Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2004. In der FAZ ruft Elfriede Jelinek ihre Kollegen zum Boykott der Rechtschreibreform auf: "Wir sind keine Mitmacher!" Die SZ erzählt von einer Reise zur tschetschenischen Intelligenzija. Die taz verteidigt Elfriede Jelinek gegen die Neocons. Die FR wirft einen Blick in den Werkzeugkasten von Michel Foucault. Und die NZZ feiert die neun geweihten Nächte der Devi.

FAZ, 22.10.2004

Auf der Seite 1 der FAZ ruft Elfriede Jelinek die Schriftsteller zum Boykott des Rats für Rechtschreibung auf: "Wir, jedenfalls die allermeisten von uns, sind keine Mitmacher dieser Reform. Wir sind nicht irgendwelchen Autoritäten, die uns etwas 'vorschreiben' wollen, hörig, und wir sind auch nicht auf Kompromisssuche. Zweitbeste Lösungen sind nicht unsere Sache, weil wir Perfektionisten der Sprache sind."

"Man kann Präsident George W. Bush kaum mit einem Intellektuellen verwechseln", schreibt der Historiker Michael Kimmage, doch gründe sich seine Politik auf zwei Generationen von Intellektuellen, die als Neokonservative seit den fünfziger Jahren den traditionellen Konservatismus umgekrempelt haben. Kimmage skizziert deren Geschichte und verweist schließlich auf einen Aufsatz in der Zeitschrift Commentary, wo Norman Podhoretz im September unter der Überschrift "World War IV: How it started, what it means, and why we have to win" den Irakkrieg zu rechtfertigen sucht. Für Kimmage besteht die Ironie der Geschichte in den "Politikern, die solche konservativen Ideen umsetzen. In Amerika konnten Reagan und Bush ein rauhes Western-Image pflegen; im Ausland handelten sie sich dadurch den Vorwurf ein, Cowboys zu sein; doch beide profitierten politisch von der Arbeit, die Intellektuelle für sie leisteten. Al Gore hatte 2002 Tausende von Intellektuellen auf seiner Seite, aber gerade dafür straften ihn die Wähler ab. "

Weitere Artikel: Martin Kämpchen beschreibt den Tod des indischen Briganten Koose Muniswamy Veerappan, der in der Nacht zum 19. Oktober von der Polizei erschossen wurde. Veerappan galt den einen als Bandit, den anderen als moderner Robin Hood. Dirk Schümer berichtet über den Fund eines Tagebuchs, dessen Bedeutung mit dem der Anne Frank vergleichbar ist: es ist das Tagebuch der Arzttochter Helga Deens, die 1943 mit ihrer Familie aus Holland nach Sobibor deportiert und umgebracht wurde. Paul Ingendaay berichtet aus Spanien, dass der ehemalige katalanische Regionalpräsident Lluis Comapanys, der 1940 vom Franco-Regime erschossen wurde, rehabilitiert wird. Aro. schreibt zum Tod der Schauspielerin Gisela Holzinger.

Auf der Medienseite berichtet Michael Martens über den Versuch der WAZ, sich in der serbischen Provinz Vojvodina zu etablieren. Auf der letzten Seite porträtiert Julia Sohnemann den Genforscher Andre Rosenthal. Brigitte Schulze war bei einem Konzert im ukrainischen Salzbergwerk Soledar. Und Jürgen Busche erzählt, wie die Universitätsbibliothek Münster den philosophischen Schriftsteller Joseph Pieper ehrt.

Besprochen werden die Cezanne-Ausstellung im Essener Folkwang Museum, Nathaniel Kahns "hinreißender" Dokumentarfilm "My Architect", ein Konzert des Sängers St. Thomas in Frankfurt und Bücher, darunter eine Dissertation über das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Hingewiesen sei schließlich noch auf einen Kommentar in der gestrigen FAZ, den wir übersehen haben: Auf der Seite 1 fragte Gerhard Stadelmaier: "Wohin treibt das Theater?"

TAZ, 22.10.2004

Robert Misik informiert über einen Hetzartikel des Zentralorgans der amerikanischen Neokonservativen Weekly Standard gegen die "Amerikahasserin" Elfriede Jelinek. Obwohl "nicht speziell berühmt für seine Literaturkritik" verfolgten Herausgeber William Kristol und seine Autoren "Feinde der Freiheit" mit heiligem Zorn. "Ihr jüngstes Ziel: die Stockholmer Nobelpreisakademie. Mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek hat sie die Neocons auf die Palme gebracht - sie könnten kaum wütender sein, hätte Ussama bin Laden den Friedensnobelpreis erhalten. Jelinek sei eine 'unbekannte, unwichtige, linke Fanatikern', die nichts als Pornografie produziere, die ihren Erfolg auf dem Spiel mit sexueller Erregung begründe, 'vergleichbar mit Britney Spears - wobei eine normale Person zweifelsohne die Gesellschaft Letzterer bevorzugen würde'."

Weitere Artikel: Zu lesen ist ein Interview mit Mark E. Smith (mehr), Sänger der Band The Fall, in dem er seinem Beruf Punkrocker alle Ehre macht. ("Ich bin doch nicht Nick Cave. Der veröffentlicht doch immer Schallplatten mit seinen Tagebüchern.") Um Tagebücher, beziehungsweise deren vollkommen überschätzte Heilsamkeit fürs seelische Gleichgewicht geht es dann in einem Bericht auf der Wissenschaftsseite. Die Medienseite untersucht das Phänomen, des Kulturmagazins "Steinstraße 11", das wie ein Pornoheft nur als "Bückware" verkauft wird (an der Website wird noch gearbeitet, Kontaktmöglichkeit besteht aber). In tazzwei meditiert Philipp Mausshardt in seiner Klatschkolumne über die Promi-(Un)Sitte des Zuspätkommens, eigentlich: Wartenlassens. Martin Reichert erklärt, warum immer mehr freie Kunstschaffende auf Grund von Hartz IV zur Ich-AG mutieren, und Christian Schneider denkt darüber nach, warum Frauen in der Politik zwar nicht der Wille zur Macht, wohl aber deren Aura fehlt.

Besprochen werden neue Alben der HipHop-Intellektuellen Mos Def und Talib Kweli sowie Mark Strands Betrachtungen "Über Gemälde von Edward Hopper" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

NZZ, 22.10.2004

In Indien wird gefeiert! B. N. Goswamy erklärt, was es mit den neun geweihten Nächten der Devi auf sich hat. "Zweimal jährlich, im Frühlingsmonat Chaitra und jetzt, zu Beginn des Winters im Monat Ashwin, feiert das ganze Land - von Kaschmir bis in den südlichsten Zipfel des Subkontinents, von Bengalen im Osten bis nach Gujarat an der Westküste. Zum Lob der Göttin werden Gedichte rezitiert, wird gesungen und getanzt - fast als wäre sie selbst auf die Erde gestiegen, furchterregend und liebevoll zugleich, die große Beschützerin, das erste Prinzip, die Zerstörerin des Bösen; sie, die das Universum erhält und entsprechend den zahlreichen Aspekten ihrer Macht in vielerlei Verkörperungen auftritt. In Kalkuttas Straßen wird eine ausgelassene Menge toben, und von normaler Arbeit wird nirgendwo die Rede sein - denn was könnte noch zählen, wenn die Göttin in Gestalt der Durga zur Feier ruft?"

Weiteres: In seiner Reihe zur Kultursezene Frankreichs stellt Marc Zitzmann heute den Anthropologen Marc Auge vor, der sich nach dreißig Jahren Feldstudien in Schwarzafrika der westlichen Welt zuwandte und mit seiner "Ethnologie des Nahen" zum Kritiker der Übermoderne wurde. Paul Jandl schreibt zur Situation der türkischen Einwanderer in Österreich, die offenbar noch schlechter ist als die in Deutschland. Ingrid Galster berichtet von einem Historikertag in Davos, der der "Frau in der Geschichte" gewidmet war. "ujw" ärgert sich über die abgeschmackten Nachrufe auf Derrida. Besprochen wird ein Abend mit drei Choreografinnen im Genfer Ballett.

Auf der Medienseite widmet sich Marc Zitzmann der Krise der großen Zeitungen in Frankreich. "Während Libration mangels frischen Geldes seit Jahren auf der Stelle tritt, hat sich bei den beiden anderen Pariser Qualitätsblättern, Le Figaro und Le Monde, in den letzten Monaten viel getan. Das gilt insbesondere für den konservativen Figaro, an dessen Muttergesellschaft, der rund 70 Titel umfassenden Mediengruppe Socpresse, der Rüstungs- und Luftfahrtkonzern Dassault seit 2002 in drei Schritten insgesamt 87 Prozent des Kapitals übernommen hat. Serge Dassault, der 79-jährige Generaldirektor des Groupe Industriel Marcel Dassault, hatte 1997 erklärt, er wolle eine Tages- oder Wochenzeitung besitzen, um dort seine Meinung ausdrücken zu können."

"ras" meldet, dass inzwischen 48 Zeitungen in den USA eine Wahlempfehlung für John Kerry ausgegeben haben, 34 für George Bush. "Snu" berichtet von der wachsender Polarisierung der amerikanischen Fernsehsender.

Jede Menge Rezensionen auf der Filmseite, besprochen werden der Episodenfilm "Downtown Switzerland", Albert Ter Heerdts Komödie "Shouf Shouf Habibi" und Paul Greengrass' Spionage-Sequel "Die Bourne Verschwörung".

FR, 22.10.2004

Martina Meister nimmt kritisch unter die Lupe, wie man sich in Paris anlässlich des 20. Todestags von Michel Foucault an den Philosophen erinnert. Von Sondernummern von Zeitschriften über unveröffentlichte Interviews und neue Studien bis hin zum Tanztheater - das Herbstfestival Festival d'Automne entfachte einen regelrechten "Rummel". Aber, fragt Meister, was bleibt eigentlich von Foucault zwanzig Jahre danach? "Vor allem der phantastische Werkzeugkasten, aus dem sich Philosophen bedienen können, aber auch Historiker, Soziologen, Anthropologen, Juristen, Psychiater genauso wie soziale Bewegungen, Schwulenvereinigungen, bildende Künstler, Theaterregisseure oder Choreographen." Doch tun sie das auch? Seine Erben, so Meister, seien "keine Intellektuellen und Akademiker im strengen Sinne, sondern sie eher in den sozialen Bewegungen anzutreffen". Und sein Werkzeugkasten werde "nicht dazu benutzt, die Gegenwart zu verstehen".

Weiteres: Thoma Medicus feiert die Wiedereröffnung der Berlinischen Galerie als "großen Wurf im Kleinen". Und in Times mager verabschiedet Alexander Schnackenburg den Künstlerinnenhof "Die Höge", den es in seiner alten Form nicht mehr geben wird ("Die Ökonomie zwingt ihre Kinder erst, sich ihr anzupassen, bevor sie sie frisst")
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Besprochen werden eine Ausstellung unvollendeter Druckgrafiken im Frankfurter Städel, in der darüber nachgedacht wir, wann ein Kunstwerk eigentlich fertig ist. Des weiteren eine Schau mit Arbeiten der Malerin Sophia Schama in der (mehr), ein Lese- und Kabarettabend mit Emil Steinberger, und dann jede Menge Theater. So Klaus Weises Kombination von Jean Racines "Phädra" und Karst Woudstras "Würgeengel" im Bonner Theater, die Uraufführung des Stückes "Es ist ein Dschungel da draußen, Baby" der FR-Mitarbeiterin Silke Hohmann im Stalburg Theater und die Produktion "Wechselbäder", das aktuelle Programm von ManageMan im Frankfurter Galli-Theater.

SZ, 22.10.2004

Im Aufmachertext berichtet Sonia Zekri von einer Reise zur Intelligenzija von Tschetschenien und Inguschetien: "Wenn Rosa an ihrer alten Wohnung im Zentrum Grosnys vorbeifährt, sieht sie eine Stadt wie eine Schichttorte: Oben glotzen Fassaden aus fensterlosen Löchern, unten haben sich Internet-Cafes eingerichtet, Lebensmittelgeschäfte, Friseure: Als würde eine intakte lebendige Stadt aus dem Boden nachwachsen. Auch dem 'Haus der Kulturschaffenden' in der Rosa-Luxemburg-Straße fehlt ein Stück Dach, aber nebenan im Erdgeschoss wird Schweizer Bio-Kosmetik verkauft. Und irgendwo dazwischen sitzt der Historiker Edilbek Chasmagomadow, schiebt eine schaufenstergroße Brille auf der Nase hoch und sagt böse: 'Natürlich werden Häuser wieder aufgebaut. Etwa fünf pro Jahr.'"

Weiteres: Petra Steinberger erzählt die Geschichte von Victor Gruen, dem Erfinder der Mall, der Europa nach Amerika bringen wollte und wie es dann umgekehrt kam. Gerhard Matzig räsoniert über die Notwendigkeit der Wiedererrichtung der Berliner Mauer als Projektionsfläche und Touristenattraktion - was das Museum Haus am Checkpoint Charlie nun mit dem Aufstellen von 200 Mauer-Metern übernimmt. Martin Urban kommentiert das "neue Weltbild" der Gehirnforscher. Ira Mazzoni erklärt, warum das Tadj Mahal in Schieflage gerät - schuld ist ein ausgetrockneter Fluss. Alexander Mendels stellt die "irgendwie politischen" Turner-Preis-Kandidaten vor. Christiane Schlötzer resümiert einen Kongress in Istanbul zum EU-Beitritt der Türkei, auf dem der Dichter Orhan Pamuk mangelnder Vaterlandsliebe geziehen wurde und darauf mit den Worten reagierte, dass für ihn dazu auch Kritik am Staat gehöre; andere "drückten ihre Liebe eben aus, indem sie folterten".

In einer Glosse lässt "bch" einen Politiker aus dem Gesundheitsressort erklären, wie man Lesern eine Erhöhung des Abopreises sachgerecht beibringt, und Stefan Koldehoff berichtet über die Folgen einer Ausstellung mit "falschen" Van Goghs, die nun auf dem Kunstmarkt auftauchen. Gemeldet wird schließlich, wie Gabriel Garcia Marquez den Produktpiraten ein Schnippchen schlug, indem er vor Drucklegung seines jüngsten Romans dessen letztes Kapitel kurzerhand umschrieb, sowie die Zuerkennung des Ben-Witter-Preises an die österreichische Autorin Elfriede Gerstl.

Besprochen werden der Film "Poppitz" von Harald Sicheritz, eine große Byzanz-Ausstellung in der Archäologischen Staatsammlung München, das neue Stück der New Yorker Wooster Group, "Poor Theater" und Bücher, darunter Peter Kurzecks neuer Roman "Ein Kirschkern im März", eine Biografie über Friedrich Schiller, ein Fotoband von Lennart af Petersen und eine Studie über "Konspirative Kriegserzählungen" im Ersten Weltkrieg (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)