Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2004. Popkomm in Berlin, alle streiten über die Radioquote: die Musiker (Ulla Meinecke in der taz, Smudo in der Welt) sind dafür, die Journalisten dagegen. Die FAZ beschreibt den dramatischen Konkurrenzkampf französischer Zeitungen. Die FR fürchtet um die arabischen Vertreter der Zivilgesellschaft.

TAZ, 29.09.2004

Die Musikerin Ulla Meinecke fordert die Radio-Quote für die deutsche Popmusik: "Das Publikum braucht die Quote - allein, um entscheiden zu können. Der Nachwuchs braucht sie auch. Denn bieten sie deutsche Songs an, heißt es meist von den Firmen, mit ihnen sei nicht zu arbeiten, weil in den Medien keine Plattform für sie existiere. Ein Effekt, der kreatives Potential zerstört und einen Teil unserer Kultur, die eben nicht allein aus Museen, Opern und Staatstheatern besteht." Gegen die Quote wie auch gegen aktuelle Diskussionen, den Schutz der Kultur als Staatsziel festzuschreiben, polemisiert hingegen Dirk Knipphals: "Wenn Kulturschutz erst Staatsziel ist, warum dann bei einer Quote für deutsche Popmusik aufhören? Warum dann keine Quote für deutsche Literatur, für bildende Kunst aus Deutschland, für deutsches Theater, für deutsche Hitler-Filme?"

Zur heute beginnenden Popkomm in Berlin hat die taz ein Spezial beiliegen.

Im Kulturteil berichtet der Dokumentarfilmer Errol Morris im Interview über die Strategien in "Fog of War", seinem Film über den ehemaligen US-Verteidigungsminister Robert McNamara: "Mir war es wichtig, McNamara nicht zu konfrontieren, denn dann erfährt man nichts über einen Menschen." Groß und hymnisch bespricht Jochen Förster den neuen Roman von Jonathan Lethem, "Die Festung der Einsamkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Berliner Zeitung, 29.09.2004

"Dieses Land braucht keine Quote", behauptet Jens Balzer nach einem Blick in die aktuellen LP-Charts: "Von den zehn in Deutschland meistverkauften LPs kommen in dieser Woche acht aus Deutschland; wenn die soeben veröffentlichten neuen Alben von den Fantastischen Vier und von Rammstein in der nächsten Woche in den Charts notiert werden, sind es aller Voraussicht nach zehn von zehn."

Arno Widmann freut sich in seinem "Unterwegs" auf das Literaturfestival in Berlin - vor allem auf Les Murray, auf Wolf Biermanns Übersetzung der Shakespeare-Sonette, auf Lesungen mit Rolf Hochhuth und Eliot Weinberger, auf ein Gespräch mit Volker Schlöndorff über dessen Literaturverfilmungen und auf den Sinologen Wolfgang Kubin, der aus seinem Lyrikband vorliest.

Tagesspiegel, 29.09.2004

Auch Diedrich Diederichsen ist gegen die Quote: "Zur Popmusik gehört, dass die Eleganz stets da ist, wo ich etwas von außen wahrnehme und idealisiere. Die Dinge flutschen nur, wenn ich nicht sehe, welches Elend ihnen zugrunde liegt. Der Blick auf eine Pop-Produktion als Ganzes, als 'die Kultur' eines Landes, subsumiert die realen Schwierigkeiten, die Vielfalt und das Hässliche unter so einer Projektion. Projektionen sind produktiv für Fans und Musiker, aber nicht für die Politik. Alle Vorstellungen von coolen Staaten, Gebieten oder Städten verdanken sich externen Blicken. Das gilt auch, wenn es sich um Bemühungen handelt, die vom Territorium der BRD ausgehen - vom Krautrock bis zum Cologne-Sound. Alles Erfindungen von Engländern und Amerikanern, die auf das deutsche Selbstverständnis zurückstrahlen."

Welt, 29.09.2004

In der Welt erklärt Michael Bernd Schmidt, besser bekannt als Smudo von den Fantastischen Vier, warum er für eine deutsche Rundfunkquote ist: "Gerade die öffentlich-rechtlichen Sender haben einen Kulturauftrag zu erfüllen, dem sie nicht nachkommen. Es wäre schön, wenn das auf freiwilliger Basis möglich wäre. Aber in den neunziger Jahren verhallte der Aufruf der Bundesregierung, sich mehr um regionale Musik zu kümmern, ungehört. Die Situation ist derart trostlos, dass ich mich, obwohl ein Freund des freien Marktes, tatsächlich genötigt sehe, mich für eine Quotenregelung zu engagieren. Es geht nicht um Bevorzugung, sondern um Chancengleichheit gegenüber einem globalisierten Radio-Hintergrund-Rauschen. Musik ist nicht nur an Töne, sondern auch an einen kulturellen Kontext gebunden. Helfen wir, dem Musikkonsumenten, eine vielfältige Musiklandschaft vor seiner Haustür zu entdecken? Oder machen wir das Musikprogramm vom Marktstärksten abhängig? Ich erhoffe mir von der Quote Vielseitigkeit und eine Abkehr vom industriegesteuerten Einheitsbrei."

FR, 29.09.2004

Martin Lüders macht sich anlässlich des Arabien-Schwerpunkts der Buchmesse Gedanken über die liberalen Teile der arabischen Gesellschaften: "Die aufgeklärten und gemäßigten Araber, die zahlenmäßig schwachen, aber wirkungsmächtigen Vertreter der Zivilgesellschaft müssen sich einrichten zwischen dem Hammer westlicher Hegemonie und dem Amboss repressiver Verhältnisse in ihren jeweiligen Ländern. Oft genug werden sie dabei zerrieben. Sehr zur Freude gewaltbereiter Islamisten, die spätestens Mitte der Neunziger ihren Zenit überschritten hatten, seit dem Irak-Krieg aber eine ungeahnte Renaissance erleben, wie die immer zahlreicher werdenden Terroranschläge weltweit bezeugen."

Abgedruckt wird Ulla Unseld-Berkewicz' Laudatio auf den ersten Träger des Siegfried-Unseld-Preises, Peter Handke, in der man Dinge wie diese erfährt: "Schon kurz darauf wart ihr zum Du übergegangen, und Siegfried Unseld schrieb am 12. Dezember 1967: 'Ich habe an Deinem 25. Geburtstag doch sehr herzlich an Dich gedacht. Was hast Du noch vor Dir! Ich habe ja demgegenüber einen Teil der Wegstrecke doch schon hinter mich gebracht.'"

Weitere Artikel: Gunnar Luetzow stellt den "Shooting Star am Brit-Hop-Breakbeat-Himmel" vor: Dizzie Rascal. In Teil 10 der Reihe über Wahlkampf in den USA hat Helmut Müller-Sievers nichts Freundliches über Donald Rumsfeld zu sagen: "Bei Rumsfeld hingegen betritt man eine Ebene der frei schwebenden Agressivität, die durch keine Grundsätze und keine besondere Kompetenz gebunden wird." In der Kolumne Times mager berichtet Louise Brown von einer Londoner Ausstellung deutscher Kunst mit dem Titel "Heimweh - Young German Art".

Besprochen werden der neue Roman von John von Düffel und ein Band mit New-York-Bildern von Touhami Ennadre (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 29.09.2004

Dirk Peitz schreibt über den Stand der Dinge im Pop, zu Beginn der ersten Berliner Popkomm: "Wo der Markt selbst versagt, wird Pop unversehens zur staatlich protektionierten Subventionskultur, die nur vage Hoffnungen auf Exporterfolge verspricht -- und zur funkigen nationalen Repräsentationskultur, als die Pop zweifellos nie gedacht war. Auch wenn die Gründe andere sind, die zu dieser Situation führten: Dem Pop ergeht es in seiner anhaltenden Krise nun eben auch ähnlich wie all den anderen, sich nur zum Teil selbstfinanzierenden Kunstformen. Wo das Geld fehlt, ist das schützende Dach der öffentlichen Hand mit einem Mal sehr willkommen."

Weitere Artikel: Im Interview äußert sich Denzel Washington über seine beiden neuen Filme "Man on Fire" und "The Manchurian Candidate" und über seine Schauspielkünste: "Das ist mein Job. Ich will nicht angeben, aber ich wurde eben mit diesem Talent gesegnet". Aus den USA berichtet Petra Steinberger über die dort angesichts beträchtlicher Soldatenknappheit neu aufgeflammte Diskussion über die allgemeine Wehrpflicht. Wer die allerdings will, das ist so einfach nicht zu sagen. Alexander Kissler stellt den Historiker Hubert Wolf vor, der vor allem über "Inquisition und Buchzensur" arbeitet und jetzt den Communicator-Preis erhält. Ein Porträt des Komponisten Valentin Silvestrov hat Jürgen Otten verfasst.

Außerdem: "RJB" schreibt eine Glosse über gedopte Musiker. Jürgen Berger war auf dem Mannheimer Theater-Festival "Wunder der Prärie". Über die "De-Boer"-Sammlung falscher und gefälschter Bilder, die heute - nicht zum ersten Mal - die "Enthüllung des Jahrhunderts" verspricht, informiert Stefan Koldehoff. Gottfried Knapp berichtet über eine in der nähe des Olympiageländes geplante Architekturgrausamkeit.

Besprochen werden Pedro Almodovars neuen Film "Schlechte Erziehung" ("ein schwarzer Film, ein komplexer Film, eine einfache Geschichte", schreibt Fritz Göttler), die deutsche Erstaufführung des Robert Wilson/Philip Glass-Projekts "The Civil Wars" in Freiburg: Heinz W. Koch staunt, auch wenn er nicht alles verstanden hat. Im Literaturteil gibt es unter anderem Rezensionen zu kleiner Prosa von Peter Nadas, einem Band von Georg Stefan Troller und einem Buch über "Fische in Seenot" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 29.09.2004

Sieglinde Geisel stellt Projekte zur Leseförderung nach dem PISA-Schock vor: "Das internationale Literaturfestival Berlin, das noch bis zum 2. Oktober läuft, widmet den jungen Lesern eine eigene Programmsparte mit 17 internationalen Autoren; neben Lesungen gibt es auch Schreib- und Illustrationswerkstätten. Trotz der Konjunktur der Leseförderung sei es nicht unbedingt einfacher geworden, Gelder für diesen Programmteil aufzutreiben, bedauert Miriam Möllers. In der Projektwelle nach PISA spielt die unmittelbare Autorenbegegnung erst eine untergeordnete Rolle. Die Nachfrage der Schulen ist riesig, wie das Berliner Festival zeigt: Wäre das Geld dafür da, könnte sie dreimal so viele Autoren einladen, meint Möllers."

Weitere Artikel: Joachim Güntner stellt das Zentrum für Erinnerungsforschung vor, das heute in Essen eröffnet wird. Besprochen werden die Ausstellung "Glamour" im Museum of Modern Art in San Francisco, Alessandro Bariccos szenische Lesung der "Ilias" in Rom und Bücher über den Warschauer Aufstand (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.09.2004

Jürg Altwegg berichtet auf der Medienseite über einen dramatischen Konkurrenzkampf der französischen Zeitungen. Es geht ums schiere Überleben. Le Monde hat sich mit der Übernahme der Telerama-Gruppe, der aufwändigen Farbbeilage Le Monde 2 und dem Versuch, mit DVDs Geld zu verdienen, verspekuliert: "Die Redakteure drohen, Direktor Jean-Marie Colombani 2006 nicht mehr zu wählen." Chefredakteur Edwy Plenel will deshalb aus der Mittags erscheinenden Le Monde "generell eine Morgenzeitung machen. Für die Auflage wäre das gut. Im Bereich des Drucks aber gibt es gewaltige Hindernisse. Die Umstellung würde dem Konkurrenzblatt Liberation umgehend jene zehn- oder zwanzigtausend Käufer kosten, ohne die das Blatt wohl nicht mehr überlebensfähig ist."

Ebenfalls auf der Medienseite meldet kho. in einem viel zu kurzen Artikel, dass der staatlich kontrollierte russische Fernsehsender NTW in einem "drohend andeutungsreichen 'Dokumentarfilm' zum Thema 'Terrorismusfinanzierung' ... den inhaftierten Ölmilliardär Chodorkowski mit dem tschetschenischen Terrornetz in Verbindung gebracht" hat. Ein Kommentator der Zeitung gazeta nannte den Film "das bisher schäbigste und schändlichste Stück Einschüchterungspropaganda auf russischen Bildschirmen", berichtet kho.

Im Feuilleton erklärt Oliver Tolmein, warum die von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) "geforderte Anregung, Spätabtreibungen 'in der Regel' auf Fälle 'schwerster unbehandelbarer Krankheiten' beim Fötus zu begrenzen" letztlich auf eine "Wiedereinführung der mit guten Gründen als eugenisch kritisierten und abgeschafften embryopathischen Indikation" hinausläuft. Jordan Meijas erzählt, wie die New York Times die Flick-Collection beurteilt (lesen können Sie das auch hier). Tw. erzählt kurz, wie der Künstler Rudolf Herz Lenin auf Tour schickt - es handelt sich dabei um ein "mobiles Denkmal", das Herz aus den Resten des abgerissenen Dresdner Lenindenkmals von Grigorij Jastrebenetskij zusammengesetzt hat.

Auf der letzten Seite gratuliert Manfred Lindinger dem Mekka der Teilchenphysiker, dem Genfer Cern, zum Fünfzigsten. Kerstin Holm porträtiert die Moskauer Geigerin Tatjana Grindenko. Und Zhou Derong schildert auf knapp siebzig anschaulichen Zeilen den Konkurrenzkampf zwischen Peking und Schanghai.

Besprochen werden "Cloaca", Maria Goos' Theaterstück über "das witzige Beziehungsgeflecht zwischen vier Ego-Männchen", mit dem Kevin Spacey seine Intendanz am Londoner Old Vic eröffnet hat, eine Dali-Ausstellung im venezianischen Palazzo Grassi, eine Ausstellung der Collagen von Wolfgang Petrovsky in der Galerie am Ratswall in Bitterfeld, Jane Campions Thriller "In the Cut" und die "ehrenvoll gescheiterte" Aufführung von Giacomo Meyerbeers Oper "Prophet" in Münster.