Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2004. In der FAZ schreibt ein hoch erregter Frank Schirrmacher: Dieser "Untergang" war meisterhaft. In der taz staunt Diedrich Diedrichsen über Eichinger und andere "Machtmenschen, die sich für andere Machtmenschen interessieren". In der Welt prophezeit der Historiker Tony Judt, dass die Demokraten die amerikanischen Wahlen leider verlieren werden. In der SZ erklärt Georg Klein, warum warum so heikel ist.

FAZ, 15.09.2004

Bei Hitlers "Untergang" (mehr hier) kocht der Chef mal wieder selbst. Ein hoch erregter Frank Schirrmacher feiert den Film Bernd Eichingers und Oliver Hirschbiegels als Meisterwerk, unter anderem weil er zeige, was wir bisher nur scheinbar kannten: "Denn man hat zwar gewusst, dass alle im Bunker Versammelten - auch Traudl Junge und Albert Speer - Zeugen und Mitwisser eines Mordes an sechs Kindern wurden, aber verstanden hat man es nie. Keinem das Weiterleben zu gönnen, wenn man selbst tot ist - diese Hitlersche Finalthese durch den Mund einer Mutter ausgesprochen zu sehen, die im Begriff ist, ihre Kinder zu ermorden, das bringt den nachgeborenen Zuschauer an den Rand eingeübter Verstehensrituale."

Nils Minkmar porträtiert aus demselben Anlass Hitlers ehemalige Sekretärin Traudl Junge, auf deren Erinnerungen der Film zum Teil beruht: "Das ist auch ein wichtiger Aspekt des Buches: dass es nicht etwa ein Mitglied der sozialen Funktionseliten, kein Intellektueller, kein Mediziner, kein Richter oder kein Militär, war, der den Mut aufbrachte, uns Auskunft zu geben über die emotionale Intimität der Deutschen mit Hitler, sondern eine Schreibkraft."

Weitere Artikel: "M. H." glossiert den Umstand, dass in evangelischen Kirchen jetzt zu bargeldlosen Kollekten aufgerufen wird. Gemeldet wird, dass Sony für fünf Milliarden Dollar MGM kauft. Hannes Hintermeier beleuchtet die Hintergründe von Volker Neumanns vorzeitiger Entlassung von seinem Posten als Geschäftsführer der Frankfurter Buchmesse. Wolfgang Schneider resümiert eine Kasseler Tagung über den Naturforscher und Anthropologen Georg Forster. Timo John meldet, dass sich das Hotel eines Erlebnisparks in Rust einen Anbau in Form des römischen Colosseums gönnt. Matthias Oppermann resümiert die Jahrestagung der mit der Erforschung der deutsch-britischen Beziehungen befassten Prinz-Albert-Gesellschaft in Coburg, die sich mit "Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive" befasste. Wiebke Hüster besucht die "Biennale de la Danse" in Lyon, das größte europäische Tanzfestival mit glatten 162 Aufführungen. Andreas Rossmann wirft einen Blick auf das Programm des Bonner Beethovenfests, welches in diesem Jahr nach Böhmen schaut.

Auf der Medienseite empfiehlt Andreas Platthaus eine Dokumentation über Deutsche in Stalins Lagern, die heute auf Arte läuft.

Auf der letzten Seite erzählt Eva Menasse, ehemalige Wien-Kulturkorrespondentin dieser Zeitung, am Beispiel ihrer Datsche bei Berlin, "dass die Wende noch immer nicht abgeschlossen ist, in dem Sinn, dass endlich feststünde, wem was gehört und warum, und dass man sich darauf verlassen kann". Felicitas von Lovenberg zitiert aus den Ergebnissen einer Umfrage unter britischen Leserinnen über die besten Romane von Frauen. Und Christian Schwägerl stellt den Nanoforscher Wolfgang Heckl vor, der am 1. Oktober seinen neuen Posten als Generaldirektor des Deutschen Museums in München antritt.

Besprochen wird Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares "Othello" im Hamburger Schauspielhaus.

FR, 15.09.2004

Magnus Schlette würdigt die drei Ausgaben aus dem Oeuvre Alexander von Humboldts, mit denen Hans Magnus Enzensberger den zwanzigsten Geburtstag seiner Anderen Bibliothek feiert. Besprochen werden weiter eine frühe Erzählung des "wunderbar unzeitgemäßen" Johannes Kühn, zwei neu übersetzte Schriften von Petrarca, Gedichte von Gunnar Ekelöf, Anders Petersens wieder aufgelegter Bildband "Cafe Lehmitz" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr) und schließlich Stefan Puchers Inszenierung des "Othello" am Hamburger Schauspielhaus.

Berliner Zeitung, 15.09.2004

Anna Gründer, Mitarbeiterin einer Moskauer Organisation, die Flüchtlinge aus Tschetschenien betreut, skizziert in einem leider viel zu kurzen Text die Hintergründe des Tschetschenienkonflikts. Sie wendet sich vor allem gegen die Behauptung, der Terrorismus sei ein "Ausdruck tschetschenischen 'Volkszorns'. Die Kräfte, die sich hier bekriegen, hätten weder etwas mit Islamismus noch mit dem Freiheitswillen des Volkes zu tun, sondern mit dem Machtvakuum, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden sei. Den Tschetschenen müsse "wieder ein lebenswertes Leben innerhalb der Russischen Föderation ermöglicht werden." Das erfordere vor allem moralische und materielle Wiedergutmachung, doch werde diese "ohne die rechtsstaatliche Verfolgung der tatsächlichen Drahtzieher des Terrors kein Ende der Gewalt in Russland bewirken. Dabei müssen vor allem die inoffiziellen Patronageverhältnisse zwischen russischen Staatsorganen und tschetschenischen 'Rebellen' zerschlagen werden."

TAZ, 15.09.2004

Diedrich Diedrichsen, der den "Den Untergang" bespricht, hat kurz vor den Pressevorführungen einen "so seltsamen wie lesenswerten Text" in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gelesen: "Über zwei Seiten steigt dort eine Atmosphäre auf, die der grünlichen Gruselstimmung im Bunker nicht unähnlich ist. Wütend ergehen Befehle, leidenschaftlich wird ihnen widersprochen, sensibel werden gewichtige Deutungen wie 'Weltbürgerkrieg' souffliert: Bernd Eichinger, der Produzent und Drehbuchautor, und seine Ex, Corinna Harfouch, haben den FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in ihr Hauptquartier eingeladen und legen in schonungsloser Offenheit ihre politischen Dissense und künstlerischen Ambitionen auf den Tisch. Der Chef der Unterhaltungsindustrie und der Chef des Feuilletons, dazu die Großmimin bei der kleinen Lage. Es ist ein Treffen von Machtmenschen, die sich für andere Machtmenschen interessieren, und manchmal gruselts ihnen davor. Dann wieder fühlen sie sich, genau wie der Führer, der im Film mindestens fünf ausführliche Szenen lang gegen die Verräter belfert, von Feinden umzingelt: 'Viele, sehr viele Leute haben mir gesagt: Diesen Film darfst du nicht machen! Sie werden dich steinigen!'"

Weitere Artikel: Stefan Reinecke korrigiert das positive Bild, das "Der Untergang" von dem Arzt Günther Schenk entwirft. Niklas Halblützel hat dem Klavierwerk von Karlheinz Stockhausen bei den Berliner Festspielen gelauscht und fragt sich nun: "Wie konnte aus der radikalen, asketischen Moderne jener Darmstädter Ferienkurse der 50er-Jahre diese verwaschene, formlose, an musikalischen Gedanken verarmte Klangmalerei entstehen?"

Auf der Meinungsseite resümiert der Publizist Mathias Greffrath die Diskussion um Hartz IV und meint:" Am Rande der Produktivitätszonen mit ihren Kernbelegschaften wächst die 'Outer-Class', für deren Zukunft es drei Möglichkeiten gibt: alimentierte Subsistenz gekoppelt mit Alkoholismus, Glotze und Fettsucht und weitgehend sinnlosem staatlichem Arbeitszwang. Zweitens: demokratische Refeudalisierung. Oder eben, drittens, die große Lösung, die trotzig an zwei Jahrhunderte Freiheitserwartung der Arbeitsgesellschaft, an die Einsichten über das Ende des Wachstums, an die Programmatik der 'Humanisierung der Arbeit' und an die Verheißungen der Wissensgesellschaft anknüpft und eine Gesellschaft ins Visier nimmt, die ihre immer noch wachsende Produktivität in mehr Zeit statt in immer mehr Gadgets auszahlt - Hartz Null, die 28-Stundenwoche bei VW in den Neunzigerjahren, hat gezeigt, dass es geht."

Schließlich Tom.

Welt, 15.09.2004

Der britische Historiker Tony Judt versucht im Interview zu erklären, warum der Versuch der Demokraten, mit dem ehemaligen Vietnamkämpfer John Kerry die Wahlen zu gewinnen, schief gehen wird: "Die Demokraten haben sich verkalkuliert. Die Menschen wollen nicht das reale Kriegsheldentum Kerrys, sondern die falsche Lehnstuhlmännlichkeit (fake machismo) von Bush und Cheney. Die Leute fühlen sich unwohl, wenn Kerry ihnen mit seiner Intensität und moralischen Unschuld kommt. Man krümmt sich, so falsch klingt er. Und er merkt es nicht einmal. Warum Bush andererseits mit seinem (ungedienten) Super-Patriotismus durchkommt, weiß ich auch nicht recht. Warum niemand sagt: 'Moment mal, Du hast Dich gedrückt, Ashcroft erwirkte sieben Aufschübe, Cheney fünf: Wie könnt ihr es wagen?' Es scheint, dass Kerry zu wenig Gegenwart und zu viel Vergangenheit vorzuweisen hat."

NZZ, 15.09.2004

Michael Hampe hat die Tagung der Spinoza-Gesellschaft in Weimar besucht und einen Vortrag des Schriftstellers Robert Menasses gehört, der Spinozas Freidenkertum als passende Haltung gegen amerikanischen Imperialismus und die Globalisierung anpries und sich von solchem Spinozismus den Ausweg aus dem gegenwärtigen "Mittelalter mit Handy und Laptop" erhoffte. Aha.

Weiteres: Ulrich M. Schmidt sammelt Stimmen russischer Schriftsteller zum Thema Beslan; besonders markant der Kommentar des Schriftstellers Andrei Bitow, den er auf Anfragen bei der russischen Buchmesse gab: "Wie fühlen Sie sich denn, meine Herren, wenn man fliehenden Kindern in den Rücken schießt?" Jürgen Müller hat sich im wiedereröffneten Grünen Gewölbe in Dresden umgesehen und ist überwältigt von der "Kostbarkeit des Materials" der Sammlung.

Besprochen werden ein Konzert des Pianisten Maurizio Pollini beim Lucerne-Festival, eine Ausstellung des Malers Fernando Botero im kolumbianischen Nationalmuseum in Bogota sowie Bücher, darunter eine Studie über Schandbilder in der frühen Neuzeit, Reiseprosa von Hans Peter Hoffmann und das Buch "Mit Mythen leben" über die Bildwelt römischer Sarkophage (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.09.2004

In der hübschen Kolumne "Vom Satzbau" widmet sich heute der Schriftsteller Georg Klein den Kausalkonjunktionen, diesen Agenten der Grundes, die alle das gleiche Geschäft betreiben: "Sie stiften einen Zwangszusammenhang zwischen Dingen, die, ließe man ihnen Bewegungsfreiheit, in immer neue Beziehungen zueinander treten dürften: Warum lesen Sie diese Zeilen? Weil Sie sich für gebildet halten! Warum halten Sie sich für gebildet? Weil es Ihnen regelmäßig gelingt, mit den Versatzstücken Ihres Zufallswissens Staat zu machen! Warum haben Sie das in Ihrem Alter und in Ihrer Position immer noch nötig? Weil Ihr Vater Ihnen einst nicht genug Aufmerksamkeit gezollt hat! Warum in Gottesnamen hat Ihr Vater Ihnen nicht genügend ..."

Auch Tobias Kniebe bereitet uns auf den "Untergang" vor: "Vielleicht ist Eichinger wirklich der große Naive des deutschen Films. Was meistens, wenn es um Kino geht, ja ein Vorteil sein kann: Jemand, der eine große Erzählung in den Eingeweiden spürt. Der Untergang des 'Dritten Reichs' ist eine große Erzählung, keine Frage. Und Eichinger dachte wohl: Das zeigen wir jetzt exakt so, wie es wirklich war. Aber jeder Kamerawinkel, jedes Zusammenfügen zweier Einstellungen, jede Großaufnahme ist immer auch Wertung - anders hat Kino nie funktioniert. Und wenn ein Film einem tragischen Ende entgegengeht, transportiert er eine handfeste Ideologie: Dass es nämlich ein Schicksal gibt, das sich unerbittlich erfüllen muss, unabhängig vom Akteur der Geschichte. Das klassische Genre hierfür ist übrigens das Melodram. Es war, aus naheliegenden Gründen, ein Lieblingsgenre der Nazis."

Weiteres: Thomas Urban sammelt polnische Reaktion auf den Beschluss des Sejm, Reparationen von Deutschland zu verlangen. Diese reichen von Kopfschütteln bis zu einem Kommentar in der bürgerlichen Rzeczpospolita: "Als Pole ziehe ich es vor, wenn die deutsche Politik Geisel der polnischen ist, und nicht die polnische zum Gefangenen der deutschen wird." Thomas Steinfeld lächelt müde über den Versuch der Münchner Universitäten, sich als University of Munich mit verschiedenen Schools in die internationale Spitzenliga zu katapultieren. Alexander Kissler berichtet, dass für Anfang Oktober in Berlin ein arabisch-islamischer Kongress geplant ist, dessen Ziel nach eigener Darstellung die Gründung einer Widerstandsbewegung gegen den "amerikanischen und zionistischen Nazismus" ist. Verbieten kann mann das offenbar nicht. Der Ägyptologe Jan Assmann verteidigt seine Thesen zu Entstehung und Folgen des Monotheismus. Petra Steinberger sieht mit gewohntem Weitblick das amerikanische Militär im Wahlkampf vereinnahmt. Jürgen Otten hat sich mit großer Heiterkeit sämtliche siebzehn Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen angehört. Fritz Göttler hat sich in London Daniel Libeskinds Lieblingsfilme angesehen.

Besprochen werden die Berliner Ausstellung "Schwarze Götter im Exil" des Fotografen Pierre Verger (mehr hier), der Auftakt der Frankfurter Theatersaison und Bücher, darunter das Humboldt-Projekt der Anderen Bibliothek und Lojze Kovacic' Chronik "Die Zugereisten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).