Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2004. In der Zeit beschreibt Robert Menasse Österreich als erstes Opfer des Ersten Weltkriegs. Die FR beschwert sich über allzu viele Neologismen im neuen Duden. Die taz vergleicht Michael Moore mit Marcel Ophüls. In der SZ verteidigt Otfried Höffe die einfachen Bürger, die auch partizipieren sollen. Der Tagesspiegel begab sich auf die Suche nach der ukrainischen Literatur.

Zeit, 29.07.2004

Das Dossier versammelt heute verschiedene Texte zum Ersten Weltkrieg: Die gravierende Folgen macht etwa der Schriftsteller Robert Menasse für Österreich aus: "Vor dem Krieg war Wien eine Welthauptstadt, ein brodelndes, dampfendes zischendes Labor der Moderne, Avantgarde in Wissenschaft, Kunst, Kultur und politischen Ideen." Danach war Österreich kein gewichtiger Teil der Welt mehr, "sondern wurde zum Gegenteil der Welt; das geistige Labor wurde zu einem Sinnen- und Trachtenladen, der Steireranzug wurde zur Uniform eines Landes, das sich schon wieder darauf einübte, Uniform zu tragen. Damals schrieb Karl Kraus: 'Die Österreicher werden aus Schaden dumm.'" Außerdem: Der Bostoner Historiker David Fromkin zeichnet nach, wie die heutigen Konflikte des Nahen Ostens mit der Aufteilung des Osmanischen Reiches durch Briten und Franzosen entstanden. Stefan Proebst schildert die Folgen für den Balkan.

"Weiß der Teufel, im 'Tell' hat Schiller uns Schweizer durchschaut", ruft der Schriftsteller Thomas Hürlimann im Feuilleton: "Der knorrige Alpenschrat setzt zum Schuss, nicht zu einem Monolog an. 'Es muss!' Dann knallt's."

Claus Spahn reicht seine Kritik zum "Parsifal" nach: "Schlingensief und Boulez haben nun auch am Grünen Hügel den Altbayreuther Heiligenschein über dem Stück ausgeknipst. Dieser antiillusionistische Angang, die Abkehr vom Glauben an Wagners 'höchsten Heiles Wunder!' eint sie, sosehr sich der kühle Denker Boulez sonst vom durchgeknallten Träumer Schlingensief unterscheiden mag."

Weiteres: In der Randglosse gibt Christof Siemes den "mit dem Hammer gepuderten" Kritikern von Jan Ullrich mit, dass Armstrong nur deshalb siege, "weil er gnadenlos gegen sich selbst ist, seine Teamkollegen unterjocht, Konkurrenten demütigt und maßregelt". Thomas Groß hat sich ins Märkische Viertel gewagt, derzeit Berlins angesagteste Ecke. Hier residiert der Proll-Rapper Sido: "'Hier geht's um mich', stellt er klar, wenn der Journalist, der ihn in seiner Kifferhöhle besuchen kommt, zu allgemein wird. Medienverachtung: Was für Bürgersöhnchen, nicht für Sido." Katja Nicodemus plaudert mit Fanny Ardant über ihren neuen Film "Nathalie", über Truffaut, die Libertinage, die Liebe und das Leben. Achatz von Müller hat sich immer noch nicht mit dem Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche angefreundet: "Monumentaler Nippes". Jürgen Tietz sieht das Berliner Olympiastadion durch den Umbau als historisches Zeugnis entwertet.

Evelyn Finger findet die ARD-Studie über die "rundfunkbezogenen Tätigkeiten" der Stasi so erhellend, dass sie dem Sender sogar das "selbstgefällige Getöse" bei der Präsentation verzeiht. Mathieu von Rohr bereitet uns auf das Operations-TV vor, das uns in den nächsten Monaten blüht und bei dem sich unglückliche Kandidaten das "immergleiche Puppengesicht" verpassen lassen können. Claudia Herstatt erzählt, wie eine Kunstagentur neues Leben ins Kölner Kulturloch bringen will. Birgit Glombitza schmäht das Remake der Gangsterkomödie "Ladykillers" der Coen-Brüder. Im Aufmacher des Literaturteils schwärmt der Schriftsteller Ludwig Fels von Gil Courtemanches Roman über den Völkermord in Ruanda "Ein Sonntag am Pool in Kigali". In der Randkolumne kürt Gabriele Killert die "hutzeltrockene" Bürokratenvokabel "erneut" zu ihrem Lieblingsunwort.

"Bloß weg damit", meint Ulrich Stock in seinem Contra zur Rechtschreibreform, die nun auch in der Zeit wieder diskutiert wird. "Warum soll eine Gesellschaft 'einfacher' schreiben, wenn sie das einfach nicht will", fragt er. Jens Jessen fühlt sich dagegen in seinem Pro von Regelwut und leeren Sophistereien befreit.

FR, 29.07.2004

"Tut Euch zu einer Hundertschaft zusammen, verbreitet ein unbekanntes Wort und in der 24. Auflage sehen wir uns wieder", lästert Peter W. Jansen über die vielen Neologismen, die in die soeben erschienene 23. Auflage des Dudens aufgenommen wurden. Von dessen Kauf rät er ab: "denn die MPs werden ihre Richtlinienkompetenz aus dem Tabernakel kramen und mehrheitlich die Reformreform verordnen." Welche? Na, die Rechtschreibreformreform. "Vielleicht haben nach Anfang Oktober, wenn die Ministerpräsidenten tagen, die Tomaten eine andere Farbe. Wer will da jetzt noch die roten kaufen?"

Weitere Artikel: Rudolf Walther würdigt den vor vierzehn Tagen verstorbenen "freien Publizisten" und "autonomen Agitator" Hans A. Pestalozzi, und Christian Thomas schreibt zum Siebzigsten des Architekten Albert Speer.

Besprochen werden Christiane Pohles Inszenierung von Joanna Laurens' Stück "Fünf Goldringe" bei den Salzburger Festspielen und zwei Bücher des Frühneuzeithistorikers Wolfgang Reinhard: "Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie." und "Glaube und Macht. Kirche und Politik im Zeitalter der Konfessionalisierung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 29.07.2004

In der tazzwei vergleicht Harald Fricke das dokumentarische Verfahren Michael Moores mit dem Marcel Ophüls: "Wenn man sich seinen Film 'Hotel Terminus' zum Fall des Gestapo-Folterers Klaus Barbie anschaut, wird man viele Szenen finden, die der polemischen Vorgehensweise in 'Fahrenheit 9/11' merkwürdig nahe sind. Auch Ophüls führt die alten Nazis in den deutschen Dörfern vor, spielt den Clown, wenn er in Winterbeeten nach ehemaligen SS-Männern Ausschau hält. Aber darin liegt immer auch der Versuch, die Risse in der Geschichte kenntlich zu machen und zu zeigen, dass die eigene unstete Identität an Nachwirkungen in der Gegenwart gekoppelt ist: Ophüls fordert im Namen der Überlebenden Gerechtigkeit, er will die Lügen entlarven, die sich über der Vergangenheit aufgetürmt haben. Dazu gehört die Fähigkeit, sich mit den selbst produzierten Bildern auseinander zu setzen. Moore dagegen sucht immer nur nach Gleichgesinnten..."

Im Kulturteil berichtet Rene Marterns über die Debatte, die Elijah Walds (mehr hier) Buch "Escaping The Delta. Robert Johnson and the Invention of the Blues" in den USA ausgelöst hat: "Wald kritisiert, dass in den Sechzigerjahren jeder Blues-Künstler, der sich im Nachhinein nicht als Einfluss der Rolling Stones, der Yardbirds oder anderer weißer Rockbands einordnen ließ, quasi aus der Geschichte gelöscht wurde. Beispiel: Leroy Carr. Sein Tod entsprach dem Blues-Klischee - er starb 1935 im Alter von 30 Jahren an Alkoholmissbrauch -, aber ein Nachleben als Legende war ihm nicht vergönnt. 'Er klang nicht wütend oder gehetzt', schreibt Wald, 'er spielte nicht einmal Gitarre.' Nee, bloß Piano - und vor allem kam Carr nicht aus dem Staate Mississippi, wo, so malten es sich die Weißen aus, die Muttererde des Blues lag."

Weitere Artikel: Burkhard Bruhn liefert eine kleinen Kulturgeschichte des Balkons.
Christoph Braun hat sich die Lesespots angeguckt, die Blixa Bargeld für den Baumarkt Hornbach gedreht hat: Bargeld habe dort mit dramatischen Posen die "Do-it-youself-idee" für punksozialisierte Heimwerker "expressionistisch übersteigert" (mehr hier). Besprochen werden das Remake der Alexander-Mackendricks-Komödie "Ladykillers" von den Coen-Brüdern und der Horrorfilm "Cabin Fever".

Schließlich TOM.

NZZ, 29.07.2004

 Ludger Lütkehaus (mehr hier) ist genervt vom Mithör-Zwang in der modernen Lärmgesellschaft. Als Hauptübel hat er das Handy erkannt, dem niemand entrinnen kann: "Wie die Handy-User nach der frühen Einsicht von Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson 'nicht mehr nicht kommunizieren' können, so können die unfreiwilligen Mithörer nicht mehr nicht partizipieren. Sie werden akustisch zwangssozialisiert, paradoxerweise durch den Terror des Privaten, ja Intimen. Wäre das Wort nicht etwas zu lärmend und humorlos, könnte man die akustische Zwangsgesellschaft in diesem Sinn totalitär nennen."

Weiteres: Joachim Güntner macht sich Gedanken über den Skandal um Norma Khouris vermeintlich authentischen Roman "Forbidden Love". Aram Lintzel stellt das Frankfurter Label Whatness vor, das Kunst und Popmusik zusammenführt. Frank Schäfer freut sich über eine DVD mit Aufnahmen vom WDR-"Rockpalast". Hendrik Feindt bespricht eine Doppelausstellung über Wolkenbilder im Hamburger Bucerius Kunst Forum und im Jenisch Haus. Gemeldet wird der Tod der britischen Stummfilmschauspielerin Joan Morgan.
Buchbesprechungen widmen sich heute neuen Schriften von Jacques Derrida und Giles Fodens Roman "Sansibar" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14).

SZ, 29.07.2004

"Sind die einfachen Bürger Deutschlands noch immer politisch nicht voll mündig?" fragt Otfried Höffe, Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen, in einem Plädoyer für den Volksentscheid, dessen Etablierung er zur Abrundung der Demokratie als "zweite, gouvernementale Ausweitung der Bürgerbeteiligung" empfiehlt. "Eine politische Klasse, die vornehmlich ihre Eigeninteressen, das Erringen und Erhalten von Macht, verfolgt, empfindet das Hereinregieren natürlich als Störung. Die Alternative besteht in einer Demokratie, aus drei ... Säulen: einer repräsentativen, einer bürgergesellschaftlichen und einer direkten, das heißt plebiszitären Demokratie."

"Kein besserer Ort, um über Europa nachzudenken", schreibt Volker Breidecker von der Terrasse des ehemaligen Sommerhauses Thomas Manns im litauischen Nidden, über das dort stattfindende "Tomo Mano Festivalis". "Als müsste man die Landkarte im Kopf und auch in der Seele mit vorsichtigen Federstrichen nochmals neu entwerfen."

Weitere Artikel: Im Interview spricht Rowohlt-Verleger Alexander Fest, dessen Verlag Norma Khouris Buch "Du fehlst mir, meine Schwester" über einen moslemischen Ehrenmord an einer Frau wegen Zweifel an der Authentizität zurückgezogen hat, über Literatur und Betrug. Harald Eggebrecht war beim Kammermusikfestival Verbier, wo er ungewöhnliche Ensembles, Jungtalente, große Künstler, Reiche, Schöne und gelegentlich von hellem Entzücken ergriffene Zuhörer beobachtet hat. Wolfgang Schreiber hilft bei der Suche nach einem neuen Intendanten der Salzburger Festspiele. Günter Herburg dichtet einen Nachruf für den verstorbenen Filmemacher Vlado Kristl (mehr hier). Gerhard Matzig gratuliert dem Architekten und Stadtplaner Albert Speer zum Siebzigsten, und "skoh" berichtet von einem Kunstraub im Kölner Wallraf-Richartz-Museum - "... kaum ein deutsches Museum wurde so oft beraubt".

Auf der Medienseite schreibt Christiane Kögel über Ingmar Bergmanns Film "Sarabande", in dem Liv Ullmann und Erland Josephson dreißig Jahre nach den "Szenen einer Ehe" wieder aufeinander treffen (Sarabande, Freitag, 30. Juli, 23 Uhr; Szenen einer Ehe, Nacht von Freitag auf Samstag, 1.05 Uhr, beide im ZDF).

Besprochen werden die Fotoausstellung "Wirklich wahr!" im Essener Ruhrlandmuseum, Jan Sardis "mit wunderbarer Präzision inszenierter" Film "Eine italienische Hochzeit", der neue Film der Coen-Brüder "Ladykillers" mit Tom Hanks ("Das ausgefuchste Böse ist einfach nicht sein Metier.") - dazu gibt es ein Interview Joel Coen -, Stefan Winters ausschweifende Cabaret-Oper "Der Kastanienball" im Münchner Prinzregententheater (das Rezensent Reinhard Schulz nach zwei Stunden reichlich angeschlagen "wiewohl ohne Geschlechtskrankheit" verlassen hat), Philippe Arlauds und Christian Thielemanns Tannhäuser-Reprise in Bayreuth und Bücher, darunter Schriften von Herbert Marcuse, dessen Todestag sich heute zum 25. Mal jährt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 29.07.2004

Jörg Plath hat sich in Lemberg - Lviv - in der ukrainischen Literaturszene umgetan, die seinen Worten zufolge seit drei Jahren einen ungeheuren Boom erfährt und neben Juri Andruchowytsch alles "von Karnevalistik über Pop bis zu Neuem Biedermeier" zu bieten hat: "Allerdings scheint der grenzüberschreitende Handel mit Frauen deutlich besser organisiert zu sein als der mit Büchern. Am einfachsten hat es der auch in Deutschland erfolgreiche, von Diogenes verlegte Andrej Kurkow: Der 43-Jährige schreibt nämlich auf Russisch. Für das Ukrainisch von Natalia Snjadanko, Oksana Zabuschko, Sergij Schadan, Juri Izdrik oder Juri Wynnitschuk gibt es hierzulande hingegen keine professionellen Übersetzer. Also lud das Literarische Colloquium Berlin Ukrainisten aus Greifswald, Genf und Wien zu einem Übersetzerseminar nach Lwiw. Die meisten der sprachbegabten Wissenschaftler lehren ukrainische Studenten Deutsch, und manche kennen die Landessitten so gut, dass sie ihren Führerschein einem 50-Euroschein verdanken. Die Sorgen ukrainischer Verleger konnten sie kaum überraschen. 'Die staatliche Kulturpolitik ist keine Katastrophe', schüttelte Wolodymyr Dmyterko den Kopf. Der Chef des Verlags Klasyka im Lwiw meint: "Eine Katastrophe wäre immerhin greifbar.'"

Welt, 29.07.2004

Da die Meldung für die anderen Zeitungen offensichtlich zu spät kam. Joseph Rovan ist tot. Jörg von Uthmann schreibt in der Welt den Nachruf.

Stichwörter: Rovan, Joseph, Zeitungen

FAZ, 29.07.2004

Mark Siemons denkt nach über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Hartz IV: "Der Menschentypus, den Hartz IV favorisiert, ist der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht."

Weitere Artikel: Christian Geyer findet in der Leitkolumne strenge Worte für den Sankt Pöltener Bischof Krenn, bei dessen Untergebenen Kinderpornografie zirkulierte und der darüber nicht die angemessen zerknirschte Reaktion zeigt. Freddy Langer schreibt zum Tod des Hitlerfotografen Walter Frentz. Gemeldet wird, dass Michael Moore keine Wahlempfehlung für John Kerry abgibt. Regina Mönch und Heinrich Wefing unterhalten sich mit Paul Raabe von der Stiftung Weimarer Klassik über die Zukunft der Institution nach dem kritischen Gutachten des Wissenschaftsrats. Friedmar Apel empfiehlt E.T.A. Hoffmanns "Nachtstücke" als sein Lieblingsbuch. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Albert Speer (Sohn) zum Siebzigsten.

Auf der Kinoseite besucht Andreas Platthaus eine Tübinger Ausstellung zu Lotte Reininger. Michael Althen empfiehlt neue Kino-DVDs. Und Robert von Lucius schildert die missliche Lage des schwulen Filmfestivals von Stockholm.

Auf der letzten Seite zerstören Gaby Franger und Rainer Huhle einige Mythen über den Vater Frida Kahlos: Guillermo Kahlo stammte keineswegs aus deutsch-ungarisch-jüdischen Verhältnissen, wie Kahlo selbst in einer biografischen Notiz nahelegte, sondern schlicht aus lutheranischen Verhältnissen in Pforzheim. Joseph Croitoru berichtet, dass die arabische Zeitung Al-Sharq Al-Awsat zur Zeit den letzten, im vergangenen Jahr geschriebenen Roman Saddam Husseins veröffentlicht, der eine christlich-jüdische Verschwörung gegen die bedauernswerten, aber mannhaft sich wehrenden Araber schildert. Und Andreas Platthaus zeichnet ein Profil des Comicautors Robert Crumb, dem im Museum Ludwig eine Ausstellung gewidmet ist.

Besprechungen gelten Christiane Pohles Inszenierung der "Fünf Goldringe" von Joana Laurens in Salzburg, dem Musikfestival von Verbier, dem Remake der "Ladykillers" (mehr hier) der Coen-Brüder und einer Jenny-Holzer-Installation im Kunsthaus Bregenz.