Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2005. Für die NZZ besucht Navid Kermani die Dissidenten unter den iranischen Ayatollahs. Die FR fürchtet eine Musealisierung von Paris aufgrund der exorbitanten Wohnungspreise. Die taz sieht die Männermode auf dem Weg zum Gebrauchten (gigantische Fusseln an neuen Pullovern!) Die FAZ sieht in Bush den Mann der Zukunft. Die Welt schickt Simon Rattle zu seinem Fünfzigsten einen kritischen Geburtstagsgruß.

NZZ, 19.01.2005

Der Schriftsteller Navid Kermani hat im Iran kritische Theologen besucht, denen allmählich aufgeht, dass vielleicht der Islam reformierbar sei, nicht aber das politische System der theokratischen Republik. Getroffen hat Kermani auch Großayatollah Hossein Ali Montazeri, der einst als Nachfolger von Khomeini designiert war, dann aber unter Hausarrest gestellt wurde, nachdem er die Menschenrechtsverletzungen im Iran kritisiert hatte. "Montazeri ist voller Witz und Schlagfertigkeit, dazu noch ohne jeden persönlichen Dünkel, ohne eine Spur von Eitelkeit, die ihm als ranghöchstem Theologen Irans und langjährigem politischem Häftling doch zukäme. Zugleich aber erschüttert der Pessimismus, mit dem er über sein Land spricht, obwohl er doch nun selbst freigelassen worden ist. Keine Zwangsherrschaft könne sich auf Dauer halten, sagt Montazeri, nicht mehr in dieser Welt. Die Frage aber sei doch, in welchem Zustand das Land sei, wenn es endlich selbst über seine Geschicke bestimme, ob es den Iranern noch gelinge, den Übergang friedlich und aus eigener Kraft zu gestalten."

Weitere Artikel: Andrea Köhler berichtet vom "Gates"-Projekt des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude im New Yorker Central Park, das nach ganzen 25 Jahren Planung nun in die Endphase geht (Bilder gibt es hier), und Jörn Ebner hat sich das von Norman Foster entworfene Sage Music Centre in Gateshead angesehen, das kürzlich eröffnet wurde.

Besprochen werden ein Buch von über den japanischen Erfolgsautor Haruki Murakami und Immanuel Wallersteins dritter und letzter Band der monumentalen historischen Untersuchung "Weltsystem" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 19.01.2005

"Die Musealisierung von Paris ist unaufhaltsam", fürchtet die Kulturkorrespondentin Martina Meister. Grund sind die exorbitant gestiegenen Wohnungspreise, die dazu führen, dass immer mehr mittelständische Mieter verdrängt werden, weil die Eigentümer verkaufen wollen: "Da das vor allem die großen Wohnungen in den besseren Vierteln betrifft, kann sich das kaum ein Bewohner leisten. Die Quadratmeterpreise liegen bei durchschnittlich 5000 Euro - in den so genannten beaux quartiers können sie leicht das Doppelte erreichen. So trifft es zum ersten Mal die so genannten Bobos, die Bourgeois-Bohemiens, die zwar in der Lage sind, gepfefferte Mieten zu bezahlen, aber in der Regel nicht über Generationen so wohlhabend geworden sind, dass sie einen Wohnungskauf über mehr als eine Millionen Euro finanzieren könnten."

Weitere Artikel: In Times mager kommentiert Sebastian Moll die von Christo geplante Aktion im New Yorker Central Park als Touristenspektakel. Hans-Klaus Jungheinrich berichtet über die Wiederentdeckung des Komponisten Karl Amadeus Hartmann in dessen 100. Geburtsjahr. Besprochen werden die CD "Superwolf" des Duos Matt Sweeney & Bonnie "Prince" Billy (mehr hier), die "Caricatura" in Kassel, ein Konzert des SWR Sinfonieorchesters unter Sylvain Cambreling in der Alten Oper Frankfurt und weitere regionale Ereignisse.

TAZ, 19.01.2005

Katrin Kruse berichtet über die Pitti Uomo, die Bekleidungsmesse für Männermode in Florenz, wo man die Wintermode des nächsten Jahrs begutachten konnte. Der Trend geht zum Gebrauchten: "Neu in dieser Saison ist dort der Patina-Druck, den das ungefütterte Wolljackett erfährt. Innen ist die hellere Originalfarbe zu sehen, außen liegt ein hübscher Gilb. Und dazu der Rautenpullover, den Pringle of Scottland erstmalig 'brushed', also mit gigantischen Fusseln, anbietet."

Weitere Artikel: Wolfgang Müller hat sich Ausstellungen im Reykjavik angesehen (zum Beispiel im Reykjavik Art Museum, das eine 150 Fotografien umfassende Sammlung des englischen Fotografen Brian Griffin erworben hat). Besprochen wird Amitav Ghoshs Roman "Hunger der Gezeiten" (mehr hier), in dem der Autor die Geschichte der Sundarban-Inseln vor Indien und Bangladesch erzählt.

Auf den Tagesthemenseiten schreibt Barbara Bollwahn über die Integrationsprobleme jüdischer Einwanderer in Berlin. In der tazzwei interviewt Stefan Grissemann Martin Scorsese zu seinem jüngsten Film "Aviator". Auf der Medienseite sagt Hannah Pilarczyk den heutigen Start der Harald-Schmidt-Show in der ARD an.

Und hier Tom.

FAZ, 19.01.2005

Die Amerikaner haben George W. Bush nicht wegen seiner "moral values" gewählt, glaubt Heinrich Wefing nach Lektüre einiger Bücher, sondern wegen seiner "Zukunftszugewandtheit". Das erkläre auch, warum Bush "bei fast jeder ethnischen, soziologischen, regionalen Gruppe" Stimmen hinzugewonnen habe. Denn "wenn ein schwer zu erschütternder Optimismus, ein enthusiastischer Veränderungswille, der Glaube an den Garten Eden hinter der nächsten Highway-Kreuzung tatsächlich zur Nationalreligion vieler Amerikaner zählen, dann lassen sich auch manche politische Entscheidungen durch amerikanische Augen ganz anders betrachten als durch europäische: Wer die Hoffnung hat, er selbst, spätestens aber seine Kinder würden zu den Reichen gehören, der hat gegen Steuersenkungen für die Oberklasse wenig einzuwenden."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann beschreibt die Beisetzung Susan Sontags auf dem Friedhof von Montparnasse ("in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Fotografen Brassaï, zum Schriftsteller Joris-Karl Huysmans sowie in Blickweite der Gräber Becketts, Ciorans und Vallejos"). Christian Schwägerl fürchtet die nächste Naturkatastrophe, eine "katastrophale Influenza-Epidemie", auf die Deutschland nicht im geringsten vorbereitet sei. Andreas Kilb schreibt zum Tod der Schauspielerin Virginia Mayo. Dietmar Dath schreibt zum Tod von Clark Dalton, dem Erfinder Perry Rhodans.

Auf der letzten Seite gratuliert Edo Reents dem nach (wieviel?) Jahren gefundenen Nachfolger von Freddy Mercury bei Queen: Paul Rodgers. Dietmar Dath erklärt den Materialismusbegriff der australischen Philosophen, der sich von allen anderen unterscheide: "Wahrheit entsteht durch Beobachtung und logischen Schluss, basta." Und Andreas Rossmann erzählt, wie die Dortmunder SPD den Intendanten der "Philharmonie für Westfalen" Ulrich Andreas Vogt aus dem Amt geekelt hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Designerpark - Leben in künstlichen Welten" im Darmstadter Institut Mathildenhöhe, die Ausstellung "Von Büchern und Bäumen" im Architekturmuseum Basel, die Uraufführung von Kaurismäkis "Mann ohne Vergangenheit" in Dresden ("ein Fest des lakonischen Minimalismus", schreibt Irene Bazinger), Martin Scorsese Film "Aviator" ("So ist es am Ende wie immer bei Scorses: Männer, die um sich selbst kreisen und sich wundern, dass die Frauen irgendwann nichts mehr von ihnen wissen wollen. Bei aller technischen Brillanz ... wirkt das doch auch irgendwie abgeschmackt", findet Andreas Kilb) und ein Konzert der Hamburger Band Superpunk in Frankfurt.

Welt, 19.01.2005

Simon Rattle wird 50. Der Welt-Kritiker Manuel Brug schickt dem Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker einen etwas säuerlichen Geburtstagsgruß: "Es fehlt das klare Profil. Nach zweieinhalb Spielzeiten ist es jetzt nötig, Linien, Wege, Ausrichtungen erkennen zu lassen. Ein Orchester ist heute nicht mehr nur ein Orchester. Es muss neben der üblichen Repertoire-Reihung für bestimmte Projekte, Auseinandersetzungen, Fragestellungen stehen. Darin haben die Berliner Nachholbedarf. Die Zeit des kindlichen Kennenlernens ist vorbei."

Tagesspiegel, 19.01.2005

Frank Baumbauer, Intendant der Münchner Kammerspiele empfiehlt im Interview mit Peter Laudenbach und Rüdiger Schaper, die Intendantensuche am Deutschen Theater Berlin vorerst aufzugeben: "Was das Deutsche Theater jetzt braucht, ist eine Phase der Konzentration und Zeit. Herr Flierl oder Herr Wowereit sollten auf Bernd Wilms zugehen und ihn bitten, seinen Vertrag um zwei oder drei Jahre zu verlängern. Sieben oder acht Jahre sind eine gute Intendanz-Strecke. Dann schreiben wir das Jahr 2008 beziehungsweise 2009. Es gibt dann auch wieder genügend Intendanten, die kompetent und bereit wären."
Stichwörter: Berlin

SZ, 19.01.2005

Fritz Göttler feiert Martin Scorseses Howard-Hughs-Film "Aviator", die Flugzeuge und die Männer, die so merkwürdig die Frauen lieben: "Auf einer der zahllosen enervierenden Partys schnappt Howard (Leonardo DiCaprio) sich die geliebte Kate Hepburn und improvisiert mit ihr einen Flug übers nächtliche L. A., der die Dinge, in jeder Hinsicht, zum Schweben bringt. Er schwingt ihr den Steuerknüppel vor den Schoß und holt aus der Kühlbox eine Flasche strahlend weißer Milch, aus der auch sie trinken darf - trotz seiner panischen Furcht, sich fremde Keime und Bakterien bei anderen Menschen zu holen. So sind sie eben, die Scorsese-Männer, und seltsam und naiv sind ihre Methoden, ihre Liebe zum Ausdruck zu bringen - mit Wehmut erinnert man sich, wie damals Travis Bickle, der Taxi Driver, ganz selbstverständlich den blonden Traum seines Lebens ins Pornokino ausführte!"

Weiteres: Der Schriftsteller Georg M. Oswald erkennt in Rudolph Moshammer den perfekten Vertreter des Camp, wie ihn Susan Sontag beschrieb. Oder anders gesagt: "Moshammer war keine Rokoko-Kirche, aber er versuchte, etwas Ähnliches zu sein." Dorothee Müller hat auf der Kölner Möbelmesse zwar keine Sensationen entdeckt, aber neue Trends: "Als neues Wohngefühl wird 'Techromantik' propagiert. Ein Stuhl ist demnach nicht mehr nur ein Stuhl, der zum sitzen dient, sondern auch ein Objekt, das 'unserer Welt den Zauber zurückgibt, ein Verbündeter, ein Geliebter'." W.S. lässt den Mozart-Forscher Ulrich Konrad Einwände gegen die von Robert Levin komplettierte c-moll-Messe erheben: "Man kann einen musikalischen Gedanken nicht rekonstruieren." C. Bernd Sucher gratuliert dem Schauspieler Rudolf Wessely zum Achtzigsten. Titus Arnun schreibt zum Tod Walter Ernsting, dem Erfinder von Perry Rhodan. Auf der Medienseite rechnet Hans-Jürgen Jakobs aus, dass Harald Schmidt bei insgesamt 9,7 Millionen Euro 150.000 Euro pro Sendung von der ARD bekommt.

Besprochen werden eine offenbar grandiose Gurdjieff-Einspielung der Münchner Cellistin Anja Lechner und des griechischen Pianisten Vassilis Tsabropoulos, das neue Album "Burning Mind" der fiesen Noise-Band Wolf Eyes, die CD mit den "German Years" von Moondog, die Aufführung der fast schon vergessenen Offenbach-Oper "Les Fees du Rhin" in Ljubljana und Bücher, darunter Robert Schneiders Roman "Kristus" Edmund Crispins "schönster Krimi" "Mit Freuden begraben" und Elaine Pagels "Geheimnis des fünften Evangeliums" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).