Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2005. Die FAZ feiert die "atemraubend asynchron verhäkelten, kastagnettenbewaffneten Pausenclown-Ballette" in Sasha Waltz' erster Operninszenierung. Sie weigert sich zudem, kinderlose Frauen den Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Die FR empfiehlt die erste Rapsdieselkomödie der Theatergeschichte, Lukas Bärfuss' Religionsdrama "Der Bus" am Hamburger Thalia Theater.

FAZ, 01.02.2005

Eleonore Büning empfiehlt wärmstens Sasha Waltz' erste Operninszenierung, Purcells "Dido und Aeneas" in Luxemburg, die demnächst auch in Berlin laufen wird. Ein riesiges Aquarium hat sie dafür auf die Bühne gestellt, "in dem Tänzerinnen und Tänzer des Waltz-Ensembles untertauchen und das alte Pan-jagt-Nymphe-Spiel spielen, während oben auf dem Dach der Nasszelle eine hagere Venus steht und mit Sonnengott Phoebus ein Tässchen Tee trinkt, schönverschraubte Reden schwingend über den Frühling, die Liebe und so fort... Man hätte sich dafür bessere Sprecher gewünscht. Bessere Tänzer aber als Charlotte Engelkes und, einen Kopf kleiner, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola sind schwerlich zu finden. Das ungleiche Götterpaar leistet sich vorn an der Rampe ein atemraubend asynchron verhäkeltes, kastagnettenbewaffnetes Pausenclown-Ballett auf der Stelle, während hinten das Vorspiel-Wasser abgelassen und das Planschbecken entsorgt wird."

Die FAZ setzt ihre "Mütterdebatte" (so nennt es diese Zeitung selbst) mit einem Debattenbeitrag von Dietmar Dath fort, der die Frauen nicht zum Kinderkriegen zwingen will und in Zeiten demographischen Schwindens immerhin den einen Trost bereithält, dass "Alte, die keinen Nachwuchs großgezogen haben, heute zumindest in den reichen Ländern längst nicht mehr Futter für die Geier (sind) wie die frühen Hominiden Afrikas im analogen Fall".

Weitere Artikel: Edo Reents macht uns in der Leitglosse mit den Finessen des Erwerbs von Tickets für die Fußballweltmeisterschaft 2006 bekannt. Mark Siemons berichtet über internationale Verhandlungen in der Unesco für ein Abkommen zur "kulturellen Vielfalt" (mehr hier), das den kulturellen Protektionismus a la fancaise internationalisieren soll. Wolfgang Schneider gratuliert dem Schriftsteller Dieter Kühn zum Sechzigsten. Kerstin Holm berichtet kurz über die Ausstellung "Russland 2" des Moskauer Galeristen Marat Guelman, der die Grenzen des Erlaubten in Putins autoritärem Regime ausloten will. Rainer Blasius erinnert an den Historiker Andreas Hillgruber, einen der Antagonisten Habermas' im Historikerstreit, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt geworden wäre. Rose-Maria Gropp gratuliert dem Verleger Lothar Schirmer zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Rainer Hermann über einen möglichen Börsengang des Senders Al Dschazira. Nina Rehfeld hat im amerikanischen Fernsehen eine Verfilmung des gloriosen Lebens von Arnold Schwarzenegger (mehr hier) gesehen. Michael Hanfeld berichtet über den Fortgang des Streits zwischen ARD und ZDF über die künftige Platzierung der Tagesthemen. Und Nina Rehfeld meldet, dass Michael Powell, der Sohn von Colin Powell, von seinem Posten als Leiter der amerikanischen Medienaufsichtsbehörde FCC zurücktritt.

Auf der letzten Seite stellt Martin Schlögl die dringende Frage: "Was ist eigentlich aus der Kultur der Poesiealben geworden?" Ludger Fittkau resümiert sehr weitgehende niederländische Debatten zu Demenz und Sterbehilfe. Und Michael Hermann porträtiert den armenischen Historiker Mihran Dabag, der das Bochumer Institut für Genozidforschung leitet.

Besprochen eine Ausstellung über Glanz und Untergang Byzanz' in München, Vladimir Moraveks Filmkomödie "Sex in Brno", Julien Greens Stück "Süden" und Georg Büchners "Woyzeck" in Düsseldorf und Lessings "Minna von Barnhelm" in Barbara Freys Inszenierung am Berliner Deutschen Theater.

NZZ, 01.02.2005

Roman Bucheli ist nicht gerade angetan von Christoph Heins neuem RAF-Roman: Nicht nur suche man vergeblich nach der Buchstabenfolge RAF, die an Wolfgang Grams angelegte Geschichte schramme außerdem "haarscharf am Kitsch vorbei". Peter Hagmann berichtet begeistert vom Festival Alter Musik "Resonanzen" im Konzerthaus Wien, wo er blendende Sänger und einen großartigen Schlagzeuger erlebt hat. Beatrix Langner gratuliert dem Schriftsteller Dieter Kühn zum 70. Geburtstag. Außerdem gibt es einen Textauszug aus Paula Köhlmeiers nachgelassenen Prosastücken "Maramba".

Außerdem besprochen werden eine Fotoausstellung von Germaine Martin im Musee historique in Lausanne, Joachim Fests Porträtsammlung "Begegnungen" und Birgit Schönaus Buch "Gebrauchsanweisung für Rom" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 01.02.2005

Peter Michalzik war bei der Uraufführung von Lukas Bärfuss' Religionsdrama "Der Bus" im Hamburger Thalia Theater und hat nur Lob zu verteilen. An Bärfuss, an Fritzi Haberlandt ("eine ideale Erika") und an den alkoholverliebten Peter Jordan. "Beseelter, drolliger, schwebender als bei Peter Jordan war Volltrunkenheit lange nicht mehr zu sehen. Aus der Religionskomödie wird eine schlaksige Schnaps- und dann, auf dem Höhepunkt der Spiritualität, die Rapsdieselkomödie." Schließlich an den "Regieroutinier" Stephan Kimmig, der für den "Bus" die richtige Mischung gefunden habe. "Nie verliert sich diese zarte, aus kurz aufblinkenden Szenen gebaute Aufführung dabei im Ätherischen, geschickt umkurvt ein nüchtern-heiterer Stephan Kimmig jede Absturzgefahr."

Weitere Artikel: Landesliga-Schiedsrichter Christoph Schröder klärt uns mit viel Theorie über die Probleme seines Standes auf: "Fußball und Schiedsrichterwesen sind zwei in sich geschlossene Systeme mit vollkommen unterschiedlich angeordneten Strukturen und Interessenlagen, innerhalb derer es nur dann zu strukturellen Kopplungen kommt, wenn in einem der beiden Systeme interne Regeln verletzt werden." Christian Thomas nutzt Times mager, um festzuhalten, dass am 30. Januar alles möglich war im betrugsgeschüttelten Fußball.

Auf der Medienseite resümiert Wolfgang Hettfleisch die Berichterstattung im Fall Hoyzer. Auf der Seite Forum Humanwissenschaften hält Georg Zenkert ein Plädoyer für ein positives Verständnis von Macht.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Papierarbeiten von Jackson Pollock in Berlin und zwei Bücher, der von Ulrich Beck und Christoph Lau herausgegebene Sammelband zur reflexiven Moderne "Entgrenzung und Entscheidung" sowie Pascal Beuckers und Frank Überalls Abrechnung "Die Beamtenrepublik. Der Staat im Würgegriff seiner Diener?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.02.2005

Cord Riechelmann enttarnt im Kulturteil den Begriff des ökologischen Gleichgewichts als bloße "Worthülse". Jan-Hendrik Wulf blättert in der aktuellen Ausgabe der "Internationalen Politik" und wird unter anderem mit der Überlegung konfrontiert, ob die EU nicht besser eine "robuste" Weltmacht werden sollte. Isolde Charim erinnert in der Sparte "theorie und technik" an das Politische in der Kunst und die "Praxen" von Louis Althusser.

In der zweiten taz spricht Daniel Bax mit dem türkischen Sänger Mustafa Sandal und dem deutschen Reggae-Star Tilman Otto alias "Gentleman" über Religion und ihre beiden Herkunftsländer, wobei zumindest Istanbul für manche Überraschung gut ist, laut Gentleman: "Ich war sehr überrascht, in Istanbul so viele Mädchen im Mini-Rock oder in Hotpants zu sehen."

Cosima Schmitt fasst die deprimierende Studie männer leben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zusammen, nach der allein ein dickes Portemonnaie für sexuelle Attraktivität und Kindersegen sorgt. Und Niklaus Hablützel ehrt Douglas Engelbart, den Erfinder der Computermaus und ungebrochenen Visionär einer technisch erleuchteten Zukunft. Auf der Medienseite meldet Peer Schader, dass die Amateurradios im Internet bedroht sind, weil die Musikindustrie jetzt mehr für die Zweitverwertung verlangt.

Eine einsame Besprechung widmet sich dem ersten Soloalbum von Lou Barlow.

Und Tom.

SZ, 01.02.2005

In der Reihe "Kunstsammler des 21. Jahrhunderts" porträtiert Wolfgang Kemp den Sammler und Verleger Lothar Schirmer. Der "begann als Oberschüler mit wenig Taschengeld und dem auf dem Bau verdienten Ferienlohn zeitgenössische Kunst zu kaufen. Er legte dabei nicht die zu erwartende Schüchternheit des jungen Menschen an den Tag, der fern und einsam die Objekte seiner Begierde einheimst. Um den Künstler zu verstehen, musste er in Künstlers Lande gehen, wie Goethe es etwas anders gesagt hat. Das war eine wesentliche Weichenstellung für ihn. Er sagt heute, dass er nur einen Künstler seiner Sammlung nicht persönlich kennt - und das ist Walter de Maria."

Willi Winkler unterhält sich mit der Fotografin Astrid Proll über ihre Zeit bei der RAF und ihren Band "Hans und Grete. Bilder der RAF 1967-1977", dessen Aufnahmen in der aktuellen Berliner Ausstellung gezeigt werden. Proll fühlt sich historisiert. "Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass wir inzwischen lästig sind." SZ: "Wie meinen Sie das?" Proll: "Die Historiker haben sich der RAF-Geschichte bemächtigt. Wir müssen bloß noch entsorgt werden."

Weitere Artikel: Lothar Müller beschreibt, wie sich das Wetten auf Sportereignisse vom unmittelbaren Anlass löst und zu einem eigenen Sport entwickelt. Thomas Urban berichtet, wie sich polnische Konservative über die Bezeichnung der nationalsozialistischen Vernichtungslager als "polnisch" empören und dabei alte Revisionismusängste schüren. In der "Zwischenzeit" nimmt Joachim Kaiser eine Grillparzer-Szene auseinander und wirbt für die Wiederentdeckung von Hebbel und Grillparzer. Thomas Steinfeld gratuliert dem Schriftsteller Dieter Kühn zum Siebzigsten. "Bru" schreibt zum Tod des Schlagzeugers und Texters Jim Capaldi.

Johannes Willms überreicht dem Europa-Verfechter und Publizisten Alfred Grosser, der "durch Wissen und Wärme aufklärerisch beeinflussen" will, rhetorische Blumensträuße zum Achtzigsten. Ralf Berhorst fragt sich, was der Berliner Humboldt-Universität die Aufklärung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit wert ist. Wolfgang Jean Stock stellt das Haus der Architektur für Tirol vor, das in Innsbruck eröffnet wurde. Und auf der Medienseite beschreibt Hans-Jürgen Jakobs, wie Georg Kofler mit Premiere an die Börse will.

Auf der Literaturseite berichten Andrea Paluch und Robert Habeck, wie sie Ted Hughes wegen Übersetzungsschwierigkeiten mit seinen "Birthday Letters" nach dem Tod von Sylvia Plath und schließlich Assia Wellvill stören mussten: "Unsere Fragen an Hughes hatten wir im Stil eines Multiple-Choice-Bogens formuliert, um den großen, einsamen Mann nicht zu belästigen. Er hätte bloß die richtige Lösung ankreuzen müssen, mehr wollten wir ihm in seiner tragischen Weltabgewandtheit nicht zumuten. Drei Tage, nachdem wir unseren Brief abgeschickt hatten, kam die Antwort: 'Ich hoffe, euch machen die 'Birthday Letters' ein wenig Freude', begann der Brief. Es folgten sieben engbeschriebene Seiten. Wir antworteten, er schrieb zurück."

Besprochen werden Stephan Kimmigs "kluge" Uraufführungs-Inszenierung von Lukas Bärfuss' Stück "Der Bus" am Hamburger Thalia Theater, Tim Storys Filmremake "New York Taxi", Hector Babencos Film "Carandiru" in einer DVD-Edition, und Bücher, darunter Fritz Rudolf Fries' zur "Rechtfertigungsschrift" geratener Roman "Hesekiels Maschine oder Gesang der Engel am Magnetberg" sowie Ben Schotts "Sammelsurium" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).