Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2004. Die Berliner Zeitung beklagt ein weiteres Opfer der großwestdeutschen Republik: Christoph Hein, der offenbar nicht mehr Intendant des Deutschen Theaters werden möchte. Die SZ lässt sich von dem Geologen Simon Winchester erklären, warum Wohlstand und Stabilität so ungleich verteilt sind. Die FR sieht eine neue Gründerzeit in der französischen Kultur. In der taz erklärt Muhammad Kalisch, warum er als Muslim Angst vor dem Westen hat. Die FAZ findet die Stasi-Akten im Bundesarchiv bestens aufgehoben.

Berliner Zeitung, 29.12.2004

Detlef Friedrich weiß bereits, was Christoph Hein heute auf einer Pressekonferenz verkünden will: dass er nicht mehr Intendant des Deutschen Theaters werden möchte.

Friedrich ist darüber sehr "unfroh", denn nicht die Argumente schlugen dem Schriftsteller ins Gesicht, "sondern die Vorurteile": "Mag sein, dass einigen Schreibern und Sprechern die Formulierung 'ostdeutscher Schriftsteller' ganz von selbst in die Feder läuft oder in die Mikrophone tropft. Sie ist ja nicht falsch. Sie ist so haltbar wie die Meinung, die auch täglich über den Gang geht, dass Prag in Osteuropa und Wien in Westeuropa liegt. Es ist lästig, Neues zu wagen, denn das Alte hat sich in den Grabenkämpfen bewährt. Hein wäre etwas Neues gewesen. Aber er hat die Ertüchtigungsrituale der großwestdeutschen Republik nicht ausgehalten. Eine große Chance wurde vertan. Christoph Hein ist der Letzte der Mohikaner. Es folgt jetzt die Zeit der Reservate. Die Phase des Beleidigtseins, wahrscheinlich beiderseits."
Stichwörter: Hein, Christoph, Wien

FAZ, 29.12.2004

Allerorten wird ein möglicher Umzug der Birthler-Behörde unters Dach des Koblenzer Bundesarchivs als bedrohlich empfunden. "Warum eigentlich?", fragt Regina Mönch und findet "keines der ins Feld geführten Gegenargumente stichhaltig". Denn: "Kämen die Stasi-Akten ins Bundesarchiv, böte sich die Chance, sie nicht länger isoliert, sondern im Zusammenhang des gesamten Machtapparats zu analysieren. Es wäre an der Zeit." Der Zusammenhang ist vor allem die "Stiftung mit dem umständlichen Namen 'Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv'", die sich im übrigen keineswegs in Koblenz, sondern in Berlin-Steglitz befindet.

Weitere Artikel: Der Mäzen und Autor Heinz Berggruen berichtet von einem Besuch bei Gertrude Stein im Jahr 1945: "Die große Faszination für mich waren die Wände in Gertrude Steins Wohnung, vier riesige Wände, von oben bis unten mit Gemälden und Zeichnungen tapeziert." Aus China berichtet Zhou Derong, dass den Chinesen ihre traditionellen Feste nicht mehr taugen; man orientiert sich auch hier nach Westen. In Ho-Chi-Minh-Stadt - das allerdings weithin auch heute noch Saigon genannt wird - hat Paul Ingendaay den 94-jährigen Historiker Tran Van Giau besucht, den "meistgeachteten Intellektuellen Vietnams".

Außerdem: Weitere Notizen aus der Parallelgesellschaft: Andreas Rosenfelder hat sich in der Kölner Keupstraße umgesehen. Vorgestellt wird Samuel Kummer, ab dem 1. Juli 2005 "Organist der wiederaufgebauten Frauenkirche in Dresden". Kurz gemeldet wird zum einen, dass sich Christoph Schlingensief mit einer Auftragsarbeit für Regensburg als Kulturhauptstadt 2010 in die Bresche wirft und zum anderen, dass Frank "Methusalem" Schirrmacher als "Journalist des Jahres" ausgezeichnet worden ist. Nur online: Ein Nachruf auf Susan Sontag (dazu der Verweis auf ein Porträt aus dem Jahr 2003).

Zu den Rezensionen: Einer Inszenierung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" an der Comedie Francaise bescheinigt Joseph Hanimann einen bedauerlichen Mangel an "Bosheit". Besprochen werden im Doppelpack die Filme "Licht meiner Augen" und "Agata und der Sturm", sowie eine venezianische Aufführung von Jules Massenets Oper "Roi de Lahore". Die Glosse berichtet von einem fulminanten Auftritt György Kurtags bei den "Tagen für Neue Musik" in Weingarten. Zu erfahren ist überdies, "wie Wien in Wien Wien ausstellt" und wie der Hamburger Kunstverein den "Formalismus" als Gegenwartstrend erkundet. Felicitas von Lovenberg bereitet sich und uns geistig auf den sechsten Harry Potter vor. Besprochen werden Jürg Beelers Kurzroman "Das Gewicht einer Nacht", eine Chronik, mit der sich der Schöffling Verlag zum Zehnjährigen gratuliert und der Sachbuch-Listenbestseller "Schotts Sammelsurium" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 29.12.2004

Edith Kresta unterhält sich mit dem Religionswissenschaftler Muhammad Kalisch, der "aus rationalistischen Gründen" zum Islam übergetreten ist und seine Religion gegen die religiöse Aufrüstung des Westens verteidigt. "Ich polemisiere gegen diese Art von Selbstbeweihräucherung, wie sie jetzt betrieben wird: Da gehen die gesamte europäische Aufklärung plus Menschenrechte und Demokratie quasi nahtlos aus dem Christentum hervor. So wird ein Gegensatz zum Islam aufgebaut. In dem Sinne: Wenn im Christentum etwas schief läuft, dann ist es falsch verstandenes Evangelium; und wenn im Islam Bomben geworfen werden, dann ist dies richtig verstandener Islam. Ich kritisiere Menschenrechtsverletzungen im Iran und ich kritisiere, was in Saudi-Arabien vor sich geht. Aber ich sage Ihnen ganz offen, ich habe als Muslim Angst vor gewissen Dingen, die in der westlichen Welt ablaufen." Kalisch hielt einen Vortrag zur Eröffnung der Muslimischen Akademie in Berlin. Kresta stellt die neue Institution kurz vor.

Weiteres: Reinhard Seiss blickt auf die Geschichte der stalinistischen Architektur zurück. Christian Bröcking streift in seiner Jazzkolumne durch die Neuheiten der europäischen Jazzszene. Mathias Greffrath besichtigt auf der Meinungsseite mit seiner Nichte die Renaissance der Religion an Weihnachten und fordert eine selbstkritische zweite Reformation. Auf der Medienseite sieht Clemens Niedenthal Edgar Reitz' "Heimat 3" scheitern und vermutet, es liegt an der wirklichkeitsnahen und deshalb zu komplexen Darstellung.

Und Tom.

FR, 29.12.2004

Martina Meister sieht in Frankreich eine neue Gründerzeit der Kultur heraufziehen. Zwei Museen planen die Architekten Tadao Ando und Jean Nouvel alleine in Paris. Der französische Milliardär und Geschäftsmann Francois Pinault investiert allein auf der Seine-Insel Seguin bei Paris 165 Millionen Euro. "Man könnte denken, dass bei diesen Budgets für die anderen Pariser Museen nichts mehr übrig bleibt. Aber ihre Direktoren sind gewieft: Sowohl der Louvre als auch das Pariser Centre Pompidou wollen in die Provinz expandieren, Filialen aufbauen, die weitgehend von den dortigen Ländern, Kommunen und aus Brüsseler Töpfen finanziert werden, um letztlich Kunst zu zeigen, die in den Mutterhäusern ohnehin in den Reserven steht. Von der Entwicklung abgehängte Städte wie Metz und Lens, beide Opfer einer hartnäckigen Des-Industrialisierung, erhoffen sich dadurch tatsächlich den 'Bilbao-Effekt'."

Weitere Artikel: Helmut Höge erklärt die Krim zur deutschen Seelenlandschaft. Michael Hocks, der Intendant der Alten Oper Frankfurt, erklärt Stefan Schickhaus das Konzept seiner "polkafreien" Neujahrskonzerte. In Times mager mokiert sich Peter Michalzik über die stimmungsempfindliche deutsche Wirtschaft. Gemeldet wird, dass der Schriftsteller Hannsferdinand Döbler gestorben ist und dass Christoph Schlingensief ein eigenes Stück für den europäischen Kulturhauptstadt-Bewerber Regensburg entwerfen will. Antje Hildebrandt plaudert auf der Medienseite mit dem Hobbythek-Moderator Jean Pütz, der demnächst in den Ruhestand geht. "Die meisten Klagen kamen zum so genannten Fernsehschirmspiel."

Besprochen Bücher, darunter Hanns-Josef Ortheils essayistische Textsammlung "Die weißen Inseln der Zeit", eine Neuauflage von Bertolt Brechts "Geschichten vom Herrn Keuner" in der Zürcher Fassung, und die Wiederauflage von Walker Evans "sensationellem" Fotoband mit Pendler-Porträts "Many Are Called" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 29.12.2004

Aus Israel berichtet Angelika Timm, dass das Vertrauen der Israelis in ihre demokratischen Institutionen zwar stetig sinkt, sich dafür aber immer mehr Bürger in NOGs engagieren. So etwa in der "Bewegung für Regierungsqualität" (mehr hier), die sich einer spontanen Aktion des frustrierten Jurastudenten Eliad Shraga verdankt, "der 1990 vor dem Wohnsitz des israelischen Präsidenten in einen 18-tägigen Hungerstreik gegen 'Korruption und die offensichtliche Erosion ethischer Werte' trat."

Weiteres: Birgit Sonna stellt das Kunstprojekt "Utopia Station" vor, das derzeit im Münchner Haus der Kunst gastiert und eine internationale Schar von Kunstrebellen versammelt, "die über Generationsgrenzen hinweg nicht nur radikal neue Formate ersinnen, sondern auch ein konzertiertes gesellschaftspolitisches Statement zur Lage der Nationen wagen". Mathias Remmele hat eine Bielefelder Schau zum Wirken des Designer-Paares Alvar und Aino Aalto besucht. Und natürlich meldet auch die NZZ den Tod der großen Kulturkritikerin Susan Sontag.

Besprochen werden Bücher, darunter der Roman "Hunger der Gezeiten" des indischen Autors Amitav Ghosh, der "ein gewaltiges Panorama der Sundarbans", der bedrohten Inselwelt im Ganges-Delta entwirft, sowie eine neue Eichmann-Biografie von David Cesarani und der "auf die Dauer ein wenig fade" schmeckende Roman "Musik" von Thomas Meinecke (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 29.12.2004

"Sorgen kommen nicht als einzelne Spione, sondern als ganze Bataillone": Der Geologen und Sachbuchautor Simon Winchester erklärt im Gespräch mit Andrian Kreye das Seebeben von Sumatra und andere Naturkatastrophen - und und deren ungleiche Verteilung: "Nehmen Sie Indonesien, den seismisch wohl aktivsten Ort der Welt, gleichzeitig ein dichtbevölkertes Land mit 170 Millionen Einwohnern. Die Indonesier nehmen das Risiko als Teil ihres Lebens hin, kaum anders als die Bewohner Londons, die Regen als alltäglich empfinden. Man sollte meinen, dass Menschen sich nicht mehr an seismisch riskanten Orten ansiedeln, sondern alle nach Kansas und ins mittlere Australien ziehen. Nur leider sind diese Orte wenig lebensfreundlich - und langweilig außerdem. Im übrigen scheint es, als würden Länder, die regelmäßig Naturgewalten wie Stürmen, Erdbeben oder Flutkatastrophen ausgesetzt sind, weniger für die Aufklärung der tieferen Ursachen tun. Menschen brauchen nun mal Stabilität, um die Physik, Chemie oder Geologie ihrer Umwelt zu ergründen. Man findet Labore und Institute eher in stabilen Gesellschaften wie in Nordeuropa oder Nordamerika. Hat das nur etwas mit Reichtum zu tun oder auch mit Stabilität? ... Ich bin mir sicher, dass man zwischen Wohlstand und geologischer Stabilität Schlüsse ziehen kann."

Der ukrainische Schriftsteller und Journalist Mykola Rjabtschuk beschreibt die politische Landkarte seines Heimatlandes und betont das Problem der tiefen geschichtlichen Gräben, die das Land durchziehen. "Die Regionen, in denen Juschtschenko die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, stimmen ungefähr mit den historischen Grenzen der polnischen Adelsrepublik zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung überein. Die Gebiete, in denen Janukowitsch gewonnen hat, haben bis 1991 niemals außerhalb des russischen Machtkreises existiert und deshalb Sowjetwerte und die entsprechenden Muster des bürgerlichen - oder eher unbürgerlichen - Verhaltens zutiefst verinnerlicht."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld schreibt einen schnellen Nachruf auf die verstorbene Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag. Helmut Mauro hört sich einige Neuaufnahmen der Werke von Michael Haydn an, der gerade langsam, aber sicher wieder entdeckt wird. Auf der Medienseite warnt Hans-Jürgen Jakobs, dass die Großverlage mit ihren Expansionsplänen nur die Titelschwemme vergrößern. Und auf der Literaturseite referiert Carlos widmann das Verhältnis von Jorge Louis Borges zu seiner Haushälterin Fanny, die jetzt ihre Memoiren herausgebracht hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit russischer Revolutionskunst aus der Sammlung von Georgios Costakis im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Uraufführung von Rene Polleschs "Stadt ohne Eigenschaften" in Stuttgart, der Film "Team America: World Police" von den South-Park-Machern, Andrzej Klamts und Ulrich Rydzewskis Dokumentarfilm "Carpatia", Philippe Manourys Klavierstück "La ville (...premiere sonate...)" auf CD, Jos van Immerseels Aufnahmen der Orchesterwerke von Liszt, und Bücher, darunter Albrecht Wellmers "handwerklicher" Versuch einer "Sprachphilosophie" sowie Anna Wahlgrens "KinderBuch" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).