Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2004. FR, FAZ, NZZ und SZ erinnern an den Ersten Weltkrieg. George Steiner meint in der Berliner Zeitung, "zuviel Geschichte" hat die Deutschen müde gemacht. Todmüde. Die taz fragt, warum Nacktheit und Gewalt im Theater skandalträchtig sind, nicht aber im Kino. Und Franzobel verteidigt in der Welt die Freiräume in der neuen Rechtschreibung.

Berliner Zeitung, 31.07.2004

"Berlin ist scheußlich. Berlin ist kitschig. Nehmen Sie die Architektur des neuen Berlin. Ich saß kürzlich im Sony Center am Potsdamer Platz. Man spürt innerlich einen Schrei angesichts dieser Barbarei", sagt der große Kritiker-Philosoph Georges Steiner in einem schönen Magazin-Gespräch mit Jan Brachmann.

Es geht darin um Musik ("Die Sprache ist immer eifersüchtig auf die Musik"), die größte Autobiografie des 20. Jahrhunderts (Schostakowitschs vierzehn Streichquartette) und den Optimismus, der die Amerikaner derzeit zu den besten Komponisten und Architekten macht: "Für einen Amerikaner ist das Morgen interessanter als das Heute. Das ist eine Seeleneinstellung. Blochs schönes 'Prinzip Hoffnung' wurde in Amerika geschrieben. Das darf man nicht vergessen. Ich habe gerade den amerikanischen Komponisten Eliott Carter vor seinem Publikum in London gesehen, mit 94 Jahren, strahlend, und mit zwei neuen Werken von großer Komplexität und künstlerischer Erfindung... Deutschland ist müde, todmüde... Zu viel Geschichte."

Welt, 31.07.2004

Danke, Literarische Welt! Sie lässt den Dichter Franzobel ein paar fällige Fragen zur todmüden Debatte um die Rechtschreibreform stellen: "Dauernd läuft man wo auf, stößt man wo an. Ständig muss man rudern, um Luft ringen. Und wer hilft, wer leuchtet einem? Tante Orthografie und die Grammatik-Gouvernante sind so eine Art Leuchtturm-Knigge für den Schriftgebrauch. Mit dem Mund schnabelt ohnehin jeder, wie er ihm gewachsen ist. Und all das mühselig Erruderte sollte mit der Reform auf einmal verwässert, abgesoffen sein? Und weiter: "Nun ist die einheitlich normierte Rechtschreibung im Deutschen gerade einmal 100 Jahre alt, sind diese Dinge eher Lappalien oder, sofern sie nicht schon längst unmerklich in Fleisch und Sprachblut übergegangen sind, wenigstens an einem Vormittag erlernbar. Von der ursprünglichen Forderung nach einer konsequenten Kleinschreibung, einer phonetischen Transkription und der Abschaffung des Beistrichs war dieser Reförmling ja sowieso noch weit entfernt, trotzdem wurden ein paar Freiräume geschaffen, die jetzt zu revidieren völlig blödsinnig wäre."

Außerdem bespricht in der heutigen Ausgabe Hanns-Josef Ortheil den neuen Handke.

FAZ, 31.07.2004

Die FAZ bringt mehrere Artikel zum 90. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs. Michael Jeismann versucht im Aufmacher, die historische Zäsur zu umreißen: "Im August 1914 fanden selbst skeptische Gemüter noch einmal zur Nation als einer gefühlten Wirklichkeit - vielleicht das letzte Mal. Denn was in diesem langen Krieg geschah, war nicht weniger als das langsame Sterben der Nationen in Kampfbünden und Allianzen, in moralischer Internationalisierung und vor allem: in einer Ethnisierung von Konflikten und politischen Programmen."

Vier weitere Artikel widmen sich dem Thema: Dirk Schümer besucht die Schlachtfelder von Ypern. Jürg Altwegg beschreibt die Bedeutung der "Grande Guerre" für die Franzosen. Kerstin Holm beschreibt, wie in Russland durch den Ersten Weltkrieg der Weg in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet wurde. Und Gina Thomas erzählt, wie das tradierte Geschichtsbild des Kriegs in Großbritannien von jüngeren Historikern in Frage gestellt wird.

Weitere Artikel: Joachim Müller-Jung schreibt einen Nachruf auf Francis Crick, den Mitentdecker der DNS. Der Kunstsammler Heinz Berggruen schildert in einer rührenden kleinen Skizze, wie er als Ehrenbürger Berlins zum ersten Mal sein Privileg nutzte und kostenlos Bus fuhr. Robert Gernhardt empfiehlt die "Sudelbücher" des Göttinger Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg als sein Lieblingsbuch. Lorenz Jäger gratuliert dem alten neuen Linken Oskar Negt zum Siebzigsten. Bettina Erche stellt das "Virtuelle AntikenMuseum" vor, eine Aufbereitung der Antikensammlung der Uni Göttingen für das Internet. Dirk Schümer meldet, dass die Mailänder Brera, die Kunstgalerie der Stadt, vergrößert werden soll.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Richard Kämmerlings zum hundertsten Geburtstag Witold Gombrowicz. In einem zweiten Essay fragt Dietmar Dath was aus dem von dem Theoretiker W. J. T. Mitchell und dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm vor zwölf Jahren ausgerufen "pictorial turn" geworden ist.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um ein Requiem des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, das Debütalbum der Gruppe TV On The Radio, neue Reggae-Platten, die Barockoper "Morte d'Orfeo" von Stefano Landi und andere Barockopern und das Debüt-Album der Gruppe Intuit mit Hommagen an den brasilianischen Pop.

Auf der Medienseite schreibt Verena Lueken zum Tod des Journalisten und Asien-Korrespondenten Tiziano Terzani. Andreas Obst hat einen Arte-Themenabend zum deutschen Kolonialismus gesehen, der am Montag läuft. Gina Thomas meldet, dass der Verkauf der Telegraph-Gruppe rechtens war.

Auf der Literaturseite werden Georg Kleins neuer Roman "Die Sonne scheint uns", Essays zur Weltliteratur von Stephen Vizinczey und Gao Xingjians "Buch eines einsamen Menschen" besprochen. Eine weitere Besprechung gilt einer Ausstellung, die an den ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark erinnert, ebendort.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Christoph Buch ein Gedicht Theodor Fontanes vor - "Das Trauerspiel von Afghanistan":

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält.
"Wer da!" - "Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan."

Afghanistan! Er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand....

TAZ, 31.07.2004

Auf den Kulturseiten denkt Florian Wolfrum darüber nach, was "einen richtigen Opernskandal eigentlich ausmacht". Im Spannungsfeld der klassischen Rollenverteilung zwischen Künstler ("revolutionär") und Publikum ("muss aufgerüttelt werden") stellt er fest: "Zwei Bestandteile scheinen unverzichtbar: die Nacktheit und die Gewalt", die "ihre eigentliche Heimat" allerdings im Film hätten. "Im Kino allerdings glaubt niemand, durch revolutionäre Darbietungen dieser Art aufgerüttelt zu werden. Warum werden Gewalt und Nacktheit, wenn sie aus dem Kino auf die Opernbühne überwechseln, plötzlich skandalträchtig, revolutionär und aufrüttelnd? Der Grund kann nur in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen liegen, die Kino und Oper erfüllen."

In tazzwei kommentiert Martin Reichert den Versuch des Papstes (oder eigentlich Kardinal Ratzingers), mit der Geißelung des Feminismus nicht nur mit der Gender-Theorie abzurechnen, sondern auch die römisch-katholische Kirche für den "Wettkampf mit dem Islam" zu positionieren. "Im Islam ist der Mann noch Mann, die Frau noch Frau. Eine Vorstellung, die auch den BewohnerInnen einer von zunehmendem Unbehagen und Entfremdung geprägten westlichen Gesellschaft durchaus attraktiv erscheint."

Brigitte Werneburg resümiert einen "Sommerloch-Special-Report" des amerikanischen Nachrichtenmagazis "Newsweek", das zu dem verblüffenden Befund kommt, Deutschland sei das "ideale Land für Künstler".

Besprochen werden der neue Film von Sönke Wortmann "Der Himmel von Hollywood", politische Bücher, Peter Handkes "Don Juan", der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson sowie Dorothea Dieckmanns leider als "nicht gewagt genug" beurteilter Roman "Guantanamo" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

FR, 31.07.2004

In einem umfangreichen Essay beschreibt der Historiker Wolfgang J. Mommsen (mehr) die "kulturellen Ursprünge" des Ersten Weltkriegs, der im August vor 90 Jahren ausbrach. In der "Bewusstseinslage der kulturellen Eliten" sei der Krieg nämlich "anfänglich zuallererst technischer Ausdruck einer neuen Zukunftsoffenheit" gewesen. "Es waren in erster Linie die Militärs und Teile der nationalistisch gesinnten Bürgertums, welche die Idee eines Krieges positiv zu betrachten begannen. Dazu gehörten auch, wenngleich in einer weit weniger offenen Form, die kulturellen Eliten, die Schriftsteller und die bildenden Künstler, und stellenweise sogar, weit weniger akzentuiert, die Musiker."

Auf der Seite 3 begründet Matthias Arning die derzeit "eigenartig intensive Auseinandersetzung" mit diesem eher "unauffälligen Jahrestag" mit einer Art Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Grundstimmung: "Es ist die Erfahrung der Katastrophe, die Sehnsucht nach Helden und das Gefühl einer eigentümlichen Orientierungslosigkeit zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts".

Der Soziologe Oskar Negt wird heute 70 (mehr), und die FR lässt zu seinen Ehren gleich drei Gratulanten zu Wort kommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder würdigt Negt als bekennenden Linken, der sich seit über 40 Jahren "allen kurzlebigen Moden der 'Bindestrich-Soziologie' verweigert" habe. Im Gespräch gibt Alexander Kluge (mehr) Auskunft über ihre Zusammenarbeit: "In unserer Alchemistenküche entstehen theoretische Texte, aber was wir eigentlich tun, ist bereits gesellige Praxis." Und Carl Wilhelm Macke lobt Negts Beharrungsvermögen: "Während unzählige '68er inzwischen mit oft theatralisch vorgetragenen Bekenntnissen auf Distanz zu ihren 'Jugendsünden' gehen, sind die Positionen von Oskar Negt über Jahrzehnte hinweg von einer unaufgeregten Kontinuität und Geduld geprägt."

Weiteres: In Times mager wundert sich Harry Nutt über die deutsche "Lust am Vergleichen", die in Zeiten von Hartz inzwischen auch den Gehaltszettel erreicht hat. Besprochen wird schließlich Stefan Herheims Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" als Wiederaufnahme bei den Salzburger Festspielen.

NZZ, 31.07.2004

In Literatur und Kunst meditiert und assoziiert der Schriftsteller Adam Zagajewski aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Witold Gombrowicz (mehr hier und hier) und stellt ganz nebenbei eine interessante Frage zum Surrealismus: "Auf ihren Leinwänden sehen wir Berge, Spiegel, Sonnenschirme, Äpfel und Hüte. Einen Betrachter wie mich, der ich kein Enthusiast der Surrealisten bin, überrascht eines: Unter diesen raffinierten Phantasien findet sich keine Spur der wirklichen Albträume des 20. Jahrhunderts, weder im antizipierenden Vorgefühl noch in der späteren Rekapitulation. Hätte die so viel gelobte Einbildungskraft der Surrealisten versagt?"

Weitere Artikel in der Samstagbeilage: Ulrich M. Schmid liest Neuerscheinungen zur Vergangenheitsbewältigung in Polen. Die Historikerin Ute Frevert (mehr hier und hier) erinnert an den Beginn des Ersten Weltkriegs. Und Harm Klueting erinnert an das "Zwei-Kaiser-Jahr" vor 200 Jahren ("Napoleon und Franz). Außerdem bespricht Günter Erbe eine französische Neuerscheinung über die französischen Salons im 19. Jahrhundert.

Das Feuilleton bringt Besprechungen. Andres Lepik besucht die Ausstellung "Tall Buildings" im New Yorker Moma (hier die aufwendige Website zur Ausstellung). Besprochen werden außerdem ein Konzert der wiederauferstandenen Simon & Garfunkel in Basel, eine Installation des britischen Künstlers Darren Almond im Lentos-Kunstmuseum Linz, die Choreografie "Tempus fugit" des belgischen Kollektivs Les Ballets C. de la B. in Wien und einige Neuerscheinungen, darunter Marcus Jensen Roman "Oberland" und Torgny Lindgrens Roman "Das Höchste im Leben".

Und wundervoll ein Zitat aus dem Leitartikel auf Seite 1 zum morgigen Nationalfeiertag der Schweiz: "'Die Noth hat uns zusammengeführt', schrieb diese Zeitung 1848". Ob es seitdem an jedem 1. August einen Besinnungsaufsatz gab?

SZ, 31.07.2004

Im Aufmacher überprüft Franziska Augstein die These, dass der Erste Weltkrieg die Deutschen brutalisiert habe. "Wenn der Krieg eine brutalisierende Wirkung hatte, so lässt sich diese weniger an den Affekten der Einzelnen zeigen als vielmehr an der öffentlichen Rhetorik: Diese wurde in der Tat gewalttätiger. Das galt aber nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten." Und auch Augstein stellt - wie Mommsen in der FR - fest, dass sich die Eliten damals "unverantwortlicher verhalten" hätten als der Rest der Bevölkerung.

Weiteres: Jörg Häntzschel beschreibt die kleinteilige Düsseldorfer Prozess-Farce gegen den schwerkranken Maler Jörg Immendorf. Andrian Kreye erzählt die Geschichte des Open Air Festivals von Newport (mehr), das vor 50 Jahren gegründet wurde. Als "ingeniös" und "heiter-transparent" lobt Gerhard Matzig das neue Dachkonstrukt im modernisierten Berliner Olympiastadion, das jetzt als "Arena für das große Gefühl" eröffnet wird. Der Mediziner und Rotkreuz-Mitarbeiter im Sudan, Richard Munz, erläutert in einem Interview das Ausmaß der Not in Darfur und anderswo im Land. Alexander Menden resümiert eine Londoner Tagung über Katastrophen in großen Städten. Jeanne Rubner wirft einen Blick auf die diversen gegnerischen "Rudel" innnerhalb der Kultusministerkonferenz, die sich im Herbst abschließend (haha!) zu Gedeih und Verderb der Rechtschreibreform äußern soll. Der Generaldirektor der Pariser Oper, Hugues Gall, resümiert in einem Gespräch seine nun zu Ende gehende Dienstzeit. Zu lesen sind außerdem eine Grußadresse an Oskar Negt zum siebzigsten Geburtstag, sowie ein Nachruf auf Francis Crick, den Entdecker der DNS-Struktur.

In der Wochenendbeilage erinnert sich Kurt Kister an die schönsten Ferienerlebnisse seiner Kindheit. Stefan Klein erzählt eine (fiktive) Geschichte über die Ridge Street in Accra - einen "breiten grauen Fluss", der schwer zu überqueren ist. Im Selbstversuch ist Sven Siedenberg eineinhalb Stunden lang versuchsweise im Trabbi durch Berlin gepflügt ("Es ruckelt und ruckelt"). Rebecca Casati informiert über das neue modische Frauenbild: "poetisch-vertrackt". Zuverlässige Aufklärungsarbeit leistet wieder einmal Hermann Unterstöger mit seiner Erklärung der Herkunft des Ausdrucks "Arsch und Friedrich". Und der Schriftsteller Günter Herburger (mehr) sichtet in seiner Erzählung von einem Lauf durchs Allgäu unter anderem Ahnen, eine Turbanhexe sowie eine indische Rennente.

Buchbesprechungen gelten einer Studie über Männerbünde, eine Kulturgeschichte von Schillers "Wilhelm Tell" und Monique Truongs Roman "Das Buch vom Salz" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).