Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2004. In der SZ wundert sich Lutz Hachmeister über den merkwürdigen Slang der Regierung Schröder. Die NZZ berichtet über die Proteste gegen den Parteitag der Republikaner in New York. Die New York Times ist sehr erstaunt: Es gibt praktisch keine Juden in Deutschland, aber eine Menge jüdischer Kultur. In der FAZ wundert sich Richard Rorty darüber, was sich deutsche Universitäten alles gefallen lassen. Die FR besucht den Millennium Park von Chicago.

FR, 31.08.2004

Helmut Müller-Sievers besucht den neuen Millennium-Park (mehr hier und hier eine beeindruckende Fotostrecke) in Chicago, der ein riesiges ehemaliges Gleisgelände überdacht: "Die Parkplaner gossen das Areal mit einer Betonschale aus, in die sie eine riesige Tiefgarage installierten. Der neue Park ist ihr Dach. Man kann sich denken, dass damit, zumal wegen der Nähe des Sees, einige tektonische Schwierigkeiten verbunden waren. Ihre Überwindung erlaubt es aber, den gesamten Verkehr, der sich auf den Park zubewegt, sowie den alltäglichen Verkehr zum Art Institute und den abends zur Symphonie und in die umliegenden Theater, aus den Straßen zu nehmen. Das erste der neuen Gebäude, wenn man den Spaziergang im Nordosten des Parkrechtecks beginnt, ist ein spezieller Fahrradschuppen (mehr hier): dort kann man nicht nur sein Fahrrad abstellen, sondern gleich noch duschen, sich umziehen und seine Montur in einem Spind lassen. Selbstverständlich gibt es auch Fahrradtechniker mit Internetanschluss."

Besprochen wird eine Ausstellung zum Stand der griechischen Fotokunst in Kiel. In Times mager berichtet Thomas Medicus über Kompromissvorschläge verschiedener Akademien zur Rechtschreibreform.

Tagesspiegel, 31.08.2004

Heute zwei Gespräche auf den Kulturseiten:

Rüdiger Schaper spricht mit dem Theaterregisseur Bob Wilson über seine texanischen Wurzeln, seine Sehnsucht nach der Ferne und seinem Gefühl für kulturelle Grenzen: "Amerikaner reisen nicht. Amerika kennt keine Grenzen. Wir leben in diesem riesigen Land, und wir wurden nie angegriffen. Wir kennen nicht einmal Mexiko. George Bushs erste Auslandsreise als Präsident führte ihn - nach Mexiko. Als ich den 'Hamlet' machte, eine Koproduktion von Houston mit europäischen Bühnen, hieß es in Houston: Oh, wir fahren nach Paris. Wir reisen ins Ausland. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass Paris im 'Ausland' liegt."

Jan Schulz-Ojala traf sich mit einem selbstbewussten Marco Müller und sprach über seine neue Position als Filmfestival-Chef von Venedig und was andere von ihm halten: "Heute nennen sie mich einen 'Hollywoodisten', der nur Stars nach Venedig holt. Aber das tangiert mich wenig. Ich habe viele künstlerisch innovative Filme produziert und muss da wohl niemandem was beweisen. In Venedig gibt es natürlich auch jene Filme, die ein Festival braucht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin: Die Medien hier steigen mit verdoppeltem Interesse ein. Wir zeigen Qualitätskino für ein Massenpublikum."
Stichwörter: Paris, Venedig

TAZ, 31.08.2004

Ganz feierlich zumute wird Susanne Messmer beim Hören von Björks neuer Platte: "Jeder Klang, jeder Beat auf 'Medulla' ist ohne Instrumente, a cappella, nur mithilfe von Chören, Sängern, Stimmkünstlern und ausgefeilter Aufnahmetechnik produziert -, man wird vor allem Björks Stimme ausgesetzt, die so noch stärker alles überstrahlt als gewohnt. Und diese Stimme sagt: Es ist hohe Kunst, gleichzeitig emotional und auf den Punkt zu singen. Ich vernehme mich selbst, höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Und es war harte Arbeit, diesen Eindruck herzustellen."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels hat einer Autorenlesung des Literarischen Colloquiums Berlin zur Saisoneröffnung zugehört und verspricht insgesamt einen unaufgeregten, aber hoffentlich nicht langweiligen Bücherherbst. Gunnar Lützow denkt darüber nach, was man ernsthaft als Luxus bezeichnen kann und empfiehlt schon mal einen Bristol 407 als Auto. Kolja Mensing erzählt eine weitere Episode aus seinem in der Entstehung begriffenen Dokumentarfilm "13. Stock" über das Leben in einem Bremer Sozialbauquartier. Und Madeleine Bernstorff schickt einen Bericht von der 6. Werkleitz Biennale in Halle.

Auf der Medienseite erzählt Steffen Grimberg über Ärger bei der BBC, auf der Meinungsseite warnt Niels Boeing vor möglichen Gefahren der Nanotechnik. In tazzwei erzählt Viola Keeve, wie die Hippen, Hotten und Hiphopper in den USA das Publikum auffordern, gefälligst zu wählen.

Und hier Tom.

Weitere Medien, 31.08.2004

Der Artikel ist aus der New York Times von vorgestern, wir haben ihn zu spät gesehen. Jeremy Eichler ist sehr erstaunt: Es gibt Hunderte von Klezmermusikgruppen in Deutschland, und das ganz ohne Juden, schreibt er in einem längeren Hintergrundbericht! "A renaissance of Jewish culture without Jews, prompting a wide range of reactions here and abroad, from bewilderment and cautious approval to cynicism and reproach."
Stichwörter: New York, New York Times

NZZ, 31.08.2004

Andrea Köhler berichtet über die Vielzahl von Protestveranstaltungen gegen den Republikaner-Kongress in New York: "Nahezu ungezählt sind mittlerweile die Bush- Parodien; seit einiger Zeit freilich sind die Späße über George Walkers beschränkte Artikulationsfähigkeit weit rüderen Scherzen gewichen. Die Aktionen reichen vom großen Reimen bis zum großen Fressen. In einem Straßenspektakel, in dem sich jeder, der mag, bis zum Brechreiz voll stopfen kann, wollen drei Performancekünstlerinnen die Nähe der Bush-Republik zum Römischen Reich evozieren; der Trog steht auf dem Trottoir parat. " (Mehr zum Wahlkampf in Amerika in unserem Link des Tages)

Weitere Artikel: Carolyn Schnyder befasst sich mit einem Kongress über den Reformator Heinrich Bullinger. "Hmn" meldet, dass Jürgen Flimm ab 2007 Intendant der Salzburger Festspiele ist (beide Artikel sind nicht online).

Besprochen werden ein Konzert des Symphonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Mariss Jansons beim Lucerne Festival (Peter Hagmann ärgert sich über den Konzertmeister, der sich während des Konzerts "geräuschvoll und gestenreich" die Nase putzte), ferner Konzerte beim Willisauer Jazzfestival sowie Bücher, darunter Jeremy Rifkins Studie "Der europäische Traum" (laut Uwe Justus Wenzel ein "Muntermacher für deprimierte Alteuropäer") und Handschriften von Marcel Proust (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 31.08.2004

Auf der Medienseite widmet sich der Medienjournalist Lutz Hachmeister dem "merkwürdigen Slang" der Regierung Schröder. "Es ist ein Mischmasch aus McKinsey-Jargon, Restbeständen der 68er-Soziologie und pseudo-futuristischen Visionen, der als unheimlich und bedrohlich verstanden wird. Hartz IV, das zur Zeit besonders umkämpfte Gesetz, hat sich sprachlich in diesem Sinn verselbständigt. Es wirkt in seiner besonderen Kombination aus Manager-Namen und Durchnumerierung, fast unabhängig von realen Auswirkungen, wie eine Vergeltungswaffe der Regierung gegen die arbeitende oder arbeitslose Bevölkerung." Unter Helmut Kohl war übrigens, wie Hachmeister erinnert, noch ein Wolfgang Bergsdorf Inlandschef im Bundespresseamt, der über "Herrschaft und Sprache" habilitiert hatte!

Weiteres: Susan Vahabzadeh berichtet, dass Hollywood in Zeiten ständiger Kostensteigerung wieder auf junge Nachwuchsregisseure setzt: "Junge Regisseure sind nicht so verwöhnt, vielleicht auch nicht immer so mutig, einen ganzen Drehtag ins Warten aufs richtige Licht zu investieren." Jürgen Otten setzt uns über die jüngsten Berliner Sparpläne in Kenntnis: Das Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin (RSB) und das Berliner Sinfonie-Orchester (BSO) sollen nach Plänen von Kultursenator Thomas Flierl zusammengelegt werden. Thomas Steinfeld weist auf eine mögliche Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil zu den Juniorprofessoren hin, damit würden nämlich auch die Befristungsregelungen für wissenschaftliche Angestellte aufgehoben.

Alexander Kissler berichtet von einer Studie zu sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche, deren Autoren in dem unangreifbaren Priesterbild von der Repraesentatio Christi die Ursache für viele Übergriffe sehen. Christine Dössel sichtet die neuen Spielzeithefte der Theater, die sich in ihren Augen zu "kunstvollen Hinguckern" entwickelt haben. Lothar Müller meldet, dass Jürgen Flimm 2006 Intendant der Salzburger Festspiele wird.

G.K. betrachtet in der Leitglosse neue reaktionäre Tendenzen in der britischen Architekturszene. Lisa Spitz entlarvt am Beispiel des Flecken Böcklingen (zwischen Güllenborn und Queichthal) das zurückgebliebene Dorf als Lebenslüge. Dorothee Müller war bei einem Designerworkshop im südfranzösischen Boisbuchet. Rolf-Bernhard Essig nimmt anerkennend zur Kenntnis, dass sich das Erlanger Poetenfest "um das Historische und das Internationale erweitert" hat.

Besprochen werden Bücher, darunter Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" und Heinz-Dieter Krauschs Geschichte der Zierpflanzen "Kaiserkron und Päonien rot" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 31.08.2004

Auf den Kulturseiten berichtet der griechische Architekturkritiker Dimitris Rigopoulos über die Veränderungen von Athen durch die Olympischen Spiele: "Wir können es selbst kaum glauben. Vergessen sind alle entwertenden Adjektive; plötzlich ist Athen 'schön', 'strahlend', 'magisch'. Das mediterrane Temperament allein reicht nicht aus, um diesen Stimmungswechsel der Athener gegenüber ihrer eigenen Stadt zu erklären. Es sind tatsächlich sichtbare Erfolge. Im letzten Monat erlebte die griechische Hauptstadt eine geradezu fieberhafte Flut von Übergaben beeindruckender Infrastruktur-Projekte: Fertigstellung der großen Tangente, einer Schnellstraße von 72 Kilometern; Erweiterung der Metro zu den westlichen, südlichen und östlichen Athener Vororten; Verbindung des neuen Flughafens mit dem Zentrum, jetzt braucht man nur noch 35 Minuten; Rückkehr der Tram, zwei Linien verbinden das Stadtzentrum mit dem Küstenbereich. Für eine Stadt, die bis Januar 2000 nur eine überalterte Metrolinie und einen der unangenehmsten Flughäfen der nördlichen Hemisphäre besaß, scheinen diese Errungenschaften jegliche Übertreibung zu legitimieren."
Stichwörter: Olympische Spiele

FAZ, 31.08.2004

Richard Rorty ist empört über den Plan, an der Hamburger Universität die Stellen für Geisteswissenschaften zu halbieren. Er erinnert die deutschen Politiker daran, dass die Qualität von Harvard, Yale und Princeton darauf zurückzuführen ist, dass einst amerikanische Forscher und Gelehrte "aus Orten wie Heidelberg, Tübingen und Berlin mit dem Anspruch zurückkamen, in Amerika Universitäten nach Art derjenigen zu gründen, die sie in Deutschland gesehen hatten." Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, dass die Deutschen von den Amerikanern lernen: "Keine bedeutende amerikanische Universität würde auch nur eine Sekunde lang den Vorschlag ernst nehmen, den Umfang ihrer Geisteswissenschaften zu halbieren. Ein solcher Vorschlag eines Ministeriums würde nur als arroganter Versuch gewertet, das kulturelle Klima des Landes zu verändern. Die Mitglieder einer Regierung, die mit einer staatlichen Universität so etwas versuchen würden, dürften sicher sein, sofort als Witzfiguren verspottet zu werden. Alle anderen Universitäten würden ihrer Schwesterinstitution beispringen. Ich bin sicher, das gilt auch für Deutschland, und Gelehrte in der ganzen Bundesrepublik werden öffentlich ihre Bestürzung darüber ausdrücken, was in Hamburg geplant ist."

Im Juli behauptete eine junge Frau, in der Pariser Metro Opfer eines antisemitischen Anschlags geworden zu sein. Später stellte sich heraus, dass alles erfunden war. Warum nur ist es heutzutage so attraktiv, sich zum Opfer zu stilisieren? Die schönsten Thesen dazu haben natürlich die Franzosen. Guillaume Paoli stellt einige davon vor: So sieht der Philosoph Frederic Gros "eine 'Demokratie der empfindlichen Subjekte' im Anbrechen, die allesamt in einem Punkt übereinstimmen: Kein Leid wird weiter toleriert. Notwendigerweise wird die Nullrisiko-Ideologie von einer institutionellen Veropferung (victimisation) begleitet." Zugleich werde der Ruf nach Bestrafung immer lauter. "Je mehr Opfer es gibt, desto mehr Täter gibt es, die verfolgt werden müssen. 'Penalneid' nennt der Schriftsteller Philippe Muray den herrschenden Trieb der Epoche, einen unlöschbaren Durst nach Bestrafung."

Weitere Artikel: Jordan Mejias berichtet von bemerkenswert friedfertigen Demonstrationen in New York gegen die Republikaner: "Ein Vater, der sich mit seiner verlegen lächelnden Tochter an die Fifth Avenue gestellt hat, um ein zugegebenermaßen winziges Bush/Cheney-Plakat emporzuhalten, wird in Debatten verstrickt, aber weder ausgebuht noch niedergeschlagen. Die zwei Amerikas, von denen in der Ära Bush gern geredet wird, achten hier noch darauf, dass ihr gemeinsames Fundament unangetastet bleibt." Frank Schirrmacher nennt Ernst Jüngers "Annäherungen. Drogen und Rausch" sein Lieblingsbuch. Jürg Altwegg meldet die Entlassung David Streiffs, Chef des Schweizer Bundesamtes für Kultur wegen Unverträglichkeit mit Innnenminister Pascal Couchepin. Gina Thomas berichtet, dass die britische Presse schon gespannt auf Oliver Hirschbiegels Film "Der Untergang" wartet. Heinrich Wefing lehnt den Kompromissvorschlag der Darmstädter Akademie zur Rechtschreibreform für die FAZ ab. Eleonore Büning sieht die Salzburger Festspiele in Kompromissen veröden. Klaus Ungerer schildert eine Gerichtsverhandlung über Nachbarschaftsstreitigkeiten. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des niederländischen Dirigenten Hans Vonk. Dietmar Dath schreibt zum Tod der Sängerin Laura Branigan.

Auf der Medienseite beschreibt Jürg Altwegg, wie die Entführung zweier französischer Journalisten im Irak die französische Gesellschaft über alle Religionsgrenzen hinweg eint: "Die feigen Feinde der offenen Gesellschaft werden ihr innenpolitisches Ziel nicht erreichen: Das Kopftuch-Gesetz wird nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Auch jene, die es besonders hart betrifft und die es energisch bekämpft haben, scheinen seine Nützlichkeit und Notwendigkeit deutlicher zu erkennen als vor der Geiselnahme - wie immer diese auch ausgehen mag." Auf der letzten Seite porträtiert Clementine Kügler den ehemaligen Dieb und Meisterfälscher Erik der Belgier, der Buße tut, indem er der Polizei hilft, gestohlene Gemälde zurückzubekommen. Thomas Groß versucht die Tatsache zu verarbeiten, dass seit dem 11. September so viele Aliens im Kino aufgetaucht sind. Und Martin Kämpchen berichtet über eine indische Debatte um die Todesstrafe.

Besprochen werden eine Ausstellung über den weltreisenden Adelbert von Chamisso im Kreuzberg Museum Berlin (mehr hier), die Ausstellung "Transatlantici" im Meeresmuseum in Genua, eine Ausstellung von Heike Beyer im Kölner Museum Ludwig und der koreanische Film "Oldboy" von Chan-Wook Park.