ein Kaffeekränzchen aussehen lassen.

Der Historiker Peter Reichel ("Erfundene Erinnerung") blickt auf den militärischen Widerstand in den Filmen der fünfziger Jahre. Alexander Kissler war beim Vortrag des letzten lebenden Akteurs des 20. Juli, Philipp von Boeselager.

Auf der Medienseite porträtiert Christiane Kögel den Kaufmann und Bildhauer-Enkel Hans Georg Barlach, der sich mit dem Kauf von Hamburger Morgenpost und TV Today zum Medienverleger aufgeschwungen hat.

Besprochen werden zwei Ed-Ruscha-Ausstellungen im Whitney Museum New York (wobei Jörg Häntzschel Ruschas Fotografien von seiner Grand Tour im 2CV durch Frankreich für den unterhaltsamsten Teil hält), ein Liederabend mit Dorothea Röschmann in München, ein Konzert des Geigers David Frühwirth und Bücher, darunter Wolfgang Herles Roman "Die Tiefe der Talkshow", E. Belgrane Rwasons "Feuerland" und Stefanie Diekmanns "Mythologien der Fotografien" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).