Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2004. "Warum nicht zeigen, dass das Schwein endlich tot ist?": In der Zeit sorgt Wim Wenders für den Untergang des Meisterwerks "Der Untergang". In der FR geißelt Thomas Oberender das ständige "Glück auf!" des Ruhrpotts. In der SZ verteidigt Norman Foster die unglaubliche Ikone Tempelhof. Die FAZ feiert Paul Greengrass' Film "Die Bourne Verschwörung", der ein Berlin zeigt, in dem man sich am helllichten Tage verlieben kann.

Zeit, 21.10.2004

Wim Wenders nimmt in der heutigen Zeit einen langen Anlauf, aber dann holt er auch mächtig aus und erledigt den Film "Der Untergang" mit filmtheoretischen Mitteln. Ein "Meisterwerk"? Alles andere als das, sondern ein Film, der nicht mal zu einer konsistenten Erzählhaltung zu Hitler findet, ein Film, der ausmalt, wenn das Hirn von einem Untergebenen Hitlers an die Bunkerwand spritzt und der sich diskret abwendet, wenn sich der Führer selbst umbringt: "Warum auf einmal dieses dezente Nichtzeigen, warum die plötzliche Prüderie? Warum, verflucht noch mal? Warum nicht zeigen, dass das Schwein endlich tot ist?"

Auch sonst ist die heutige Zeit ganz gut in Form. Claus Spahn hört und sieht sich die 29 Stunden von Karlheinz Stockhausens Zyklus "Licht" auf DVD an, aber die Mischung aus weihevoller Geste und musikdramaturgischem Durcheinander leuchtet ihm nicht: "In der Mitte des Saales thront der Meister hinter dem Mischpult wie der Heilige Geist. Aber am Ende erscheint den Zeitgenossen das mächtig aufgewölbte Werk womöglich doch nur krude und postmodern zersplittert."

Weitere Artikel: In der Leitglosse schlägt Claus Sahn den öffentlich-rechtlichen Sendern vor, in der Bürokratie zu kürzen, und nicht bei den Orchestern. Birgit Glombitza porträtiert den argentinischen Regisseur Fernando Solanas. Hanno Rauterberg besucht eine ganze Reihe neuer Museen in Deutschland und kommt zu der Diagnose: "In Wahrheit ist der Boom eine Krise und die Krise der Boom". Thomas E. Schmidt traut den Ländern nicht, die die Rolle des Bundes in der Kultur zurückstutzen wollen, denn "wenn der Bund in Zukunft als Akteur der Kulturpolitik ausfällt, dann ist nicht nur Finanzierungssicherheit perdu, sondern auch eine Quelle von Initiativen - und kein weißer Ritter käme mehr im Falle der Not." Thomas Groß bespricht neue CDs des nigerianischen Musikers Femi Kuti.

Aufmacher des Literaturteils ist Ulrich Greiners Besprechung von Juli Zehs Roman "Spieltrieb". Und Ursula März freut sich, dass in der kleinen Edition Erata ein dreibändiger Gedichtzyklus von Pentti Saarikoski erschienen ist, denn er ist eine "Kultfigur der finnischen Postmoderne". (Hier einige Gedichte auf Finnisch.)

Im politischen Teil findet sich ein erhellender Essay des amerikanischen Star- und Jungphilosophen Jedediah Purdy über die Frage: "Was sagt uns die Fettleibigkeit der Amerikaner über die Kultur der Vereinigten Staaten?" Und im Dossier "Erziehen üben" stellt Iris Mainka eine sehr nützliche neue Art von Seminaren vor, in denen gestresste deutsche Eltern lernen sollen, mit ihren unverschämten Blagen zurande zu kommen.

FR, 21.10.2004

Anlässlich der Opel-Krise trägt das Feuilleton auch heute Blaumann und lässt den Chefdramaturgen des Bochumer Schauspielhauses, Thomas Oberender, die Leviten lesen: "Entspringen die Heimatsentimentalität, die Beschwörung der Alten und Kinder, das ständige 'Glück auf' in einer Region, in der der Bergbau Geschichte ist, die Beschwörung der 'menschlichen Wärme' und die Verteufelung der 'Eiseskälte' des Kapitalismus nicht einer Geisteshaltung, die bisher mit schwarzer Provinz assoziiert wurde? Ein Verhalten ist reaktionär, so die Definition, wenn an nicht mehr zeitgemäßen Verhältnissen festgehalten wird. Es meint das Gegenteil von fortschrittlich. Reaktionär, so eine andere Definition, ist eine Haltung gegen die Mehrheit der Bürger. Nun ist nichts heikler, als Menschen, die den Wohlstand einer Region erarbeitet haben und die nun um ihre Existenz kämpfen, mit diesen Bedenken zu konfrontieren. Andererseits ist nichts nötiger. Auch weil das, was Großkonzerne wie GM betreiben, unmöglich das ist, was unser Verständnis von 'Fortschritt' ist und die Entsolidarisierung einer ihrer gefährlichsten Effekte ist."

"Wer hätte gedacht, dass Edward Hopper zeitlebens ein Zettelchen mit einem Goethezitat im Portemonnaie mit sich herumtrug", wundert sich Daniel Kothenschulte angesichts der "herrlichen" Edward-Hopper-Schau im Kölner Museum Ludwig. Doch hatten wir es nicht stets geahnt? Der in der Welt berühmteste Vertreter jener schwammig als "American Realism" bezeichneten Spielart der Moderne war in Wahrheit der metaphysischste Maler seit De Chirico."

Weitere Themen: Hans-Klaus Jungheinrich diskutiert in Times Mager unterschiedliche Peinlichkeitstemperaturen in Berichtigungen und Schwächen des journalistischen Ethos. Außerdem gibt es ein Interview mit dem Theaterregisseur David Mouchtar-Samorai.

Besprochen werden die Ausstelung "Pioniere in Celluloid" im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main, Frans Helmersons Eröffnungskonzert der Cello-Meisterkurs-Konzerte in der Kronberg Academy, Alexander Bußmanns neues Stück "Die guten Taten der reichen Witwe Belladonna" im Frankfurter Gallus-Theater und Bücher, darunter John Keegans Standard-Werk "Der Zweite Weltkrieg" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 21.10.2004

George Waser berichtet von der Verleihung des Booker-Preises an Alan Hollinghurst, ausgezeichnet wurde er für seinen Roman über die Thatcher-Ära "The Line of Beauty". Mit einem Urteil hält Waser hinterm Berg, erzählt aber, dass Hollinghurst seinem Verleger dafür dankte, den Roman "veröffentlicht zu haben, 'bevor er sich entschloss, nach Möglichkeit keine neuen Bücher zu publizieren'".

Heute wird im New Yorker Lincoln Center das einzigartige House of Swing eröffnet, kündigt ein zwischen Skepsis und Freude schwankender Christian Broecking an. Künstlerischer Leiter ist Wynton Marsalis, der für den Neubau fast 130 Millionen Dollar Spendengelder akquiriert hat. "Doch obwohl es nicht leicht sein dürfte, die konservative Programmpolitik von Jazz At Lincoln Center durchzuhalten, wenn drei Spielstätten gleichzeitig zur täglichen Verfügung stehen, wird eine Einbeziehung des Free Jazz der sechziger Jahre und des Free Thing der Post-Vietnam- Generation nicht erwartet. Vielmehr symbolisiert die neue Institution nun auch räumlich die Positionierung des klassischen schwarzen Jazz in der amerikanischen Hochkultur. Der Weg dorthin war lang und beschwerlich, und aus Sicht der Initiatoren mag es sich wie eine späte Wiedergutmachung lesen."

Weiteres: Judith Klein erinnert an das abenteuerliche Leben der Isabelle Eberhardt, deren Herz für Vagabunden, Anarchisten, Tolstoj und Algerien schlug.

Besprochen werden die große Retrospektive zu Salvador Dalis hundertstem Geburtstag im Palazzo Grassi von Venedig, das neue Album "The New Danger" des New Yorker Rapper Mos Def, und Bücher, darunter Tim Pears' Roman "Wach auf!" und Gedichte von Istvan Vörös (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 21.10.2004

"Die Eingangsepisode zeigt, wie Marion und Gilles das von ihren Anwälten mit allen grotesken Details vorbereitete Scheidungsurteil zur Kenntnis nehmen und die quälende Prozedur im Schmerz und Trotz isoliert aushalten. Mit dieser ersten Sequenz steht fest, das "5 x 2" ohne die schauspielerische Leistung seiner Protagonisten an seiner Konstruiertheit ersticken würde", schreibt Claudia Lenssen über Francois' Ozons neuen Film, der ihr nicht besonders gefällt. Kira Taszman hat Francois Ozon zu seinem Film befragt.

Weiteres: Magdalena Kröner verfolgte bei Sotheby's in London, wie der Künstler Damien Hirst ein ganzes Restaurant versteigern ließ. Besprochen werden der Film "Die Bourne-Verschwörung", ein Konzert der schwedischen Rockband The Soundtrack Of Our Lives in der Neuen Welt in Berlin und Ruth Maders Film "Struggle".

SZ, 21.10.2004

"Triumphaler könnte sich ein Kunst-Mäzen in der Öffentlichkeit nicht präsentieren", feiert Gottfried Knapp den Kunstsammler, Mäzen und sozusagen Gegen-Flick Reinhold Würth (mehr hier), "als mit diesem Ausstellungs-Doppelschlag im eigenen Museum, mit dieser unerhörten Begegnung zwischen Mittelalter und Gegenwart, bei der ein Stück altdeutsche Kunstgeschichte zum Leben erweckt und einer der Schwierigen unter den Künstlern unserer Zeit in die Heimat zurückgeholt wird. Doch der Sammler Reinhold Würth, der nach den Lobreden im Haller Globe-Theater das Podium betritt, bleibt in seinen resümierenden Worten so bescheiden, so humorvoll gelassen, er erinnert sich jener Tage, in denen er sich vom Kunstvermittler Graf Douglas den 'Herbst des Mittelalters' ausmalen ließ, oder jener anderen, an denen er Kontakt zu Anselm Kiefer aufnahm, so angenehm kenntnisreich und souverän, dass alles, was Ministerpräsident Teufel zuvor über den Großunternehmer und sozial motivierten Kulturvermittler an Würdigendem gesagt hat, plötzlich auf bewegend direkte Weise Realität wird."

"Tempelhof ist eine unglaubliche Ikone", ruft der britische Architekt Norman Foster aus, dem Berlin die Reichstagskuppel verdankt. "Das würde ich auch dann sagen, wenn ich mich nicht so sehr mit dem Design von Flughäfen befasst hätte, wenn ich nicht selbst Pilot und sogar, wenn ich kein Architekt wäre. Diese Ikone muss für künftige Generationen erhalten bleiben. Es wäre eine Tragödie, wenn man den Flughafen einfach ausradieren würde."

Weiteres: Thomas Steinfeld sieht Weimar mit seiner Kulturpolitik den Status als europäische Kulturstadt verspielen. Reinhard J. Brembeck warnt vor den Folgen des Verzichts von Rundfunkanstalten auf Orchester und Chöre für das Klassikverständnis der Öffentlichkeit. Frank Arnold hat François Ozon, den Regisseur des gefeierten Films "5 x 2", interviewt. Susan Vahabzadeh informiert kurz über Querelen um die Ausstrahlung von Michael Moores Film "Fahrenheit 9/11" am Vorabend der US-Präsidentschaftswahl. Alexander Menden meldet, dass Alan Hollinghurst für seinen Roman "The Line of Beauty" den diesjährigen Man-Booker-Preis gewonnen hat. Reinhard Schulz hat sich mit der Komponistin Olga Neuwirth unterhalten. Siggi Weidemann beschäftigt sich mit dem Medienrummel, den der Fund des Tagesbuchs eines im KZ ermordeten jungen Mädchens namens Helga Deen in den Niederlanden verursacht hat. Und aus dem warmen Kalifornien übermittelt uns Fritz Göttler die schöne Anekdote, der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger sei von seiner demokratischen Gattin Maria Shriver nach einer flammenden Rede für Bush mit vierzehn Tagen Sexentzug bestraft worden.

Im Übrigen ist das SZ-Feuilleton ganz auf Bochum eingestellt, das dem auswärtigen Leser von ortskundigen Künstlern wie Matthias Hartmann, Michael Maertens, Andrea Breth und Frank Goosen nahegebracht wird.

Besprochen werden eine Ausstellung im Kölner Museum Ludwig mit Fotos von James Abbe, die den schönen Titel "Shooting Dictators" hat, Todd Williams John-Irving-Verfilmung "The Door In The Floor"Nathaniel Kahns Dokumentarfilm "My Architect" über seinen Vater, den Architekten Louis I. Kahn (ein "road movie, das zu den spannendsten Stücken des Genres gehört", schreibt Fritz Göttler in einer kurzen, aber sehr intensiven Hymne) und Bücher, darunter eine Neuübersetzung des "Kamasutra" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).