Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2004. Die FAZ wäscht die schmutzige Wäsche ihrer Kollegen. Der Tod Arafats ist auch in den Kulturteilen größtes Thema und gibt Anlass zu einigen lesenswerten Artikeln von Salman Masalha (NZZ), Henryk Broder (Spiegel), Micha Brumlik (FR) und Uri Avnery (taz). Auch über Theo van Gogh wird weiter diskutiert: War er Rassist? Im Aufmacher des Tagesspiegels bietet Karl Lagerfeld eine Chiffonbluse für 39,90 Euro.

FAZ, 12.11.2004

Gerhard Stadelmaier holt zu einem großen Rundumschlag gegen die Kumpanei von Theaterkritikern mit Politikern und Theatern aus: So verfasste "ein jüngerer Kollege der Frankfurter Rundschau schon Aufsätze für Programmhefte von Inszenierungen ..., über die er dann ungeniert begeistert schrieb, und ein älterer Kollege jenes Blattes einst dem Frankfurter Theater eine Mitbestimmungsverfassung mitverfassen half, über die er dann jahrelang öffentlich in seinem Feuilleton total unbeeinflusst handelte". Das Feuilleton der Berliner Zeitung hat "bei der Kür von Christoph Hein zum Intendanten des 'Deutschen Theaters' bewusst ins Ost-Bett, das von Senator Flierl aufgeschüttelt ward, begeben und den Gekürten stolz als 'ihren' Kandidaten, dessen Gründe und Hintergründe sie besser als andere verstehe, präsentiert - samt einem unglaublichen ideologischen Schwulst aus DDR-'Erbe-Theorie', die allerdings den Verdacht, es handele sich bei der Chose um eine Zurück-zum-Osten!-Bewegung, glanzvoll bestätigte." Und das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hat "bei der unwürdigen Rausschmiss-Politik, die der damalige Münchner Kulturreferent Nida-Rümelin gegen den damaligen Intendanten der Münchner Kammerspiele, Dieter Dorn, anzettelte, durchaus flankierend mitgespielt". Nur diese Zeitung spielt nicht mit!

Weitere Artikel: Christian Geyer bezweifelt den Sinn von Patientenverfügungen. Joseph Croitoru fasst kurz israelische und palästinensische Reaktionen auf den Tod Arafats zusammen. Aro. meldet die Liquidation der Karl Rahner Akademie durch das Erzbistum Köln. Claudius Seidl gratuliert dem Organisten Booker T. Jones zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite setzt sich Michael Hanfeld kritisch mit dem Online-Angebot der öffentlich-rechtlichen Anstalten auseinander: Mindestens fünfzig Millionen Euro stehen ARD und ZDF jährlich für's Internet zur Verfügung. Doch erfüllen sie damit nicht nur ihren Informationsauftrag, sondern sie gehen auch finanziell lukrative Kooperationen mit Firmen ein, machen also Privatanbietern Konkurrenz. Damit stoßen sie jetzt in Brüssel auf Widerstand. Auf der letzten Seite kritisiert Lorenz Jäger Philip Roth' neuen Roman "The Plot Against America" ("wahrlich kein Buch fürs historische Kolleg"). Michael Jeismann porträtiert die polnische Künstlerin Anita Pasikowska, die "in Görlitz mit Hilfe ihrer Lichtinstallationen in der Innenstadt Lebendigkeit wieder herbeigezaubert" hat. Und Hussain Al-Mozany ist enttäuscht, dass "keine einzige namhafte arabische oder islamische Persönlichkeit" den Mord an Theo van Gogh verurteilt hat: Hier "zeigt sich der hilflose Zustand einer aus allen Rahmen und Fugen der Geschichte und der Vernunft geratenen islamisch-arabischen Gesellschaftsordnung, die sich gegen jede Idee der Freiheit, des fairen Dialogs und der Meinungsvielfalt stellt und einem festgefahrenen Diskurs verfallen ist, aus dem sie sich nur durch noch mehr Blutvergießen zu retten versucht".

Besprochen werden eine Traviata - es ist die erste Inszenierung am wiederaufgebauten Theater La Fenice, eine kleine Ausstellung der Werke von Jose Ruiz Blasco, Vater von Pablo Picasso, in Malaga, Joseph Rubens Thriller "Die Vergessenen", Robert Wilsons neues Stück "2 Lips and Dancers and Space" in Luxembourg (die Kostüme sind von Victor und Rolf) und Bücher, darunter Peter Baumanns Studie über "Kant und die Bioethik" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 12.11.2004

TAZ, 12.11.2004

Sehr bewegte Worte findet der israelische Schriftsteller Uri Avnery (mehr hier) für Arafat: "Israel hat einen großen Feind verloren, der ein großer Partner und Verbündeter hätte werden können. Mit den Jahren wird seine Gestalt im historischen Gedächtnis immer mehr wachsen. Was mich betrifft: Ich achte ihn als palästinensischen Patrioten; ich bewundere ihn für seinen Mut; ich verstehe die Bedingungen, unter denen er arbeiten musste; ich sah in ihm den Partner, mit dem man eine neue Zukunft für beide Völker hätte bauen können. Ich war sein Freund."

Auf der Meinungsseite macht Daniel Bax darauf aufmerksam, dass Theo van Gogh kein Waisenknabe war und gerne mit rassistischen Tabus spielte: "Theo van Gogh hat Marokkaner gern als 'Ziegenficker' tituliert. Das macht den grausamen Mord an ihm nicht weniger abscheulich. Aber es nimmt dem Toten den Nimbus, ein Held der Meinungsfreiheit gewesen zu sein - auch wenn diese Feststellung manchen bereits pietätlos erscheinen mag. Sein zehnminütiger Film 'Submission', der im Sommer im holländischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, zeigte nackte Frauenkörper unter transparenten Tschadorgewändern, auf die arabische Koranverse projiziert wurden; dazu wurden Beispiele von Gewalt gegen Frauen erzählt. Man stelle sich vor, Theo van Gogh hätte Bilder vom Palästinakonflikt mit Zitaten aus dem Alten Testament untermalt - eine Antisemitismusklage wäre ihm sicher gewesen."

Einige Stimmen moslemischer Deutscher zum Mord an van Gogh zitiert die tazzwei.

Bei soviel Politik muss die Kultur etwas zurückstehen: Heiko Behr porträtiert die total angesagten, aber bescheiden gebliebenen belgischen DJs 2ManyDJs. Knut Henkel unterhält sich mit der im Exil lebenden kubanischen Journalistin Tania Quintero über die Situation der Opposition in Kuba. Und Thomas Winkler bespricht neue Rockplatten.

Und hier Tom.

FR, 12.11.2004

In der FR schreibt Micha Brumlik (mehr hier), Chef des Fritz-Bauer-Instituts, zum Tod von Arafat: "Zwischen Paris, Ramalla und Jerusalem hat sich der Vorhang zum letzten Akt einer Tragikomödie geöffnet, der Tragikomödie des in Agonie liegenden Nationalstaatsmodells, die sich im von Intrigen begleiteten Sterben eines nationalen Politikers, der Terrorist so gut wie Trickster, Möchtegernstaatsmann so gut wie Idol der Massen, Buhmann sowie Friedensnobelpreisträger gewesen ist, anschaulich verdichtet."

Weitere Artikel: Anneke Bokern resümiert noch einmal niederländische Diskussionen um den Mord an Theo van Gogh (über das Versagen der niederländischen Geheimdienste und der Polizei gibt ein Artikel im Politikteil Auskunft). Gerhard Midding schreibt zum hundertsten Geburtstag des Regisseurs Jacques Tourneur.

Besprochen werden einige Frankfurter Kulturereignisse.

NZZ, 12.11.2004

Einen der interessantesten Nachrufe auf Arafat verfasst für die NZZ der palästinensische Lyriker Salman Masalha (mehr hier), der eine vernichtende Kritik an Arafats Arabisch leistet und einige Schlaglichter auf die Geschichte des palästinensischen Volkes wirft: "Ohne die Gegenkraft der zionistischen Staatsgründung hätte sich eine unabhängige palästinensische Identität wohl gar nie konkretisiert, und die Palästinenser wären diffuser Bestandteil eines großsyrischen Staates geblieben. Bis Mitte der 1960er Jahre war die Haltung der arabischen Länder gegenüber den Palästinensern vorab durch die Flüchtlingsfrage definiert, da der Gazastreifen und Cisjordanien unter ägyptischer beziehungsweise jordanischer Kontrolle standen; damals war keine Rede von einem eigenständigen palästinensischen Staatswesen in diesen Gebieten. Die Sache der Palästinenser galt vielmehr als Teil der gesamtarabischen Auflehnung gegen die Fakten, welche die westlichen Mächte und die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Nahen und Mittleren Osten geschaffen hatten."

Weitere Artikel: Beatrice Eichmann-Leutenegger wirft einen Blick in deutschsprachige Literaturzeitschriften. Besprochen werden Peter Stamms Stück "Die Töchter von Taubenhain" in Luzern, Kartons von Peter Cornelius im Haus der Kunst München, Ernest Blochs Oper "Macbeth" in der Oper Frankfurt sowie eine Ausstellung chinesischer Fotografie in Wolfsburg.

Auf der Filmseite schreibt Jörg Becker zum hundertsten Geburtstag von Jacques Tourneur. Besprochen werden der Film "Das Leben ist ein Wunder" von Emir Kusturica, Youssef Chahines neues Werk "Alexandrie . . . New York" von , Oskar Roehlers neuer Film "Agnes und seine Brüder" und der Film "Dimitri - Clown" von Friedrich Kappeler.

Auf der Medien- und Informatikseite resümiert Andreas Maurer das Genfer Fernsehfestival Cinema tout ecran. Und "set" schildert in einem Hintergrundartikel, dass Videospiele inzwischen oft mehr Geld einspielen als Hollywood-Blockbuster.

Weitere Medien, 12.11.2004

Wenig pietätvoll Henryk Broders Nachruf auf Yassir Arafat in Spiegel Online: "Irgendwann, wenn die Palästinenser endlich ihren eigenen Staat haben und nicht mehr gegen die Besatzung kämpfen müssen, werden sie in der Lage sein, Bilanz zu ziehen - wie die Russen nach dem Tode Stalins und die Spanier nach dem Tode Francos. Und sie werden feststellen, dass ihr geliebter Führer alles getan hat, um ihr Schicksal zu zementieren, dass er für nicht weniger palästinensische Opfer verantwortlich ist als die israelischen Besatzer, dass er nicht nur die Israelis, sondern auch sein Volk terrorisiert hat."
Stichwörter: Stalin, Josef

Welt, 12.11.2004

War die niederländische Gesellschaft nun so tolerant, oder duldete sie nur neben islamistischen Moslems auch den Rassismus? Und war Theo van Gogh Rassist? Leon de Winter (mehr hier) antwortet im Interview: "Nur weil unsere Gesellschaft so frei ist, konnten wir uns einen so radikalen, provozierenden Mann wie Theo van Gogh leisten. Zumindest haben wir bisher gedacht, daß wir ihn uns leisten können. Es gab kaum eine Person im niederländischen Establishment, die nicht von ihm beleidigt wurde. In anderen Ländern wäre eine Figur wie van Gogh marginalisiert worden und nie Teil der Mainstream-Kultur gewesen. Ich habe ihn nicht akzeptiert, ich mochte ihn nicht, aber ich habe zur Kenntnis genommen, dass ihn große Teile der niederländischen Gesellschaft akzeptierten."

SZ, 12.11.2004

"Dieses Land war politisch korrekt bis zur Groteske" stöhnt die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor und erklärt seltsamer Weise: "Möglicherweise müssen wir realistischer werden und uns bewusst werden, dass in Europa heute eine große Gruppe von Menschen lebt, die - im Falle Hollands - eine Art der Ironie (die dem Zynismus oft gefährlich nahe kommt), des Understatements und der Freimütigkeit ganz anders aufnimmt als wir; die Worte sehr ernst nimmt - was man als Schriftsteller ja kaum kritisieren kann. Vorgestern war ein Journalist der New York Times in Amsterdam, der große Probleme damit hatte, in seiner Zeitung darüber zu berichten, dass van Gogh Muslime als 'geitenneukers' bezeichnet hatte: Ziegenficker. Wir Niederländer sehen, oder soll ich sagen: sahen, darin kaum etwas Schlimmes. Ausgenommen natürlich die muslimischen Niederländer."

Weiteres: Joseph Hanimann feiert Andre Glucksmanns gerade in Frankreich erschienenes Buch "Le discours de la haine" (Der Diskurs des Hasses), womit sich Glücksmann für ihn als einer der Letzten beweist, "der unbeirrbar zwischen Begriffsklärung und Denunziation das Auslaufmodell Intellektuellenengagement durchspielt". Der israelische Historiker Moshe Zimmermann spekuliert über Arafats - wie soll man sagen? - künftige Rolle im Nahen Osten: "Mindestens seit 35 Jahren fungiert Arafat als Israels Sündenbock Nummer 1, als absolute Verkörperung des 'Anderen', des Feindes. Darauf zu verzichten, nur weil Arafat zu den Sterblichen gehört, wäre zu schade. In seiner Rolle als Teufel ist er weiterhin unverzichtbar."

Ralf Hertel berichtet von einer aktuellen Stunde im Berliner Abgeordnetenhaus, bei der sich Kultursenator Thomas Flierl für seine personalpolitischen Winkelzüge in Sachen Berliner Opern rechtfertigen mussten. Nichts gesagt hat er darüber, ob Kandidat Michael Schindhelm auf seine Vergangenheit als IM überprüft worden ist. Fritz Göttler kündigt an, dass an diesem Wochenende mit der European DocuZone die Zukunft des digitalen Kinos beginnt. Tatjana Rexroth liefert Impressionen von Elena Bashkirovas Musikfestival in Jerusalem. Alexander Kissler berichtet, dass der Europarat sich der aktiven Sterbehilfe öffnet. Der Klavier Kaiser preist in dieser Woche den Pianisten Maurizio Pollini.

Besprochen werden die Ausstellung "Revision der Postmoderne" im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, Ken Loachs unerwartet leichter Film "Just a Kiss", eine Schau mit Arbeiten von Yoshito Nara und Hiroshi Sugito in München, Robert Wilsons Design-Stück "2 Lips and Dancers and Space" im Luxemburger Grand Theatre, Daniel Catans Karibik-Komödie "Salsipuedes" und Bücher, darunter Juli Zehs Roman "Spieltrieb" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).