Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2004. In der FAZ bekennt Viktor Jerofejew seine Verwirrung über die Ereignisse von Beslan. In der SZ schildert der tschetschenische Dichter Apti Bisultanow Tschetschenien als Schlachthaus. Die FR trauert um Rotterdam. Die taz trauert um das Haus der Kulturen der Welt in Berlin. In der NZZ konstatiert der libanesische Journalist Hassan Dawud den totalen Verfall des arabischen Buchmarkts.

FAZ, 08.09.2004

Der russische Autor Viktor Jerofejew (mehr hier) artikuliert in einem Artikel über Beslan seine widerstreitenden Gefühle: "Bin ich nur verwirrt, hat man mich verwirrt, oder sind alle verwirrt?" Eine seiner Fragen: "Kann man sagen, das die russischen Generäle im Nordkaukasus die westliche Zivilisation verteidigen?" Die Antwort ist unklar: "Ich bedaure, dass Beslan Bush in die Hände spielt, aber das ist nicht zu ändern. Russland ist aus verschiedenen Gründen eine Schwachstelle in der westlichen Zivilisation, vor allem aber ist es durchaus nicht davon überzeugt, dass es zu dieser Zivilisation eine wesentliche Beziehung hat. Äußerlich ja, den Westen benutzen - das natürlich! Aber im Innern sind wir anders. Keiner hat indessen große Lust, einen Blick in unser Inneres zu werfen."

Weitere Artikel: Erna Lackner berichtet, dass ein von der österreichischen Regierung und dem Ueberreuter-Verlag geplanter "Austrokoffer" mit mehreren Bänden österreichischer Literatur an mangelnder Kooperationswilligkeit der Autoren zu scheitern droht. Regina Mönch hält fest, dass trotz rasender Gerüchte die Brandursache in der Anna-Amalia-Bibliothek noch keineswegs geklärt sei. Klaus Ungerer beobachtet eine Vorleseaktion in einer Berliner Filiale McDonalds-Konzern, der sich jetzt also auch für Bildungstechniken stark macht. Monika Osberghaus weist auf eine weitere Literaturaktion für junge Leser hin - "Ohr liest mit", veranstaltet vom Börsenverein. Wolfgang Sandner gratuliert dem Komponisten Peter Maxwell Davies zum Siebzigsten. Götz Leineweber resümiert das Festival Simdi now, das in Berlin türkische Kultur vorstellte. Jürgen Kaube fragt, ob Gerhard Schröder mit seiner Befürwortung eines "einkommensproportionalen Elterngeldes" nicht eine radikale Wende der Familienpolitik eingeleitet hat. Und Christian Schwägerl fragt: "Kann und soll der Staat die Entscheidung für Kinder erleichtern?" Michael Althen empfiehlt in seinem heutigen Bericht vom Filmfestival Venedig vor allem den neuen Film des koreanischen Regisseurs Kim Ki-Duk "Binjip", der ausnahmsweise mal nicht besonders blutrünstig zu sein scheint.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass das Kartellamt den Augstein-Erben in ihrem Kampf für das einflusserhaltende Prozent am Spiegel-Konzern abschlägig beschieden hat, und dass Gruner und Jahr und die Mitarbeiter des Spiegels jetzt alleine über Wohl und Wehe des Hauses entscheiden können.

Auf der letzten Seite berichtet Oliver Tolmein über eine mit bekannten Experten besetzte bioethische Sommerakademie für Studenten im Heinrich-Pesch-Haus, Ludwigshafen, einer Bildungseinrichtung der Jesuiten. Paul Ingendaay meldet, dass der diesjährige Prinz-von-Asturien-Preis originellerweise dem Jakobsweg zugesprochen wurde. Und Wolfgang Sandner erzählt eine hübsche Episode aus dem Leben des Dirigenten Michael Tilson Thomas, der beim Eröffnungskonzert in San Francisco vor einem Jahr drei Minuten vor Schluss des "Feuervogels" durch einen Feueralarm unterbrochen wurde - und der diese Saison nun mit den letzten drei Minuten von Strawinskys Stück eröffnen wird.

Besprechungen gelten der Ausstellung "Blickdicht" in Chemnitz, die die Geschichte der Chemnitzer Strumpfindustrie auch künstlerisch aufarbeitet, dem Film "The Village" von M. Night Shyamalan, der nach "Sixth Sense" nun seinen Sinn für metaphysische Pointen wiedergefunden zu haben scheint, einer Installation über "Das Unheimliche" des Künstlers Mike Kelley in Wien und dem Tanzprogramm des Edinburgh Festivals.

FR, 08.09.2004

Anneke Bokern trauert um die verlorene Aufbruchsstimmung in Rotterdam. Noch vor wenigen Jahren galt die Stadt als "erste Wahl fürs kunstsinnige Jungvolk", schon ist es damit wieder vorbei. "Ein Großteil der Rotterdamer kann mit dem Kulturgeschehen nur wenig anfangen. Nicht umsonst war Rotterdam nicht nur die Heimatstadt, sondern vor allem die Hochburg des Rechtspopulisten Fortuyn, der 2002 ermordet wurde. Anfang 2003 trat ein konservativ-populistisch dominierter Stadtrat sein Erbe an und macht seither der Kunstszene das Leben schwer. Zunächst musste Joep van Lieshouts Anarcho-Freistaat AVL-Ville schließen. Das Kulturbudget der Stadt schrumpft seit zwei Jahren stetig, wie auch die Toleranz gegenüber gewagten Kunst- und Architekturprojekten. Selbst der harmlosen Architekturbiennale sollen bereits nach der ersten Ausgabe die Subventionen wieder gestrichen werden."

Weitere Artikel: Richard Wagner denkt über die Bedeutung von links oder rechts, progressiv oder konservativ, jung oder alt nach - sind das wirklich noch Gegensätze oder ist das europäische Denken in den Fallen der klassischen Dichotomien gefangen, fragt er sich. Ina Hartwig stellt ein Akzente-Heft über Witold Gombrowicz vor.

Besprochen werden Bücher, darunter Roger Caillois' "Die Schrift der Steine" und Gombrowiczs wieder aufgelegter Roman "Pornographie" und ein neues (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 08.09.2004

Was macht eigentlich das Berliner Haus der Kulturen der Welt? Es schafft sich gerade selbst ab, könnte man nach Lektüre des Artikels von Daniel Bax meinen: Einst bildete es "das Epizentrum einer Szene, in der sich die Vielstimmigkeit der Metropole spiegelte", doch mit dem neuen Leiter Hans-Georg Knopp änderte sich das. Fortan gab es erlesene Veranstaltungen, nach dem Motto "lieber weniger Publikum als das falsche". Nun soll die Konzertreihe abgeschafft werden. "'Die Kürzungen allein rechtfertigen einen so massiven Eingriff natürlich nicht', gibt selbst die Pressestelle des HKW zu: Es gehe um Prioritäten. Und da liegen der Intendanz ihre ein, zwei teuren Glanzpunkte im Jahr eben mehr am Herzen als der alltägliche Betrieb. Wobei böse Zungen behaupten, die Glanzpunkte seien nur deshalb so teuer, weil die Chefetage zur Vorbereitung stets monatelang um die Welt gondelt, um sich mit Kuratoren und Künstlern zu beraten. Bleibt die Frage, was im Haus der Kulturen der Welt zwischen den seltenen Großereignissen eigentlich noch stattfindet. Denn die Nutzungen durch das Medien-Festival 'Transmediale', geschlossene Tagungen oder den 'Talent Campus' der Berlinale entfalten keinerlei Außenwirkung für das Haus. Aber das müssen sie auch nicht: Es reicht völlig, wenn sie gehobenen Ansprüchen genügen und die Ruhe der Chefetage nicht weiter stören."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg denkt über den Erfolg der Moma-Ausstellung in Berlin nach. Cristina Nord hat in Venedig die Überführung der "Logik des Traums in die Logik des Kinos" erlebt: mit Takashi Miikes Film "Izo" und Hayao Miyazakis "Howls moving Castle".

In tazzwei findet Bettina Gaus die Fernsehberichterstattung über den Terror in Beslan "niederschmetternd", denn "der Informationsgehalt tendierte gegen null" und so verlangt sie "ein höheres Maß an Selbstreflexion, auch und gerade im Blick auf die eigene Rolle". Auf den Seiten von Meinung und Diskussion fragt sich Renee Zucker, warum in Indien "nicht diese furchtbare Dumpfheit, fade Depression, Langeweile und Meckerstimmung wie in Deutschland" vorherrscht.

Und nicht vergessen: Tom

NZZ, 08.09.2004

Hassan Dawud, Feuilletonchef der libanesischen Zeitung "Al-Mustaqbal", blickt so informativ wie pessimistisch auf den arabischen Buchmarkt und das Verlagswesen. Seine Hauptthese ist, dass man mangels eines echten intellektuellen Zentrums praktisch gar nicht mehr von einem Buchmarkt sprechen könne: "Es gibt kein zwingendes Bedürfnis mehr nach Büchern. Ein arabisches Buch aus einem bestimmten Land verlässt dieses Land praktisch nicht mehr und wandert jenseits seiner Grenzen bestenfalls durch die Hände einiger Intellektueller. Ich weiß nicht, ob es heute noch möglich wäre, dass eine neue künstlerische oder kulturelle Strömung eine solche Wirkung auf die arabische Kultur hätte, wie das zum Beispiel einst bei der irakischen Lyrik der Fall war, die Mitte der vierziger Jahre die arabische Poesie erneuerte. Wahrscheinlich kann man das gar nicht und von niemandem mehr erwarten."

Paul Jandl stellt den "Austrokoffer" vor, eine 18 Bände starke Box, die den Kanon österreichischer Nachkriegsliteratur bilden. Der Koffer, der auf der Homepage unter anderem mit dem Slogan "Das kleine Österreich ist eine kulturelle Großmacht" beworben wird, hat für Skepsis und Proteste unter Schriftstellern gesorgt: "Während der Wiener Ueberreuter-Verlag verzweifelt versucht, das Projekt doch noch durchzuziehen, gibt es gegen den fahrlässigen Dilettantismus, mit dem dieser österreichische Literaturkanon eingerichtet wird, genug Einwände. Einer der schlagendsten ist sein Name. Denn als 'Koffer' bezeichnet man in Österreichs Hauptstadt Menschen mit dezidiert geringen geistigen Kapazitäten. Friedrich Achleitner schreibt in seinem Brief an den Herausgeber: 'Ich habe einen befreundeten Rechtsanwalt gefragt, ob 'Austrokoffer' als Schimpfwort in Wien klagbar ist. Es ist.'"

Claudia Schwartz freut sich, dass dank des Vereins "Palast Zwischennutzung" die Subkultur Einzug in den Berliner Palast der Republik hält. Gemeldet wird, dass die Ermittler den Brandherd in der Anna-Amalia-Bibliothek festgestellt haben, die Brandursache bisher jedoch nicht.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des Fotografen Balthasar Burkhard im Kunstmuseum Bern sowie Bücher, darunter der gesammelte Briefwechsel zwischen Carl Zuckmayer und Bermann Fischer und die historische Studie "Deutsche Kriegsgreuel 1914" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.09.2004

Der tschetschenische Dichter - und zeitweilige Politiker - Apti Bisultanow spricht im Interview mit Sonja Zekri über das Geiseldrama von Beslan: "Ich lebe in der tschetschenischen Gemeinschaft, ich verfolge den Konflikt seit Jahrzehnten, aber nie im Leben hätte ich für möglich gehalten, dass Tschetschenen für die Unabhängigkeit ihres Volkes Kinder als Geisel nehmen. Andererseits: Wenn es je eine Grenze im tschetschenischen Gemetzel gegeben hat, denn das ist ja kein Krieg, sondern ein Schlachthaus, dann ist sie längst überschritten. Geblieben ist der Wahnsinn jener, die glauben, siegen zu müssen, aber nicht können, und jener, die nicht verlieren können." Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers sieht in dem Anschlag auf Kinder in der Schule einen gezielten "Akt der Entzivilisierung".

Weiteres: "Dresden leuchtet", ruft Ira Mazzoni verzückt über die Rückkehr des Grünen Gewölbes ins Dresdner Schloss: "Noch nie waren die Mirabilien so zum Greifen nah, noch nie schien gedrechseltes Elfenbein so zart, loderten Korallenzinken so feurig, wirkten in Birnbaumholz geschnitzte Reitergefechte so plastisch und Preziosen so funkelnd." Der Dirigent Christoph Spering erklärt im Interview mit Jörg Königsdorf, wie er es mit den Hits und Raritäten in der Alten Musik hält: "Der 'Messias' sichert mein materielles Überleben, die Entdeckungen mein geistiges." Thomas Thieringer prüft das neue schottische Parlament in Edinburgh. Rainer Gansera hat in Venedig Filme von Michael Radford, Todd Solondz und Kim Ki-duk gesehen. Und Werner Burckhardt gratuliert Christoph von Donanyi zum 75. Geburtstag.

Auf der Literaturseite liest Heinz Schlaffer Eduard Mörikes Gedichte "Um Mitternacht" und Henning Ahrens widmet sich in der Kolumne "Vom Satzbau" dem großen Verkünder der Sprache: dem Doppelpunkt.

Besprochen werden M. Night Shyamalans "elegante, so kunstvoll manipulative" Thriller-Studie "The Village", neue CDs von Baiba Skride, Christian Tetzlaff und Michal Korstick sowie Bücher, darunter D.H. Lawrence' erstmals auf Deutsch erschienener Roman "Aarons Stab" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).