Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2005. Einst hat Günter Grass Kalkutta als "Scheißhaufen Gottes" bezeichnet. Bei seinem jüngsten Indienbesuch hat er nicht widerrufen, meldet die Zeit. Sehr glücklich und sehr betrunken taumelt die FR aus Alexander Paynes Weintrinkerkomödie "Sideways". Die NZZ begutachtet den letzten Seufzer akademischer Protzsucht in Barcelona. In der SZ erklärt Ulrich Beck fünf Millionen Arbeitslose zur Gefahr für die Freiheit. Die FAZ amüsiert sich in Paris.

Zeit, 03.02.2005

Christof Siemes hat Günter Grass auf dessen Reise nach Kalkutta begleitet, jene Stadt, die er in "Zunge zeigen" als "Scheißhaufen Gottes" bezeichnet hatte. "Unausgesprochen kreisen alle Gespräche um dieses Triptychon aus Tagebuch, Zeichnungen und Langgedicht. Mit der Frage 'Was hat sich verändert?' tarnt sich nur der Vorwurf, schon damals im Unrecht gewesen zu sein - und die Hoffnung, er möge nun widerrufen. Aber den Rückwärtsgang hat Grass noch nie gut beherrscht. 'Habe ich nicht mit allem Recht gehabt, was ich geschrieben habe?', fragt er nach ein paar Tagen. Da hat er den Tross aus Tochter, Freunden, Berichterstattern schon ins dunkle Herz von Stadt und Buch geführt, zunächst in den Tempel der Kali, der Schrecklichen Mutter. 'Schieben, geschoben werden, rutschen auf schlüpfrigen Sohlen. Von den Füßen her steigern sich Abscheu, Entsetzen', hatte er damals geschrieben. Auch diesmal Gedränge, dann Geschrei, weil die Priester ihn, den ungläubigen Gast, vorlassen. Vier Deckenventilatoren zerhacken eiernd die süßschwüle Luft im Allerheiligsten, regenrohrlang hängt der Göttin die goldene Zunge heraus, drohend hebt sie ihr Hackmesser. Die Gläubigen bringen Blumen und beten. Das kleine Geviert für die Tieropfer ist bis in Hüfthöhe rot von Blut."

"Deutschlands geistiges Verhältnis zur Technik ist traditionell gestört", schreibt Michael Naumann in einem gepfefferten Beitrag über die Technikfeindlichkeit im deutschen Geistesleben: "Die Innovationskampagne der Bundesregierung stößt zumindest in den Feuilletons des Landes auf geballte Ironie. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Gesellschaftskritiker des technischen Fortschritts die Tiefe des Abgrunds seit eh und je ausgemessen haben. Das können sie einfach besser. Davon leben sie...Die kritische, wenn nicht gar neidische Distanz der Geisteswissenschaften angesichts der technisch-industriellen Revolution mag darin begründet sein, dass sie sich auf deutschem Boden um ein gutes halbes Jahrhundert verspätet hatte. Während für einen Condorcet oder einen Saint Simon wissenschaftlich-technischer Fortschritt die Voraussetzung einer vernunftgeleiteten Zivilisation darstellte, schlug Hegel einen Grundton an, der noch fast zwei Jahrhunderte später nachhallt und die Technikfeindlichkeit auf der Linken und der Rechten gleichermaßen beflügelt."

Im Aufmacher des Feuilletons stellt Achatz von Müller nach den jüngsten Provokationen der NPD zur Bombardierung von Dresden klar: "Wir werden also die Geschichte nicht der NPD überlassen können. Wir sollten sie auch nicht mit ihr oder ihresgleichen verhandeln." Thomas Winkler trifft sich mit der Schauspielerin Julia Hummer, die "verschiedenste Talente, Erfolg bei Kritik und Publikum und beste Aussichten" hat, Karriere zu machen. Nur eins hat sie, typische Berliner Existenz, nicht: "Geld, sich ein Bier zu kaufen." (Demnächst wird sie in Christian Petzolds "Gespenster" zu sehen sein.) Anke Leweke feiert den Film "Uzak" des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan als meisterhaftes "Sittenbild einer seltsam verstörten Gesellschaft". In der Randglosse meditiert Peter Kümmel über Fußball und Theater, die Mafia, Senatoren, Intendanten und Kritiker. Der Architekt Peter Eisenman verabschiedet seinen verstorbenen Kollegen und Freund Philip Johnson.

Besprochen werden die Ausstellung "Mythen der Nationen" im Deutschen Historischen Museum Berlin, eine Schau der Bilder des jungen Alten Meisters Carel Fabritius, eine Ausstellung von Klaus Staecks neuen Plakaten in den Hamburger Phoenix-Werken, Sasha Waltz' Operndebüt "Dido und Aeneas" (das Volker Hagedorn völlig verzaubert hat), Dieter Dorns Uraufführung von Botho Strauß' Lustspiel "Die eine und die andere" und Alexander Paynes Komödie "Sideways": "Jenes Amerika, das den Charme des Außenseiters zu schätzen weiß, das Genussfreude nicht mit Amoralität gleichsetzt und moralische Widersprüche nicht mit der Rhetorik der 'moral values' zukleistert, ist offenbar lebendig und wohlauf", versichert Jörg Lau.

Im Aufmacher des Literaturteils stellt Günter Ohnemus Neuübersetzungen der unsterblichen Patricia Highsmith vor. Für das Dossier sieht sich Christian Schmit-Häuer in Jedwabne um, jenem polnischen Städtchen, das 1941 seine jüdischen Einwohner umgebracht hat und dieses Massaker bis heute nicht bereut.

FR, 03.02.2005

"Jetzt werden Alexander Payne und sein bitter ironischer Männerfilm über zwei angeschlagene Mittvierziger auf später Selbsterkundungstour durch das kalifornische Weinland den großen Scorsese doch noch um den lange ersehnten Regie-Oscar bangen lassen," bejubelt Daniel Kothenschulte Paynes neuen Film "Sideways", der aus seiner Sicht für die laufende Kinosaison die gleiche Bedeutung haben wird wie "Lost in Translation" für die vergangene: "Wie ein nach den Beeren des vorletzten Sommers duftender Cabernet hat dieser herrliche Film überall seine heimtückische Wirkung hinterlassen. Man trinkt ihn zu schnell, vergisst den Gehalt, ist bald sehr glücklich und sehr betrunken - und begreift dann erst das heulende Elend, das er an die Oberfläche schwemmt."

Weiteres: Mit ihrer Lesart von Günter Eichs Gedicht "Inventur" eröffnet Ina Hartwig die FR-Serie "Inventur", in der aus Anlass des 60. Jahrestages des Kriegsendes prägende Werke der unmittelbaren Nachkriegszeit wiedergelesen werden sollen. Robert Kaltenbrunner stellt das Projekt "metroZones" vor, ein in Berlin angesiedeltes Projekt von zwei Kuratorenteams sowie verschiedenen Autoren und Künstlern, das Analysen urbaner Lebensformen entwickelt. Wolfgang Kruse kommentiert den Abgang der Chefin des Hamburger Literaturhauses, Ursula Keller. Tim Grobauch hat den Opernregisseur Christof Loy zu seiner Inszenierung von Charles Gounods Oper "Faust", seinen Erwartungen und Plänen befragt. Und im FRplus gibt es einen langen Artikel von Gerd Koenen über den SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl. (Der Artikel kann in der kostenlosen und inzwischen auch nicht mehr anmeldepflichtigen epaper-Ausgabe der FR gelesen werden. Nur verlinken kann man ihn leider nicht.)

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Leos Janaceks Oper "Katja Kabanova" an der Berliner Staatsoper, zwei Stücke des Prager Filmregisseurs und Dramatikers Petr Zelenka am Staatsschauspiel Dresden, Davis R. Ellis Telefoniethriller "Final Call". Eine einsame Buchbesprechung gilt Axel Kuhns Geschichtsbuch "Die deutsche Arbeiterbewegung" (mehr ab 14 Uhr in unserer "Bücherschau des Tages").

TAZ, 03.02.2005

Cristina Nord fasst unter dem Eindruck des Mordes an Theo van Gogh geführte Debatten des Filmfests Rotterdam über Zensur und die Verantwortung der Filmemacher zusammen. Andreas Busche hat sich mit Mike Leigh (mehr hier) über seinen neuen Film "Vera Drake" unterhalten. Zum Auftakt der fünften Berliner Transmediale porträtiert Susanne Messmer den indonesischen Performancekünstler Venzha. In der tazzwei demonstriert Helge Schneider Intelligenz an der Debilitätsgrenze.

Besprochen werden Nuri Bilge Ceylans Spielfilm "Uzak", Davis R. Ellis Ferngesprächs-Thriller "Final Call" und ein Silbermond-Konzert in der Berliner Columbia-Halle.

Und Tom.

NZZ, 03.02.2005

Markus Jakob besucht das "Museu Nacional d'Art de Catalunya" (MNAC) in Barcelona. Nach achtzehnjähriger Umbauzeit wieder eröffnet, kommt es doch keinen Deut frischer daher, mosert Jakob, und sei stilistisch vielmehr "als letzter Seufzer akademischer Protzsucht einzuordnen". Sonja Hildebrand erinnert an Hermann Henselmann, den einzigen Stararchitekten der DDR (Porträt und Fotos), der heute 100 geworden wäre. Alexandra Stäheli hofft, dass das Genre jüdischer Filmkomödien nach Dani Levys Film "Alles auf Zucker!" weitere Nachahmer im deutschen Kino findet.

Besprochen werden ansonsten Bücher: Marie-Therese Kerschbaumers Verse "Neun Elegien", die für Karl-Markus Gauß von "irritierender Schönheit" sind, Richard Bauschs Roman "Die Kannibalen", die Erzählung "Los" von Klaus Merz und das elfstündige Hörbuch mit den gesammelten Radiobeiträgen von Gottfried Benn.

SZ, 03.02.2005

Für den Soziologen Ulrich Beck greift die wachsende Arbeitslosigkeit an die Substanz der Bundesrepublik: "Politiker versuchen uns einzureden, wenn wir diese oder jene bittere Medizin wie Hartz IV schlucken, dann erneuert sich der Deutschland-Aufstiegstraum, und wir finden zurück in das verlorene Paradies der Prosperität und Sicherheit. Aber wer das verkündet, sagt die Unwahrheit... Menschen, die vom Absturz in die Armut betroffen oder bedroht sind, zermartern sich mit Selbstschuldzuweisungen, und das ist nicht günstig für die Verfassung der Freiheit. Freiheit und Vertrauen gehören zusammen - Selbstvertrauen, Vertrauen in die Chancen, die das Umfeld bietet, Vertrauen in die Partner, in die kulturell Anderen, in die demokratischen Institutionen. Schwindet dieses Vertrauen, breitet sich auch hinter der Fassade der Apathie und Liberalität die Versuchung des Autoritarismus aus."

"Russland bekommt einen neuen Kalender, wieder einmal", ärgert sich Sonja Margolina. "Das vergangene Jahr bescherte den Russen eine Umschichtung der Feiertage. Der Tag der russischen Verfassung fällt von nun an aus, während der 4. November - als Erinnerung an die Befreiung Russlands vom polnischen Eroberer im Jahre 1612 - zum neuen Feiertag erhoben wurde: eine unfreundliche Geste Richtung Westen. Die Ferien zwischen dem 1. und dem 9. Mai, die der Großteil der Bevölkerung für Gartenarbeiten nutzte, wurden abgeschafft. Dafür beschloss die Staatsduma Ende 2004 gesetzliche Weihnachtsferien für den Zeitraum vom 28. Dezember bis 10. Januar. Ein Novum: In der Sowjetunion waren religiöse Feiertage verboten. Die Kaste der Staatsdiener zwingt der Gesellschaft ihre privaten Interessen und Launen auf. Sie will die Feiertage in der Schweiz verbringen und schichtet die öffentliche Zeit eigennützig um. Dass die Bevölkerung ein anderes Zeitbudget hat, nämlich eines, das auf die elementaren Bedürfnisse ausgerichtet ist, fällt nicht ins Gewicht."

Weiteres: Jens Bisky befasst sich mit Versuchen des Sportartikelherstellers Nike, Berlins städtischen Raum marketingmäßig zu durchdringen. Alexander Kissler präsentiert neueste Ermittlungsergebnisse aus dem Krisengebiet des Selbstbewusstseins des postmodernen Mannes. Hendrik Feindt war auf der mit seltenen Filmdokumenten bestückten Tagung "Nuremberg and its Lessons" des Arbeitskreises "Kinematografie des Holocaust" im Berliner Zeughauskino. "Bestandsaufnahmen, Reflexionen zwischen gestern und morgen: Das waren die heimlichen Themen" schreibt Hans Schifferle von den Solothurner Filmtagen. "Bei '9 Songs' gingen wir aus von der einfachen Frage, warum kann man realen Sex auf der Leinwand nicht zeigen, warum ist das im Jahr 2004 immer noch ein Tabu im Kino", sagt Michael Winterbottom in einem Interview mit Frank Arnold über seinen neuen Film.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass Bodo Kirchhoffs Literatursendung im Hessischen Fernsehen, "Parlando", wegen mangelnden Zuschauerinteresses nach vier Sendungen eingestellt wird. Besprochen werden Mike Leighs Film "Vera Drake", Hendrik Hölzemanns Debütfilm "Kammerflimmern", Giorgio Bastistellis Shakespeare-Oper " Richard III. in der Vlaamse Oper in Antwerpen, die Deutsche Erstaufführung von Lars Norens Balkankriegs-Stück "Krieg" an den Bonner Kammerspielen und Bücher, darunter Enrique Vila-Matas' Roman "Risiken und Nebenwirkungen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages")

FAZ, 03.02.2005

Michael Althen hat sich in Paris amüsiert. Mit vier Filmen, drei Interviews, zwei Ausstellungen und einer Preisverleihung! Gesprochen hat er unter anderem mit der Schauspielerin Ariane Ascaride. Sie, "die man vielleicht aus 'Marius und Jeannette' kennt und die in dem Stickerinnen-Film 'Les brodeuses' eine armenische Witwe spielt, erzählt, dass sie eine Rolle erst dann erfasst hat, wenn sie weiß, welche Schuhe ihre Figur trägt. Wahrscheinlich ist das ein alter Schauspieler-Trick, aber er wirkt so schlüssig vorgetragen, weil Ariane Ascaride sich im Stuhl aufrichtet, als wollte sie verschiedene Absatzhöhen verdeutlichen."

Der Tübinger Wissenschaftsethiker Dietmar Mieth warnt vor einer allzu weiten Auslegung der Selbstbestimmung bei Patientenverfügungen, wie sie jetzt ein Gesetzesentwurf des Justizministeriums vorsieht: "Doch wie wird in dem Entwurf jenen anderen Fallbeispielen Rechnung getragen, wo sich im Rahmen der medizinischen und pflegerischen Handlungen die Einstellungen der Patienten ändern? Denn für den Eintrittsfall jeder Vorausverfügung gilt: das 'Voraus', so achtenswert es ist, ist nicht das 'Darin'. Wer 'Zwang' zugunsten des in concreto entscheidungsunfähigen Individuums von vornherein ablehnt, sollte doch beachten, welche strukturellen Zwänge dadurch gefördert werden, und auf der einen Ebene so kritisch sein wie auf der anderen."

Weitere Artikel: Kerstin Holm beschreibt die erste Biennale zeitgenössischer Kunst in Moskau. Igl. stellt den Deutschen Buchpreis vor, der erstmals in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Dieter Bartetzko warnt den heute tagenden Städtebaubeirat in Frankfurt am Main nachdrücklich davor, die Kleinmarkthalle abzureißen: "Jeder, der das Milieu der Kleinmarkthalle schätzt, weiß, dass ihm eine auch nur zeitweise Unterbrechung den Todesstoß versetzen würde - im unsteten städtischen Alltag lässt sich Atmosphäre nicht nach Belieben auslöschen und wiedererwecken". Richard Kämmerlings bewundert die "höchst riskante Selbstentblößung" der Frankfurter Poetikvorlesungen von Monika Maron. Sie standen unter dem Titel: "Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche"; (Leseprobe) Maron "trug immer wieder ausführliche Passagen des Romans vor, nur um diese dann mit schärfster Selbstkritik zu verwerfen". Gerhard Rohde staunt über das Stuttgarter "Eclat"-Festival - zwanzig Uraufführungen! - und über den SWR, dessen Intendant Peter Voß dem Festival die Unterstützung entziehen will, weil die Gebührenerhöhung der Öffentlich-Rechtlichen nicht ganz so üppig wie erwünscht ausgefallen ist. Rainer Blasius berichtet, dass Horst Möller Hauptherausgeber der Außenamtsakten wird. Bat. schreibt zum hundertsten Geburtstag des Architekten Hermann Henselmann. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Historikers Vivian Green.

Auf der Filmseite erzählt Hans-Dieter Seidel von den Solothurner Filmtagen. Besonders beeindruckt hat ihn Greg Zglinskis "Tout un hiver sans feu": "Eine einzige, in ihrem künstlerischen Willen so nachdrückliche Arbeit schon adelt einen ganzen filmischen Jahrgang." Bert Rebhandl war bei der Vorführung von Klaus Wybornys Film "Sulla" (mehr hier) im Roten Salon der Berliner Volksbühne. Andreas Kilb schreibt zum Tod der Schauspielerin Karen Bach, die in Paris Selbstmord beging.

Für die letzte Seite hat Martin Kämpchen Günter Grass bei seinem Indienbesuch begleitet. Eleonore Büning porträtiert Markus Hinterhäuser, künftig zuständig für die Konzertsparte der Salzburger Festspiele. Jürgen Kaube stellt eine Prognose der Schüler- und Hochschulabsolventenzahlen in Deutschland bis zum Jahr 2020 der Kultusministerkonferenz (KMK) vor.

Besprochen werden ein Konzert von June Tabor in Frankfurt und Alexander Paynes Roadmovie "Sideways".