Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2004. In der Welt wünscht Franzobel der Literaturnobelpreisträgerin, dass sie sich nun nicht totumarmen lässt. Die SZ macht Front gegen Bush mit Noam Chomsky und Samuel Huntington. Die SZ besucht Anselm Kiefer in seiner Ermitage. Die taz porträtiert den Theaterautor Tom Peuckert, und Jan-Philipp Reemtsma definiert den Terorismus.

TAZ, 16.10.2004

Zwei Porträts: Dorothea Marcus stellt den Theaterautor Tom Peuckert vor: "Es ist nicht einfach, Tom Peuckert zu treffen. Er ist kein Mann der Technik, seine Mailbox hört er selten ab, er wandert lieber im Erzgebirge. Ein Intellektueller mit scharf geschnittenem Gesicht, Adlernase und weißem Hemd, wie aus einer anderen Zeit gesprungen." Und Peter Ortmann porträtiert das mit dem Nam-June-Paik-Preis ausgezeichnete Künstlerduo Angela Detanico und Rafael Lain. Niklaus Hablützel war in der Staatsoper Berlin und hat die Inszenierung mit Stücken von Toru Takemitsu nicht gerade genossen. Dieter Kammerer bespricht Fernando Solanas' Film "Memoria del saqueo - Chronik einer Plünderung".

Für die tazzwei hat sich Susanne Lang mit der Politikberaterin Susanne Fengler unterhalten, über ihre Arbeit für die CDU und über Sprechblasen: "Das hat etwas von Schizophrenie: Einerseits weiß man, dass Zuspitzungen nicht weiterführen, andererseits ahnt man, dass differenzierte Formulierungen im öffentlichen Diskurs nicht mehr durchdringen. Weil ja auch der Gegner Positionen sehr verkürzt wiedergibt oder angreift. Und weil die Medien zuspitzen." Reiner Metzger versichert, dass auch mit den Opel- und Karstadt-Katastrophen das Ende Deutschlands nicht angebrochen ist. Henning Kober ist immer noch in New York und immer noch auf der Suche nach Prunksters.

Im taz mag gibt es ein langes Gespräch mit Jan-Philipp Reemtsma über die RAF. Reemtsma wendet sich gegen jede Form von Sympathie mit den Terroristen: "Man darf nicht vergessen, auf welch kläglichem Niveau die politischen Aussagen der RAF waren. Was ich vorschlage, ist: Lassen wir, auch mit Blick auf den 11. 9., die Idee beiseite, dass wir es mit einer Gruppe von Idealisten zu tun haben, die von den Umständen zu etwas gezwungen werden. Ich schlage vor, die Gruppen als Gebilde zu betrachten, das sich eine Identität zuschreibt, die es handelnd verfestigt, und zwar dadurch, dass es Menschen tötet." Peter Schanz ist ein letztes Mal unterwegs mit der deutschen Binnenschiffahrt, diesmal auf der Havel. Kurt F. de Swaaf schreibt eine Hymne auf den Kohl (das Gemüse).

Rezensionen: Ausführlich bespricht Jörg Becker die nun erschienene "definitive" Ausgabe von Andre Bazins "Was ist Film?". Politische Bücher: Joachim Fests biografische Skizzen und Erinnerungen, sowie eine Lafontaine-Biografie. Literatur: Lilli Brands autobiografisch inspirierte Erzählungen, Neues von Raoul Schrott und der jüngste Ausflug in Walter Moers' Fantasiereich Zamonien (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 16.10.2004

Der Schriftsteller Franzobel wünscht der wunderbaren Elfriede Jelinek, dass sie sich nicht totlieben und totumarmen lässt. Im Moment hat sie's nämlich echt schwer: "Der Weltmeistertitel stellt ihr eine Rute ins Fenster: Das ist dein Höhepunkt, das übertriffst du nicht, ab nun geht es bergab - also verzweifle ruhig, nun bist du totgelobt, nun wirst du preisgegeben. Tatsächlich haben die Medien keinen Augenblick gezögert, das Jelinek-Weichtier aus ihrer Schale rauszukratzen, oder selbst zu ihr hineinzukriechen, der Öffentlichkeit Privates zu servieren, um somit unmissverständlich zu belegen: Sie ist auch eine von uns, die nicht einmal diesen Preis mit Champagner und Kaviar feiert, sondern bescheiden wie wir mit Pizza und Leitungswasser. Plötzlich ist ihr nie gezeigter Mann zu sehen, kommen Jugendfreunde und Nachbarn zu Wort, die dann etwa Folgendes sagen: 'Mir haben a Gaudi g'habt. Mir sind so einkaufen gangan owi, von do herob'n, einkaufen gangan, owi, zum Konsum - und die Elfi ist bloßhaxat do owi gangan, kurze Hosn, is einigstiegen in die Kuhfladen, dass den Dreck zwischen die Zechn aussadruckt hot. Urig!'"

SZ, 16.10.2004

Das SZ-Feuilleton macht mobil gegen Bush. Zwar wollten sich zwei prominente Bush-Gegner, der Linke Noam Chomsky und der Konservative Samuel Huntington, nicht für ein Gespräch an denselben Tisch setzen. Im Artikel von Tobias Matern und Wolfgang Koydl begegnen sie sich jetzt aber doch. Chomsky kritisiert: "Es sei heuchlerisch, auf der einen Seite einen Krieg gegen den Terrorismus auszurufen, auf der anderen Seite aber eben die Strategie anzuwenden, die man zu bekämpfen vorgibt." Und Huntington? "Besonders den Irak-Krieg sieht er als zentralen Fehler der Bush-Regierung. Es sei nicht Amerikas Aufgabe, rings um die Welt zu ziehen und anderen Ländern die eigenen Ideen und Werte aufzuzwingen. Aus diesem Grund hat er sich festgelegt, am 2. November John Kerry zu wählen."

An Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt der "Brief an einen Swing-State-Wähler" des Autors John LeCarre und vor allem der Untertitel: "Ein verhasster, lügenhafter, rücksichtsloser Präsident: Der Albtraum George W. Bush muss mit der Wahl am 2. November ein Ende haben." Im Interview äußert sich der Schriftsteller John Irving zu seinen Büchern und ihren Verfilmungen, aber auch zur Wahl: "Man musste sich noch nie so eindeutig zwischen einem potenziell guten und einem potenziell desaströsen Ausgang entscheiden."

Weitere Artikel: Christoph Burmann, Professor für innovatives Markenmanagement, sieht im Interview Marketingfehler als Hauptgrund für die Desaster bei Karstadt und Opel. Petra Steinberger stellt zum selben Thema fest: Deutschlands Imageproblem ist die Angst. Das Warenhaus hat den Anschluss verpasst, konstatiert Jörg Häntzschel. Dieter Wulff stellt die Band des Auswärtigen Amts vor. Ein Symposium über die Wirkung von Uniformen fasst Titus Arnu zusammen.

Außerdem: Arnd Wesemann hat an der Berliner Schaubühne um 90 Grad gedrehte Körper an der Wand tanzen sehen, während Werner Burkhardt in Hamburg in Karin Duves "Das ist kein Liebeslied" 117 Kilo Sehnsucht auf der Bühne erlebt hat. Reinhard J. Brembeck hat Peter Mussbachs Inszenierung von Toru Takemitsus "My Way of Life" erlebt. Die Dirigentin Marin Alsop spricht im Interview über ihr Konzert mit den Münchner Philharmonikern. Katrin Schultze informiert darüber, dass der amerikanische Heimatschutz vor dem neuen Prince-Video warnt. Besprochen wird "Resist", die Filmdokumentation über das legendäre "Living Theater"..

Literatur: Der Schriftsteller Javier Marias antwortet auf die Frage, wie er zu den Namen seiner Figuren kommt, dass er jedenfalls keine "Allerweltsnamen" mag. Joachim Sartorius stellt ein Gedicht von Ferenc Szijj vor. Besprochen werden unter anderem Thomas Meineckes neuer Roman "Musik" ("mit Theorie-Turbo") und ein offenbar höchst unseriöses Buch über Vincent van Gogh (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende warnt Alexander Kissler vor der Videotext-Demokratie: "Wer darüber nachdenkt, ob Deutschland mehr direkte Demokratie wagen sollte, der werfe einen Blick in den Videotext von ntv, Tele 5, Pro Sieben, Sat 1, DSF, Kabel 1 und ZDF. Des Volkes Stimme, die sich da zu Wort meldet, will meist das Eine: mehr Ruhe, mehr Sicherheit, mehr Autobahn." Willi Winkler porträtiert Joachim Lottmann, den Erfinder der Popliteratur. Mike Syzmanski stellt den erfolgreichen Nachfolgebetrieb des Modeinstituts der DDR vor.

Außerdem: In einer Erzählung des "Schatten des Windes"-Autors Carlos Ruis Zafon geht es um "Gaudi in Manhattan". Über den Tod des Kinder-Cowboys macht sich Alex Rühle so seine Gedanken. Rebecca Casati interviewt den Namensforscher Jürgen Gerhards und erklärt das "Leon"-Phänomen: "Die Akademiker haben den Namen vor zehn, zwölf Jahren für sich entdeckt, mittlerweile ist er erfolgreich diffundiert. Leon war letztes Jahr auf Platz 2 der Hitparade. Jetzt suchen die Akademiker sich etwas Neues."

FR, 16.10.2004

Die Kategorien, die in den letzten Jahren zur Politisierung der Universitäten beigetragen haben, nämlich: Rasse, Klasse, Gender, spielen im diesjährigen US-Wahlkampf eine erstaunlich untergeordnete Rolle, wie Helmut Müller-Sievers feststellt. Gerade zur Verzerrung der Klassenfrage habe die Bush-Regierung unternommen, was in ihrer Macht stand: "Diese Umpolung wurde durch einen berauschenden Cocktail aus Patriotismus und Religion möglich, gewürzt mit libertären und autoritären Ingredienzien. Gemixt wurde er von Karl Rove und Karen Hughes, und die große Frage wird sein, ob Kerry und Edwards die Wählerschaft davon überzeugen können, dass die Zeit zur Ausnüchterung gekommen ist."

Weitere Artikel: Louise Brown berichtet von Londons größter Kunst-Messe, der Frieze Art Fair. Leise enttäuscht zeigt sich Georg-Friedrich Kühn von der postumen Berliner Toru-Takemitsu-Aufführung an der Staatsoper. Frank Keil hat die Delmenhorster Ausstellung "Gegen den Strich" besucht. Johannes Wendland berichtet, was in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig zu sehen ist. In der Kolumne Times mager liefert Rudolf Walther präzise Informationen über die Todesanzeigen-Gebräuche in Le Monde, Zeilenpreise inklusive. Kurz gemeldet wird, dass der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul mit sofortiger Wirkung das Schreiben einstellt.

Tagesspiegel, 16.10.2004

Nicola Kuhn unterhält sich mit dem Künstler Luc Tuyman über die Rettung der Malerei, politische Kunst und die Flick-Sammlung: "Ob ich in der Ausstellung sein will oder nicht, spielt keine Rolle. Der Typ zeigt seine Privatsammlung und er besitzt einfach Arbeiten von mir. Der Kunstmarkt hat es ihm ermöglicht, meine Bilder zu kaufen. Der Markt macht keinen Unterschied, auch wenn das zynisch klingt. Eigentlich ist daran nichts Schockierendes. Mich schockiert vielmehr, wie einige Leute auf moralischer Ebene eine Debatte darüber in Gang setzen, was Kunst dann sein sollte. Wenn man dann auf die politisch korrekte Ebene kommt, dann wird es grausam. Die ganze political correctness ist doch totale Verblödung, vor allem in der Kunst. Damit erreicht man nur das Gegenteil."

NZZ, 16.10.2004

In Literatur und Kunst leistet der Philosophieprofessor Jürgen Mittelstrass im Namen der guten alten Rationalität eine Kritik am Begriff des Virtuellen und seinen seligen Verkündern wie Jean Baudrillard oder Vilem Flusser: "Das, was virtuelle Realität heißt, befriedigt heute vor allem den Einäugigen, der sich nun in andere Dimensionen träumt, den Bewegungsschwachen, der lieber die Bilder bewegt, als sich selbst zu bewegen, den Grenzgänger zwischen Sinnlichkeit und Analphabetentum. Und diese finden immer wieder ihre Verstärker, ihre Missionare und Propheten unter den Intellektuellen."

Die Samstagsbeilage wird im übrigen von Literaturkritiken dominiert. Jürgen Brôcan widmet sich sehr ausführlich den letzten Romanen Stewart O'Nans. Tilman Urbach schreibt über Erzählungen von Sam Shepard, Werner von Koppenfels bespricht D. H. Lawrences Nachkriegsroman "Aarons Stab"

Außerdem erinnert Felix Philipp Ingold an den Theateravantgardisten Nikolai Jewreinow. Und Michael Hampe spekuliert über die "Ambivalenz der Bilder in der Wissenschaft".

Im Feuilleton schlendert Samuel Herzog über die von Harald Szeemann kuratierte Kunstbiennale von Sevilla. Der Ideenhistoriker Jan-Werner Müller erinnert an den Philosophen Julien Benda, der nicht nur den Begriff des Intellektuellen definierte, sondern auch höchst aktuelle Europa-Visionen hatte. Und Marc Zitzmann besucht Designausstellungen (organisiert unter anderem von Droog Design) und Neubauten in der Kulturhauptstadt Lille.

Besprochen werden außerdem zwei Kölner Ausstellungen für Mary Bauermeister.

FAZ, 09.11.2004

Der niederländische Publizist Paul Scheffer schreibt nach der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh durch einen Islamisten einen sehr lesenswerten Debattenbeitrag über die europäischen Gesellschaften und den Islam: "Was wir in Europa erleben, ist einmalig in der Geschichte des Islam: Niemals zuvor haben sich so viele Moslems als Minderheit dauerhaft in einem säkularen Staat niedergelassen. Das erfordert die tiefgehende Reform einer Religion, die Zwang auferlegen will und den öffentlichen Raum okkupiert, zu einer Religion, die sich an das individuelle Gewissen des einzelnen Gläubigen richtet."

15 Jahre nach dem Mauerfall entfaltet Mark Siemons ein recht tristes Bild der deutschen Seelenlage: "So scheint die gesamtdeutsche Gesellschaft kein gemeinsames Projekt zu haben, das ihren Freiheitsbegriff mit Inhalt und Emotion füllen könnte. Die Ziele erschöpfen sich darin, dass alles nach Möglichkeit so bleibt, wie es ist."

Sehr trist auch, was 15 Jahre nach dem Mauerfall aus den drei Berliner Opern wird, meint Eleonore Büning in der Leitglosse zur Berliner Opernstiftung: "Niemand, der über ein Gewissen verfügt und rechnen gelernt hat, möchte als Generaldirektor eines Unternehmens antreten, dessen Auflösung bereits jetzt in den Büchern steht. Die Absenkung der Zuschüsse wird spätestens in zwei Jahren in die Insolvenz führen, eine Fusion zumindest der beiden großen Häuser ist mittelfristig nicht abzuwenden."

Weitere Artikel: Jürg Altweg nennt die Preisträger der großen, gerade bekannt gegebenen Pariser Literaturpreise - Prix Femina für "La Reine du silence" von Marie Nimier, Prix Goncourt für Laurent Gaudes Roman "Le soleil des Scorta" und Prix Renaudot für das posthum veröffentlichte Buch "Suite française" von Irene Nemirowsky. Andreas Rossmann schreibt zum Tod des Bildhauers Erwin Heerich. Wolfgang Schneider resümiert den 12. Open-Mike-Wettbewerb in Berlin und findet, dass der Lyriker Christian Schloyer zu Recht den ersten Preis bekam. Michael Martens berichtet über helle Empörung in Griechenland, weil die USA die Selbstbenennung Mazedoniens als Mazedonien künftig anerkennen wollen ("Seit Jahr und Tag ist es die Haltung Athens, dass Mazedonien nicht Mazedonien heißen dürfe, weil sich daraus Ansprüche auf die nordgriechische Region Makedonien ableiten ließen"). Andreas Eckert gratuliert dem britischen Journalisten Basil Davidson, der sich Verdienste um ein moderneres Afrika-Bild der Europäer erwarb, zum Neunzigsten.

Auf der Medienseite zeiht Matthias Rüb Bush-Gegner wie Michael Moore der Intoleranz. Klaudia Brunst schreibt einen Abgesang auf das ZDF-Gesundheitsmagazin "Praxis" und andere eingestellte Gesundheitsmagazine.

Auf der letzten Seite besucht Mechthild Küpper die Ausstellung "Medizin und Verbrechen" im ehemaligen KZ Sachsenhausen. Und Christian Geyer porträtiert den Ärztefunktionär Frank Ulrich Montgomery, der nicht an die Institution der Patientenverfügung glaubt.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Robert Frank zu seinem achzigsten Geburtstag in der Tate Modern, der spanische Film "El Lobo", Ernest Blochs selten gespieltes lyrisches Drama "Macbeth" in Frankfurt, Christoph Marthalers "Seemannslieder" in Gent, Dirk Szuszies" Dokumentarfilm "Resist" über das Living Theatre, ein Auftritt des Cooljazz-Saxofonisten Lee Konitz in Ludwigshafen (hymnisch besprochen von Wolfgang Sandner: "Lee Konitz wirkt wie ein Georges Seurat des Jazz") und Ferdinand Bruckners "Früchte des Nichts" im Hamburger Thalia Theater.