Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2004. In der Zeit tendiert Steven Spielberg zu keinem Stil. In der Welt tendiert der Tendenzforscher Matthias Horx zu lauter Tendenzen zu lauter verschiedenen Familientypen. Die SZ tendiert zur Zusammen Schreibung. In der FAZ tendiert Hans Ulrich Gumbrecht zum Frauenfußball.

Zeit, 26.08.2004

Auf ganzen zwei Seiten unterhält sich Katja Nicodemus mit Steven Spielberg über das Genre "Blockbuster", den Holocaust, seinen neuesten Film "The Terminal" und Spielbergs nächste Projekte ("Indiana Jones 4", H.G. Wells "War of the Worlds" und die Verfilmung des palästinensischen Attentats auf die israelische Olympia-Mannschaft von 1972): "Ich bin ein totaler Eklektiker und ein gefräßiger Themenkonsument. Ich kann heute nicht sagen, was mich morgen interessiert. Ich lese hier ein Buch und da eine Zeitung und gehe dahin, wohin mich meine Aufmerksamkeit zieht. Deshalb sind meine Filme auch so unterschiedlich. Ganz anders als zum Beispiel bei Martin Scorsese, der eine große stilistische Konsistenz besitzt. Aber ich will keinen Stil."

"Es hätte dümmer kommen können", befindet Jens Jessen nach Sichtung von Oliver Hirschbiegels Film aus dem Führerbunker "Der Untergang". In der Leitglosse denkt Evelyn Finger anlässlich des neuesten Stücks von La Fura dels Baus darüber nach, ob das Gegenteil der Bild-Zeitung automatisch richtig ist. Hanno Rauterberg hat einen "Exzess der Duldsamkeit" erlebt, vor der MoMA-Ausstellung in Berlin, weshalb er jetzt die Schlange zum größten Kunstwerk der Sammlung erklärt. Volker Hagedorn skizziert ein Porträt der lettischen Geigerin Baiba Skride: "Russisches Vibrato steht ihr weder zu Gebote noch im Weg... Alles ist verbunden in einer Art Erzählung - und in ihrem schönen Sandelholz-und-Silber-Timbre." Claudia Herstatt berichtet, was Hamburgs Galeristen jetzt alles tun, um Kundschaft anzulocken. Michael Naura träumt von Miles Davis. Und schließlich erzählt Irene Dische ihre sechste True-Romance-Geschichte "Heiße Luft". Besprochen werden Simon Rattles historistische "Rheingold"-Aufführung in Baden-Baden, der Metallica-Film "Some Kind of Monster" und die CD-Edition zum legendären Moondog.

Im Aufmacher des Literaturteils polemisiert Ulrich Greiner gegen Georg Klein und seinen neuen Roman "Die Sonne scheint uns": "Die spitzfindige Munterkeit, mit der er sich immer neue Labyrinthe ausdenkt, erinnert mich an Enid Blyton."

Im Dossier begleitet Reiner Luyken einen Liter Öl, der auf seiner Reise von den Quellen in Kuwait bis zur Tankstelle in Wessling bei Köln eine Preissteigerung von sagenhaften 19.000 Prozent erlebt.

FR, 26.08.2004

Den Krankenpfleger in Sonthofen vor Augen, der eine "hohe Anzahl von Senioren, die sich in seiner Obhut befanden, vom Leben zum Tod befördert" hat, macht sich Michael Rutschky Gedanken über die Sterbehilfe: "Gewiss, manche ereilt der Gehirnschlag in der Meeresbrandung; andere verdämmern friedlich nach dem Idealbild, demzufolge das Sterben so etwas ist wie das Schwinden des Sonnenlichtes am Abend. Aber oft genug ist es eine qualvolle Arbeit, und man muss sich fragen, ob die Lebenden, die Gesellschaft, es jenen, die diese Arbeit auf jeden Fall für sich zu Ende bringen müssen, nicht erleichtern soll. Die Ethiker, die Palliativmedizin und Sterbebegleitung preisen, muten den Helfern zu viel zu. Sie können nicht im Namen eines allgemeinen Lebenswillens agieren, der den Sterbenden oft genug längst verlassen hat, ja, dessen letzte Reste er schleunigst abscheiden möchte. Allerdings ist er für den Suizid seit Monaten zu schwach und hilflos geworden. Und dass er nur noch auf einen Pfleger hoffen kann, der ihm aus Mitleid oder Mordlust oder Größenwahn oder Arbeitserschöpfung die Spritze gibt, das wollen wir doch auf keinen Fall wünschen."

Weitere Artikel: Oliver Herwig stellt uns den neuen Münchner Petuelpark vor ("Eine Kunstmeile voll Wasser, Licht und Weite"). In Times Mager sinniert Mirja Rosenau über geheimnisvolle Verdopplungen in der Wahrnehmung seit der Euro-Einführung und den Terroranschlägen auf die New Yorker Twin Towers. Karin Ceballos Betancur gratuliert dem argentinischen Schriftsteller Julio Cortazar zum 90. Geburtstag. Stefan Dornuf schreibt zum 100. Geburtstag von Christopher Isherwood. Auf der Medienseite informiert Oliver Gehrs über den Machtkampf um den Spiegel, der zwischen dem Verlag Gruner + Jahr und Rudolf Augsteins Kindern Jakob und Franziska entbrannt ist.

Besprochen wird Joe Berlingers und Bruce Sinofskys Dokumentarfilm über die Heavy-Metal-Band Metallica "Some Kind of a Monster".

TAZ, 26.08.2004

"Keine Krise und kein Reformbedarf. Hier leistet sich das System das Antlitz seiner Überwindung. Im schwindenden Wohlstand den Widerschein der Utopie", seufzt ein hochbeglückter Guido Kirsten nach Betreten der Museumsinsel Hombroich am Niederrhein. "Ein ehemaliges Naturschutzgebiet, heute Park mit moderner Architektur und Kunst. Zum Schlendern und Staunen und Mit-der-Seele-Baumeln. Ein Stück Deutschland, an dem die deutschen Schlagzeilen ganz weit weg sind." Nach seligem Durchschreiten des Paradieses dann das: "Noch mal tief einatmen. Dann wieder raus ins verhartzte Deutschland. Aber welch ein Glück! Mit Hombroich im Kopf schaut sichs gelassener. Noch die Autobahnen lächeln. Wo es Inseln gibt, gibt es Hoffnung."

Weitere Artikel: Sven von Reden untersucht am Beispiel neuer Highschoolfilme die Evolution des Teenagers vom exotischen Tier zum Leitbild für die Gesellschaft. Martin Reichert erläutert in der tazzwei schwulenfeindliche und bis zum Mordaufruf reichende Texte vieler Reggae-Lieder und berichtet vom wachsenden Widerstand von Schwulenverbänden und homosexuellen Bürgerrechtsorganisationen gegen Reggae-Konzerte. Auf der Medienseite schreibt Steffen Grimberg über die Verleihung der "First Steps Awards".

Besprochen wird Jacques Rivettes Film "Die Geschichte von Marie und Julien".

Schließlich Tom.

Welt, 26.08.2004

Auf den Forumsseiten begrüßt der Trendforscher Matthias Horx die hohe gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit der Familie. Er stellt verschiedene Familientypen vor, neben der - vor allem in Skandinavien verbreiteten - neuen Familie, der re-aristokratischen Familie und der Nicht-Familie auch die in Amerika beliebte fraktale Puzzel-Familie: "Ob man mit oder ohne Ehevertrag, mit linearer oder verzweigter Genealogie zusammenlebt, tut nichts zu Sache. Man ist eingebettet in ein weit verzweigtes Geflecht von 'Exes', Freunden, Omas, Lebensbegleitern, die helfen und bei der Kindererziehung entlasten. Hauptsache, Spaß, auch im Stress. Die 'Kids' werden im Stil 'wohlwollender Vernachlässigung' (Mariam Lau), nein, nicht erzogen, sondern gelassen."

SZ, 26.08.2004

Gustav Seibt ärgert sich über die "vernagelte" Kommission zur Rechtschreibreform. "Toll" findet er, "was der weitaus intelligenteste Verteidiger der Reform, der Zeit-Autor Dieter E. Zimmer, als ihre größte (und fast einzige) Schwäche beschrieben hat. Sie bestehe, so Zimmer, darin, 'dass sie an einigen Stellen tut, was keine Orthografie tun darf: jemanden zwingen, zu schreiben, was er gar nicht meint. Die Rede ist von der starken Vermehrung der Getrenntschreibung. Sie zerreißt Begriffe wie sogenannt, umweltschonend, vielversprechend, wohlverdient in ihre Bestandteile, die einzeln jedoch meist etwas anderes bedeuten, und scheint sie damit aus der Sprache zu tilgen - ein Unding.' Dieser Wahnsinn aber wurde längst vor der Verabschiedung der Reform öffentlich und laut und deutlich kritisiert - und trotzdem von der Zwischenstaatlichen Kommission beschlossen."

Warum sollten sich Christentum und Moderne ausschließen, fragt der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier in der SZ-Serie über die christlichen Wurzeln Europas: "Leben 'das Christentum' und 'die Moderne' denn in verschiedenen Welten? Sind sie nicht seit jeher ineinander verschränkt? Hat nicht gerade das Christentum im Lauf seiner Geschichte immer wieder eine überraschende, unberechenbare Dialektik von 'Kirche' und 'Welt' in Gang gebracht, wie sie in anderen Religionen kein Gegenstück hat? Erklären sich nicht viele Züge der westlichen 'Moderne' aus dieser Dialektik?" Maier versucht mit fünf Thesen eine Antwort auf diese Fragen zu geben.

Weitere Artikel: Petra Steinberger widmet sich der politischen Macht von amerikanischen Veteranenverbänden. Susan Vahabzadeh schreibt über US-Wahlkampfspots prominenter Hollywood-Regisseure wie Rob Rainer ("Harry und Sally") und Doug Liman ("The Bourne-Identity"). Andrian Kreye berichtet über Wahlkampfaktivitäten des amerikanischen Milliardärs John Sperling. Gerhard Matzig korrigiert reichlich gewunden eine Meldung in der gestrigen SZ, wonach der Architekt Peter Zumthor angeblich verlangt hat, dass seine drei Treppentürme auf dem Gelände der "Topografie des Terrors" abgerissen werden. Zumthor hat das nie verlangt, erklärt Matzig nun. Anke Sterneborg berichtet über die Verleihung der "First Step Awards" in Berlin, wo die besten Filme von Absolventen deutscher Filmhochschulen prämiert wurden. Alexander Kissler schreibt zum Tod der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (mehr hier). Von Dirk Peitz erfahren wir, dass ab sofort auch Musikdownloads in die Charts einfließen, und das dies möglicherweise skurrile Folgen wie die Rückkehr von Elvis in aktuelle Hitlisten hat.

Besprochen werden Michael Kliers Film "Farland" ("Im jüngeren deutschen Kino kann keiner die städtische Peripherie in solch eindringlichen Bildern und Gesten schildern wie Michael Klier", findet Kritiker Rainer Gansera, der - zusammen mit Fritz Göttler - Klier auch interviewt hat), Mark S. Waters Film "Mean Girls", die Kandinsky-Ausstellung "Der Klang der Farbe" im Von der Heydt-Museum in Wuppertal, "Von ganzem Herzen", die kulturgeschichtliche Ausstellung zu einem menschlichen Zentralorgan im Schloß Neuhardenberg, und Bücher, darunter Bernhard Kuscheys biografische Studie über den Psychoanalytiker Ernst Federn und seine Frau Hilde und Gil Courtemanches Roman "Ein Sonntag am Pool in Kigali" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 26.08.2004

Die Schriftstellerin Friederike Kretzen macht sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und meditiert über Erinnern, Vergessen und Vergangenes: "Erinnern als eine Antwort zu verstehen, ist in gewisser Weise die Realisierung des größten Schreckens, insofern festzustehen scheint, dass es eine Geschichte und Vergangenheit gibt, die wir ein für allemal hinter uns lassen können. Wer sich dann darüber hinaus erinnert, keine Ruhe geben kann mit der Geschichte, sieht Geister, nichts als Einbildungen. Oder ist der Traum des Erinnerns, endlich schlafen zu können, während um uns herum die Welt untergeht?"

Weiteres: Knut Henkel porträtiert die peruanische Musikerin Susana Baca, die der afroperuanischen Minderheit in ihrem Land eine Stimme verleiht. Thomas Leuchtenmüller erinnert an den Schriftsteller Christopher Isherwood ("Leb wohl, Berlin"), der heute vor hundert Jahren geboren wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Michelangelo und seine Zeit" in der Wiener Albertina, ferner Musik-DVDs von Can und The Who, neue Platten (nicht-online) von Björk, Kante und Prodigy sowie Bücher, darunter die Gedicht-Anthologie "Hell und schnell" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 26.08.2004

Hans Ulrich Gumbrecht (mehr hier), vergleichender Literaturwissenschaftler und Mitglied des "Athletic Board" an der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien, fragt sich, was aus all den Sportarten werden soll, die inzwischen - wie Athen zeigt - an unüberwindliche Leistungsgrenzen gestoßen sind. Er sieht nur zwei Perspektiven: Ästhetisierung und Ballsportarten, weil es hier nicht auf Rekorde ankommt. Oder beides. "Vielleicht hat ja auch die wachsende Anerkennung des Frauenfußballs weniger als wir manchmal unterstellen, mit der Erfüllung von Soll-Werten der politischen Korrektheit zu tun. Vielleicht ist der Frauenfußball einfach beliebt geworden, weil dort eine Art von Verspieltheit und Eleganz noch möglich ist, die im dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, in der klassischen Epoche des Männerfußballs, auch dort dominierten, aber mittlerweile dem taktischen Pragmatismus der Trainer-Strategen und dem gewiss gestiegenen physischen Leistungsniveau der Spieler zum Opfer gefallen ist."

Weitere Artikel: Henning Ritter versucht im Aufmacher, eine Vision für das wieder aufzubauende Berliner Stadtschloss zu entwickeln, verwirft die Idee eines Humboldt-Forums als "gedankliches Edelblech" und plädiert für eine Nutzung als Stadtbücherei. Jürgen Kaube fragt in einem dazugehörigen Artikel, was es mit der modischen Bezugnahme auf die Humboldts auf sich hat. In der Leitglosse vermerkt Hubert Spiegel mit Genugtuung, dass der neue Duden einige Schreibweisen der ehemaligen Rechtschreibung wieder zulässt. Der Bildhauer Olaf Metzel, dem Gelegenheit gegeben wurde, das Treppenhaus der Pinakothek der Moderne in München mit einem Werk zu schmücken, kritisiert die Architektur dieser Pinakothek. Ingeborg Harms erklärt Ralph Ellisons Roman "Der unsichtbare Mann" zu ihrem Lieblingsbuch. Gemeldet wird, dass die Auszählung für die ZDF-Aktion "Das große Lesen" begonnen hat (während der Buchreport schon Ergebnisse verrät, wie in unseren Buchmachern nachzulesen ist). Michael Gassmann kritisiert den Bund für Naturschutz, der verhindern will, dass der Papst auf dem Flughafengelände von Hangelar im nächsten Jahr eine Massenmesse hält, weil die Kiebitze Interesse für die Fläche manifestieren. Falk Jaeger besucht das Hochhaus Uptown München nahe dem Olympiagelände, dessen Büros sich nur sehr schleppend vermieten lassen. Jürg Altwegg schildert die saisonübliche Aufregung der Pariser Medien vor der Rentree litteraire, die aber nur die üblichen Romane der üblichen Chefredakteure zu bringen scheint. Gerhard Rohde würdigt die Arbeit des Dirigenten Hubert Soudant mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester.

Auf der Kinoseite unterhält sich Bert Rebhandl mit dem Regisseur Michael Klier, dessen neuer Film "Farland" von Andreas Kilb besprochen wird. Michael Althen betrachtet eine DVD-Rom, welche die Stadtgeschichte von Los Angeles erzählt. Peter Körte annonciert, dass man Mel Gibsons "Passion Christi" nun auch auf DVD genießen kann.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass Sat 1 mit Thomas Kausch einen neuen Anchorman hat. Und Peter Lückemeier sucht nach Gründen für den Rücktritt des FR-Geschäftsführers Günter Kamissek.

Auf der letzten Seite weist Rüdiger Safranski (mehr hier) mit einem feierlichen kleinen Schiller-Essay auf seine demnächst erscheinende Schiller-Biografie hin. Mark Siemons deutet die gestern im Tagesspiegel veröffentlichte Stellungnahme einiger Westberliner Kulturgrößen zu Thomas Flierls Berliner Kulturplänen als Schritt zu einer historischen Versöhnung zwischen West und Ost. Und Günter Platzdatsch porträtiert den Liedermacher Gerhard Schöne.