Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2005. Die RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken wirft ihre Schatten voraus. In der taz versucht Felix Ensslin zu ermessen, wie weit die Zumtung gehen darf. In der SZ erklärt Jörg Immendorff, dass ihm die RAFler damals wie "ausgeflippte Kleinbürger" erschienen. Und sonst: In der Welt stellt der Politologe Herfried Münkler das Versagen der NGOs beim Tsunami fest. Die FAZ am Sonntag traf Cy Twombly.

TAZ, 24.01.2005

Brigitte Werneburg und Harald Fricke unterhalten sich mit Felix Ensslin, der die RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken mitkuratiert hat. Ensslin nimmt die Kunst für die Erkenntnis in Beschlag. "Da darf die Zumutung sehr weit gehen. Christoph Draeger, der ungefähr meine Generation ist, hat in einer Arbeit auf vier Videomonitoren die Zellen der vier, die in Stammheim versuchten Selbstmord zu begehen, rekonstruiert. Aber die Monitore sind nicht einfach zugänglich. Sie stehen hinter einer Wand. Der Besucher muss wie bei einer Peepshow durch ein Loch schauen. Er muss also auch entscheiden, ob er will, dass jeder sieht, dass er sehen will."

Besprechungen widmen sich Constanza Macras' Choreografie "Big in Bombay" im Haus der Berliner Festspiele (Macras und ihre Compagnie sind eigens vor Ort gewesen und haben sich unter anderem mit Disney-Masken in den Verkehr der Großstadt gestellt), zwei neuen Alben der Bright Eyes unter Songwriter Conor Oberst (Er "war ein Wunderkind, jetzt ist er ein Wunder", flüstert Arno Frank) sowie ein Konzert der Soulsängerin Malia im Berliner "Quasimodo" ("Malia treibt den Sekretärinnen-Soul zu neuen Ufern", findet Daniel Bax).

Und Tom.

SZ, 24.01.2005

Stefan Koldehoff unterhält sich mit Jörg Immendorff, dessen Bild "Parlament I" in der RAF-Ausstellung der Berliner Kunst-Werke (Eröffnung: 29.1.) zu sehen sein wird, über die künstlerische Auseinandersetzung mit der Terror-Gruppe, die Immendorff damals eher abwegig vorkam. "Wir haben die als ausgeflippte Kleinbürger betrachtet. Ich habe großen Respekt vor den Hinterbliebenen und kann mir nur annähernd vorstellen, wie schmerzhaft das war. Aber politisch hatte die RAF keine Dimension - mit der fatalen Konsequenz, dass sie über Leichen ging. Deshalb haben wir gesagt, das sind ausgeflippte Spießer. Mit tödlichen Konsequenzen für sich und für andere."

Holger Liebs wandelt fasziniert durch die Retrospektive des Künstlers Carsten Nicolai in der Frankfurter Schirn, bestaunt Schallwellenmuster auf Milch oder Teilchen aus dem All in der Diffusions-Nebelkammer. Nicolai stelle eine offene Verbindung zwischen technischer und menschlicher Sphäre her. "Dabei geht er wie ein Melancholiker vor, der die Trümmerstücke der nicht restlos enträtselten Welt zusammenklaubt. Wie Ruinen des High-Tech-Zeitalters sind die Exponate in der Schirn ausgelegt, zeigen trotz aller aseptischen Kühle der Inszenierung vor allem Fragmente der Erkenntnis auf einem Planeten, der letzten Endes nur der Klopstock"sche 'Tropfen am Eimer' des Universums bleiben muss."

Weitere Artikel: Christine Drössler spekuliert über den Autor Thomas Oberender als neuen Namen im Besetzungskarussell des Deutschen Theaters in Berlin. Die anonyme Intendantenszene sieht das skeptisch. "Oberender ist zu sympathisch. Er hat keine Feinde. Das ist ein Problem." Alexander Kissler beklagt die inflationäre Verwendung des Begriffs der Menschenwürde und die damit einhergehende Sinnentleerung. Ralf Dombrowski meint auf der Musikmesse Midem den unaufhaltsamen Trend zu kostenlosen legalen Downloads erkannt zu haben. Ulrich Kühne genießt auf einer dreitägigen und hochkarätig besetzten Einstein-Tagung in der Berliner Akademie der Wissenschaften unter anderem Schwyzer Englisch, Wiener Englisch oder Preußisches Englisch. "Imue" streift die offenen Finanzierungsfragen der Berliner Akademie der Künste samt ihres neuen Baus. Im Medienteil greift Hans-Jürgen Jakobs den Streit zwischen Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff und NDR-Intendant Jobst Plog auf. Und Karl-Otto Saur annonciert die Wiederausstrahlung des Vierteilers "Holocaust" auf Arte.

Nathan Shachar Carmona wundert sich auf der Literaturseite lesenswert über die Lebendigkeit von Miguel de Cervantes' 400 Jahre alten Ritterroman. "'Don Quijote' ist ein Buch mit ausgedehnten Längen. Die Komposition ist schwach, neigt an einigen Stellen zum blanken Unfug, und mehrere Episoden des ersten Teils sind offenbar mit dem Schuhlöffel in die Handlung gefügt worden. Und dennoch zählt das Buch zu den wenigen unsterblichen Werken der Literaturgeschichte. Warum?" Weil es so unerhört sinnlich ist, weiß Carmona.

Besprochen werden Helge Schneiders in Bochum uraufgeführte Krimi-Persiflage "Aprikose, Banane, Erdbeer - Kommissar Schneider und die Satanskralle von Singapur" ("Kasperltheater für Erwachsene? Wer findet denn so was komisch? Alle", wie Alex Rühle feststellt), Michael Thalheimers Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Katja Kabanowa", zwei Alben des Songwriters Conor Oberst alias "Bright Eyes", David S. Goyers dritter Teil der filmischen Vampirjägersaga "Blade", und Bücher, darunter die von Rainer Weiss herausgegebene Auswahl an Briefen Siegfried Unselds an seine Autoren und Uwe Japps Untersuchung über "Das deutsche Künstlerdrama" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 24.01.2005

Thomas Veser besucht das Galicia Jewish Museum (Homepage), das der britische Pressefotograf Chris Schwarz im Krakauer Stadtteil Kazimierz eingerichtet hat. Andreas Oplatka war zu Gast im Centre for Advanced Study in Sofia.

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Albert Ostermaiers "Nach den Klippen" in Wien (die laut Barbara Villiger Heilig nur dank der Schauspieler nicht an den "Ostermaierschen Klippen des Kitschs" zerschellt), Verdis "Otello" in der Staatsoper Stuttgart und die deutschsprachige Erstaufführung des schottischen Exportschlagers "People next door" von Henry Adams am Schauspielhaus Zürich.

Welt, 24.01.2005

Die internationalen Organisationen, einst als neue "Instanzen einer übernationalen Zivilgesellschaft" gefeiert, sind die großen Verlierer der globalen Hilfsbereitschaft nach dem Tsunami, stellt der Politologe Herfried Münkler fest: "Sind Landsleute zu Schaden gekommen, wird die eigene Regierung zum Hauptadressaten. Und je mehr Landsleute Opfer geworden sind, desto stärker beschäftigt uns eine Katastrophe. Dies scheint das Dilemma internationaler Organisationen zu sein: dass wir uns nur dann auf sie verlassen wollen, wenn wir selbst nur marginal betroffen sind."
Stichwörter: Münkler, Herfried, Tsunami

FR, 24.01.2005

Alvis Hermanis veranstaltet "Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt", und Peter Michalzik macht es sich beim "Lesegottesdienst des Rigaer Dramaturgen am Schauspiel gemütlich. "Es wird vorgelesen, angespielt, anverwandelt, hineinversetzt, jene Form kunstlos-kunstvollen, kargen Theaters hergestellt, wie sie auch hierzulande, selbst bei Hochglanzproduktionen ('Wer hat Angst vor Virginia Woolf?' in Berlin) wieder in Mode gekommen ist. Bloß kein Bluff." Michalzik bewundert die Originalität des Regisseurs: "Er ist kein Zyniker, kein Ironiker, kein Pathetiker, kein Dekonstrukteur und auch kein Konstrukteur. Wenn er so weitermacht, werden wir eine neue Kategorie finden müssen. 'Irritant' wäre eine Möglichkeit."

Weitere Artikel: In Times mager im Feuilleton erinnert sich Adam Olschweski wehmütig an den Drachen der einstigen Postfiliale. Besprochen wird Burkhard Kosminskis Inszenierung des "Stillers" von Max Frisch als "eitles Konversationsdrama" am Schauspiel Frankfurt.

Auf der Medienseite resümiert Eva Schweitzer die Leistungen von Michael Powell, Sohn des US-Außenministers und umstrittener Chef der Rundfunkaufsicht, der seinen Rücktritt angekündigt hat.

FAZ, 24.01.2005

Draußen Schneeregen, und die Seite 1 des FAZ-Feuilletons ist voller Verrisse, na danke. Gerhard Stadelmaier traktiert die Dramatisierungen des Romans "Stiller" von Max Frisch und "Ljod" von Vladimir Sorokin am Schauspiel Frankfurt ("Schwundtheater"), Eleonore Büning Leos Janaceks Oper "Katja Kabanowoa" in Michael Thalheimers Inszenierung an der Berliner Staatsoper ("blutarm") und Eberhard Rathgeb in der Leitglosse Ingrid Lausunds Spektakel über Schillers "Ode an die Freude" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ("Unfug").

Weitere Artikel: Der Literaturwissenschaftler Ulrich Fröschle setzt die Debatte um den kürzlich aufgefundenen Brief Paul Celans an Ernst Jünger fort und hält es anders als der kürzlich schreibende Jean Bollack sehr wohl für denkbar, dass Jünger Celan gelesen hat. Tilman Spreckelsen hat junge deutsche Filme beim Festival von Saarbrücken gesehen. Thomas Wagner verbittet sich Werbungen des Frankfurter Städels, die eine Abbildung von Vermeers Briefeschreiberin mit dem Spruch "E-Mail 1665" verbinden, als Anbiederung an den Zeitgeist.

Auf der Medienseite unterhält sich Frank Schirrmacher ganzseitig mit Helmut Markwort über seine Pläne zur Integration der Verlage der Milchstraße bei Burda, seine Kindheit in der Nazizeit und vieles mehr.

Auf der letzten Seite lässt Wolfgang Köhler Reformbewegungen der arabischen Welt zu Wort kommen, die offensichtlich von den USA gefördert werden, aber wenige Chancen haben. Angelika Heinig berichtet von Protesten von Lehrern und Künstlern in Paris, die nicht mehr kostenlos in den Louvre dürfen. Und Verena Lueken porträtiert die Autorin Tereska Torres, deren Tagebücher über den Exodus von Holocaust-Opfern nach Israel unmittelbar nach dem Krieg vom Jüdischen Museum in Berlin auszugsweise veröffentlicht werden.

Besprochen werden Kurzopern an der "Opera stabile" in Hamburg, Albert Ostermaiers Stück "Nach den Klippen" am Wiener Akademietheater, Martin Kusejs Inszenierung von Verdis "Otello" in Stuttgart und Sachbücher, darunter ein Band mit Heideggers Schriften zu Ernst Jünger und Julius Poseners Erinnerungen an Deutschland von 1904 bis 1933.

Zitiert sei noch aus dem Feuilleton der Sonntags-FAZ: Niklas Maak hat den Maler Cy Twombly in seiner einsamen Kate in Italien besucht. "Einmal, erzählt Twombly, habe er ein Bild von Rauschenberg, das schon verkauft war, übermalt. Am nächsten Morgen hing dort, wo ein Rauschenberg gehangen hatte, ein Twombly. Der Galerist war entsetzt. Er hatte einen Twombly gewonnen, aber einen Rauschenberg verloren. Man hätte den Twombly zerstören müssen, um den Rauschenberg freizulegen. Twombly, der Meister der Spur, des Verschwundenen, des Palimpsests, liebt solche Geschichten. "