Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2004. In der Zeit erklärt der tunesische Autor Abdelwahab Meddeb die Ironie zum Mittel der Versöhnung zwischen den Kulturen. Die NZZ geißelt die neoarchaische Sitte der "Shame sanctions" in den USA. Die SZ findet unser dreigliedriges Schulsystem ungerecht. Die taz staunt: Acht der zehn erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten stammen aus den letzten 18 Monaten und wurden von Amerikanern gemacht.

Zeit, 16.09.2004

Im Literaturteil prophezeit der französisch-tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb in einem langen Interview eine heterogene Welt, mit vielen Zentren und gemischten Identitäten - "dies gilt es, auch den Amerikanern zu vermitteln" -, kurz: eine "Durchdringung der Kulturen". Auch zwischen islamischer Tradition und europäischer Moderne gibt es für ihn keine unüberbrückbaren Gegensätze: "Die moderne Ironie, die für meine Gedichte zentral ist, bricht und wahrt die tradierten Bedeutungen. Wie soll man heute, nach Rilke von Engeln sprechen? Der Glaube an Gott ist durch den Nihilismus ersetzt, der Mensch steht nicht mehr im Zentrum, die Erde dreht sich um die Sonne. Aber ein poetischer Text der Gegenwart kann den Körper entdecken, kann ein Seismograph der Gefühle und Erfahrungen sein, das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem bestimmen. Dabei kann das Gedicht aufnehmen, was ihn in der Tradition vorhergeht, kann die Engel mit den Augen Ibn Arabis oder Giottos sehen und mit den Engeln der heutigen Neonwerbung verbinden."

Im Aufmacher des Feuilletons äußern sich acht Künstler zum Streit um die Flick-Sammlung. "Ich konnte das am Ende gar nicht mehr lesen, den Brief der Schwester und all das, was die westdeutschen Gesinnungspolizisten geschrieben haben. Die wollen mit ihrer Moralkeule die Ausstellung niedermachen, nur damit sie sich selbst als die besseren Menschen fühlen können", erklärt Thomas Schütte.
Marcel Odenbach dagegen meint: "Was mir an der Debatte vor allem missfällt, ist das Schweigen der Künstler. Es ist ja stark in Mode, kritische Kunst zu machen. Wenn es aber mal darum geht, dass nicht nur die Kunst, sondern auch der Künstler kritisch sein sollte, ist von kaum jemandem etwas zu vernehmen." Außerdem schreiben Gerhard Richter, Hans Haacke, Wolfgang Tillmans, Luc Tuymans und Thomas Struth.

In der Leitglosse wünscht sich Jens Jessen, dass der Bundeskanzler bei der Eröffnung der Flick-Sammlung eine Rede hält, die "eine beachtliche Wucht entfaltet, um der satten Zufriedenheit, die schon jetzt aus dem Programmheft tropft, jede Nährlösung zu entziehen".

Weitere Artikel: Rainer Frenkel untersucht die Verhältnisse beim Spiegel, nachdem durch eine Entscheidung des Bundeskartellamts die Erben ihr Vetorecht verloren haben. Die Verlautbarungen von Gruner und Jahr - "es gebe nichts zu sagen, die Verhältnisse seien schließlich geklärt" - lassen seiner Ansicht nach keine Beruhigung über die Unabhängigkeit des Magazins aufkommen. Volker Müller berichtet über das schwierige Vorhaben, die Stiftung Weimarer Klassik zu reformieren. Claus Spahn hat beobachtet, wie Pierre Boulez bei seinen Meisterkurse für neue Musik in Luzern unnachgiebig auf Elementarübungen bestand. Georg Seeßlen fragt sich nach Sichtung der neuen Filme über die NS-Zeit: "Versteht man die Hitlerei besser, wenn man dem Hitlermann hautnah kommt? Erweist man dem Opfer einen Dienst, indem man es als Einzelnen beschreibt und seinen faschistischen Gegenspieler als terroristisch verunglücktes Spiegelbild?" Hanno Rauterberg stellt Reformideen auf der Architekturbiennale in Venedig vor. Katja Nicodemus resümiert die Filmfestspiele in Venedig ("Wie überhaupt in den letzten Jahren stellten sich auch in Venedig allein die asiatischen Filme der Erkenntnis, dass die Bilder Freiheit brauchen."). Heinz Peter Schwerfel porträtiert die Künstlerin Sophie Calle, der zur Zeit eine Ausstellung im Berliner Martin Gropius Bau gewidmet ist.

Besprochen werden Roland Schimmelpfennigs Stück "Die Frau von früher" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter Ralph Rothmanns Roman "Junges Licht" und Ian Burumas Reportageband über "Chinas Rebellen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem: Im Leben lesen wir einen Zwischenruf von Thomas Ostermeier: In den Neunzigern hatte die Jugend immer Recht. Jetzt sind wieder die Alten gefragt. Beides führt in die Irre, resümiert die Unterzeile. Im Dossier porträtiert Stephan Lebert den SPD-Chef Franz Müntefering.

NZZ, 16.09.2004

Der amerikanische Kulturanthropologe Carlo Carduff prangert die Renaissance des Prangers in den USA an. Immer häufiger verhängen Richter bei Vergehen sogenannte "shame sanctions": eine öffentliche Beschämung. "Wer in Florida sich angetrunken ans Steuer setzt und dabei von den Ordnungshütern erwischt wird, muss einen einschlägigen Aufkleber auf seinen Wagen heften. In Hoboken, New Jersey, wurden Geschäftsleute, die nach üppigem Mahl in angetrunkenem Zustand öffentlich urinierten, vom Richter dazu verurteilt, die betreffende Straße mit der Zahnbürste zu reinigen. In San Francisco ordnete ein Richter kürzlich an, dass Shawn G. als Teil ihrer Rehabilitation während einiger Stunden mit einem Schild vor der Post zu posieren hat, worauf in großen Lettern geschrieben steht: 'Ich habe Post gestohlen. Dies ist meine Strafe.'"

Weiteres: Julian Weber stellt den kalifornischen Hip-Hop-Produzenten und DJ Otis Jackson Jr. alias Madlib vor ("Beim Musikmachen habe ich kein Publikum vor Augen, da stelle ich mir vor, wie ich im Weltraum spazieren gehe.) Stefan Hentz rühmt den norwegischen Jazzpianisten Jon Balke, der ganz zu Unrecht als Geheimtipp gelte.

Besprochen werden Jean-Jacques Annauds Kolonialsatire "Zwei Brüder" und Bücher, darunter Sepp Malls Zeitroman "Wundränder" und Silvio Blatter Roman "Zwölf Sekunden Stille" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 16.09.2004

"Unser dreigliedriges Schulsystem nebst Gesamtschulen ist ungerecht", schreibt Jens Bisky - angeregt von Krista Sagers Forderung nach einer Reform des Schulsystems. "Zu den Ärgernissen, die dank der PISA-Studie endlich zur Kenntnis genommen worden sind, gehörte doch vor allem, dass in Deutschland die Herkunft über Bildungschancen und Karrieren entscheidet. Der Aufstieg durch Bildung ist in den vergangenen dreißig Jahren zu einer Ausnahmeerscheinung geworden. Für die Atmosphäre im Land und für den Zustand der Eliten hatte und hat das verhängnisvolle Folgen."

Weiteres: Ijoma Mangold bedauert, dass sich der Börsenverein des deutschen Buchhandels von Volker Neumann als Buchmessen-Chef getrennt hat. Andrian Kreye beschreibt anhand der ausbleibenden Wirkung von Seymour Hershs Enthüllungsbuch "Chain of Command - The Road from 9/11 to Abu Ghraib" (hier ein langer Auszug aus dem New Yorker) Ohnmacht und Verzweifelung weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung, deren Kritik an der Politik der Bush-Administration aus seiner Sicht ungehört bleibt. Frank Arnold hat mit dem mexikanischen Regisseur Guillermo del Toro über dessen Comic-Verfilmung "Hellboy" gesprochen, für dessen Realisation del Toro das Angebot ausgeschlagen hat, einen Harry-Potter-Roman zu verfilmen.

Der Linux-Experte Michael Koffler erklärt im Interview, warum es "für die Menschheit besser wäre, wenn es keine Softwarepatente gäbe". Andrian Kreye schreibt über die amerikanische Historikerin Gertrude Himmelfarb und ihr neues, noch nicht auf Deutsch vorliegendes Buch "A Road to Modernity" (langer Auszug), das seinen Informationen zufolge unter anderem das Misstrauen Amerikas gegenüber dem "alten Europa" erläutert und die Urheberschaft der Aufklärung bei angelsächsischen Denkern ansiedelt. "midt" befürchtet, dass nach einem möglichen Verbot der Fuchsjagd in England britische Erblords als bedrohte Rasse unter den Tierschutz fallen werden.

Besprochen werden die Filmreihe "Die Utopie Film" im Wiener Filmmuseum, Thomas Grubes und Enrique Sanchez Lanschs Simon-Rattle-Film "Rhythm is it", Howard Deutchs Film "The Whole Ten Yards", Katja Czellniks Inszenierung des "Boris Gudonow" an der Baseler Oper, eine Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, die der Frage "Wer sind die Bajuwaren?" nachgeht, und Bücher, darunter Barbara Sichtermanns und Claus Leggewies Adoptionsbuch "Das Wunschkind" und William Gibsons neuer Roman "Mustererkennung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau)

FR, 16.09.2004

Carsten Ruhl stellt den japanischen Architekten Tadao Ando und dessen Bau für die Fondation Langen bei Neuss vor. Ulrich Speck fasst noch einmal die Kontroverse um die Etablierung der Kunstsammlung Friedrich Christian Flicks in Berlin zusammen. Und Christian Schröder befasst sich kolumnistisch mit Volker Neumanns Ablösung als Chef der Frankfurter Buchmesse ("irritierend").

Eine einsame Buchbesprechung gilt Andreas Schwabs "Monte Verita - Sanatorium der Sehnsucht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 16.09.2004

"Dass acht der zehn erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten aus den letzten 18 Monaten stammen, von Amerikanern gemacht wurden und alle politische Inhalte haben", schreibt Sven von Reden vom American Filmfestival im französischen Deauville, "hängt auch damit zusammen, dass den Liberalen und Linken die Wege in die amerikanischen Mainstream-Medien weitgehend versperrt sind: Die lokalen Zeitungen werden von konservativen Konzernen beherrscht, das Radio ist in der Hand von einem Rechtsaußen wie Rush Limbaugh, im Fernsehen setzt Rupert Murdochs 'Fox News' die Standards. Die liberale Hälfte der US-Öffentlichkeit dürstet nach alternativen Informationen - und bekommt sie ausgerechnet im Kino."

"Die Bilder hängen schon", schreibt Robin Alexander vor der Eröffnung der Flick-Sammlung am 22. September in einem Report, der noch einmal rekonstruiert, wie Friedrich Christian Flick mit maßgeblicher Hilfe rot-grüner Politiker seine Sammlung in Berlin installieren konnte.

Weiteres: Rolf Lautenschläger hat sich für die tazzwei auf der Architekturbiennale in Venedig umgesehen und stellt fest: "Nicht nur die bauliche Realität, sondern auch eine Vielzahl junger Architekten hat sich in Venedig vom Architektur-Zirkus des Großen und der Stars verabschiedet." Gerrit Bartels setzt sich kritisch mit Volker Neumanns Rauswurf als Buchmessen-Chef auseinander.

Besprochen werden Guillermo del Toros Comicverfilmung "Hellboy" und Jean-Jacques Annauds Film "Zwei Brüder".

Und Tom.

FAZ, 16.09.2004

Pünktlich zum Erscheinen seiner viel gefeierten Humboldt-Edition hat Hans-Magnus Enzensberger einen lehrhaften Dialog zwischen seinem Helden und dem Pariser Kollegen Francois Arago verfasst, der gestern in Berlin uraufgeführt und nun der FAZ zum ganzseitigen Abdruck übergeben wurde. Humboldt sagt darin gegen den unter Napoleon entstehenden deutschen Nationalismus und gegen Berlin: "Sogar mein Bruder meint, es fehle mir an 'Deutschheit', was immer das heißen mag. Aber ich finde, dass es nicht schade ist um unser Ancien regime. Wer wird all diesen lächerlichen Duodezfürstentümern nachtrauern, die uns zum Gespött Europas gemacht haben! Und im übrigen, ich gesteh' es dir gerne, bin ich lieber hier in Paris als in der Berliner Sandwüste. Du kannst dir nicht vorstellen, wie bigott und beschränkt die Leute sind, die dort das Sagen haben. Diese Monotonie, diese sumpfartige Stille! Einen Freund wie dich hätte ich in Berlin nie und nimmer gefunden."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko besucht die venezianische Architekturbiennale über meta- und biomorphe Architektur (wie wir erfahren müssen, werden dort sogar Modelle von Bauten präsentiert, die sich "wie zerkeilte Drusen aus den Steinfronten der Pariser Boulevards" recken). Jürgen Kaube hält in der Leitglosse die neuesten OECD-Zahlen, die das deutsche Bildungssystem mal wieder in schlechtes Licht stellen, nicht für so überaus belangvoll. Wolfgang Sandner schildert in einem Artikel über das Lucerne Festival mitreißend und bewegt, wie unter Pollinis Händen Chopins Nocturne op. 32, Nr. 1 von H-Dur nach dis-moll rückt und dann nicht mehr davon weg will. Gemeldet wird, dass Frank Schirrmacher, Herausgeber dieser Zeitung, für seinen "Methusalem-Komplott" einen der Corine-Bücherpreise bekommt. Jordan Mejias hat beim Festival von Toronto internationale Reaktionen auf den Film "Der Untergang" eingeholt, die erwartungsgemäß ("Weltereignis", "So muss es gewesen sein") ausfielen. Andreas Kilb schreibt zum Achtzigsten von Lauren Bacall. Eleonore Büning schildert das "Wunder von Treptow" in dem Film "Rhythm Is It", der Sir Simon und die Phillis bei wider Erwarten äußerst erfolgreicher Arbeit mit Kindern aus benachteiligten Schichten zeigt. Andreas Rossmann besucht ein neu eröffnetes Museum für Max Ernst in seiner Herkunftsstadt Brühl.

Jürg Altwegg berichtet über einen dramatischen Appell des französischen Gesundheitsministers Philippe Douste-Blazy zur Bekämpfung der epidemisch um sich greifenden Alzheimer-Krankheit. Christian Schwägerl schildert eine offensichtlich etwas surreal verlaufene Begegnung mit dem Science-Fiction-Autor Bruce Sterling in Berlin. Kerstin Holm besucht das Kunstmuseum der Stadt Rybinsk am Ufer der Wolga.

Auf der Kinoseite stellt Andreas Kilb richtig, dass bereits Georg Wihelm Pabst 1955 einen Film über den "Untergang" gedreht hat. Der Film hieß "Der letzte Akt", aber das Publikum war noch nicht reif. Bert Rebhandl hat sich eine Reihe über Utopie im Film in Wien angesehen. Und Michael Althen gratuliert dem Kameramann Raoul Coutard zum Achtzigsten

Die Medienseite widmet sich fast ganz der jüngsten von den Privatsendern durchs Dorf gejagten Sau - Serien über und Live-Übertragungen von Schönheitsoperation an Brust und Nase. Michael Hanfeld berichtet außerdem, dass die ARD mit einem Gebührenerlass (allerdings nicht für die Zuschauer) rechnet, der ab nächstem Jahr wieder ein vernünftiges Wirtschaften im Sinne verantwortlicher Fernsehmacher ermöglicht.

Für die letzte Seite schickt Dietmar Dath Wahlkampfnotizen aus der amerikanischen Provinz. Manfred Funke macht gelehrte Anmerkungen über die Ende des 18. Jahrhunderts erschienene Schrift "Dya-Na-Sore" von Friedrich Wilhelm von Meyern, die Arno Schmidt einst zu zahlreichen Funkdialogen inspirierte. Und Christian Geyer schreibt eine kleine Hommage auf den Gesellschaftsanalytiker Meinhard Miegel, der die Debatte über Horst Köhlers Ost-West-Bemerkungen im Gespräch mit ihm, Geyer, als Scheindebatte entlarvte.