09.02.2005. Die taz stellt den Starkommentator von al-Dschasira vor: den islamischen Geistlichen Yusuf al-Qaradawi. Die FR entlarvt den muslimischen Intellektuellen Tariq Ramadan als konservativ. Die NZZ reist in die sowjetische Stadt Donezk in der Ostukraine. Die SZ sieht ein neues deutsches Subproletariat aufziehen. Die FAZ trifft ganz normale britische Außenseiter. Und die Berliner Zeitung tanzt auf dem aufregendesten Festival der Stadt Laptop-Speed-Metal und zu Bildern strippender Soldaten.
TAZ, 09.02.2005
Brigitte Werneburg und Randy Kaufman
stellen den
Fotojournalisten Wolfgang Weber vor, dem das Folkwang Museum in Essen gerade eine große
Ausstellung widmet. Der 1902 als Fabrikantensohn in Leipzig geborene Wolfgang Weber "war einer der großen Fotojournalisten der Weimarer Republik, ein Pionier neben Felix H. Man, Erich Salomon, Martin Munkacsi oder Alfred Eisenstaedt". Weber "setzte auf das Abenteuer Reisen, und hier entdeckte er gerne den
Alltag, nicht den Ausnahmezustand. Selbst in der Sowjetunion 1941/42 schaffte er es, den Krieg so gut wie gar nicht vorkommen zu lassen, wofür er hinter der Front eine gut organisierte Landwirtschaft entdeckte oder den banalen Alltag einer
jungen Frau in Kiew, der aus Arbeit, Restaurantbesuchen und Stranderholung bestand."
Bettina Gräf
porträtiert den in Ägypten geborenen islamischen Geistlichen
Yusuf al-Qaradawi: "Millionen von Muslimen ist Yusuf al-Qaradawi durch seine wöchentliche Sendung 'Das islamische Recht und der Alltag' bekannt, die im Programm von al-Dschasira aus Qatar ausgestrahlt wird. Seine Bücher werden in hohen Auflagen verkauft, und auf seiner
Website bietet er praktische Tipps für Gläubige in allen Lebenslagen." Im Westen ist er
umstritten. So "rechtfertigt er palästinensische
Selbstmordattentate als Mittel der
Selbstverteidigung gegen die Politik Israels", gleichzeitig hat er den "Anschlag auf das
WTC sowie die Attentate islamistischer Gruppen auf Zivilisten in Indonesien, Saudi-Arabien oder im Irak ausdrücklich als
Terror" verurteilt.
Weitere Artikel: Robert Hodonyi
hofft, dass sich das Kleine Haus in Dresden "als Ort für politisches und zeitgenössisches
Theater entwickeln" kann. Auf der Meinungsseite
erklärt der französische Historiker
David Douvette im Interview, die Geschichte des nationalsozialistischen Horrors sei nicht fertig geschrieben, solange nicht darüber gesprochen werde, warum die
Alliierten so wenig gegen den
Völkermord der Nazis taten.
Schließlich
Tom.
NZZ, 09.02.2005
Thomas Veser hat die ostukrainische Stadt
Donezk besucht, das ehemalige Zentrum der sowjetischen
Schwerindustrie im Donbass. Seit in den siebziger Jahren das Interesse Moskaus an der zum "Schaufenster des Sozialismus" verklärten Vielvölkerstadt stark abgenommen hat, hält Donezk schwermütig am ehemaligen Mythos fest. "Keine Großstadt der Ukraine hat sich beharrlicher gegen
die
Entsowjetisierung gesträubt als Donezk... Keinen Landesteil unterwarf die Sowjetmacht zügiger und rücksichtsloser der Zwangskollektivierung, die Hungersnot 1932/33 traf das Donezbecken besonders hart. Fast die gesamte regionale Elite fiel den
Stalinschen Säuberungswellen zum Opfer, ihre Angehörigen wurden systematisch durch Russen ersetzt. Aber auch auf andere Teile der Sowjetunion und des Ostens übte der Donbass als
attraktive Einwanderungsregion eine starke Anziehungskraft aus."
Weitere Artikel: Hanno Helbling
berichtet von dem Fund eines Tessiner Philologen, der bisher unbekannte Teile aus dem Nachlass des italienischen
Schriftstellers Carlo Gozzi entdeckt hat. Außerdem werden zwei
Neuverfilmungen der englischen Literaturklassiker "Pride and Predjudice" nach
Jane Austen und "Vanity Fair" nach
William M. Thackeray besprochen sowie Bücher, darunter
Jonathan Lethems jüngster
Roman "Die Festung der Einsamkeit", eine
Studie Jan Assmanns über "Ägyptische Geheimnisse" und
Patrick Roths Erzählband "Starlite Terrace" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
SZ, 09.02.2005
Ijoma Mangold findet es gar nicht so falsch, die
NPD mit der
sozialen Lage in Deutschland in Verbindung zu bringen: "Tatsächlich hat Deutschland wieder, was man früher das
Subproletariat nannte: eine regelrechte Unterschicht, die nicht einfach arm ist, weil sie wenig verdient, sondern die insgesamt an der Dynamik, der Lebensweise und den Chancen der Mehrheitsgesellschaft
nicht partizipiert." Hilflos und realitätsfern nennt Mangold deshalb die Rede von der gesellschaftlichen Ächtung: "Die CDU kann einen
Martin Hohmann ächten, weil diesem die bürgerliche Anerkennung, die ihm entzogen wird, auch tatsächlich etwas bedeutet. Die neuen Unterschichten, aus denen die NPD ihre Wähler rekrutiert, nehmen aber an diesem Spiel der gegenseitigen sozialen Anerkennung gar nicht teil. Der angedrohte
Liebesentzug durchs Establishment dürfte den nur erheitern, der längst weiß, dass ihm der Anschluss an dieses schon lange verwehrt ist."
Weiteres: Jens Bisky stellt die Pläne von Kulturstaatsministerin
Christina Weiss vor, unter einer neuen
Bundesstiftung "Dokumentation der NS-Verbrechen" die vier wichtigsten
Berliner Gedenkorte zusammenfassen: das Holocaust-Mahnmal, die Topographie des Terrors, das Haus der Wannsee-Konferenz und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Bernd Graff begutachtet Trends und Klamotten in Computerspielen und stellt fest: "Von allen
Abscheulichkeiten, die das Leben bereithält, findet man die
geföhnte Variante." Lisa Spitz
variiert unter der Rubrik "Lebenslügen" das Thema
Sauberkeit. Auf der Medienseite sichtet Christoph Schwennicke die geheimen Testausgaben des
Guardian, der demnächst im
Berliner Format erscheinen wird.
Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte des
Kongo in Belgiens
Königlichem Museum für Zentralafrika, die Ausstellung
"Die nackte Wahrheit" in der Frankfurter Schirn, die choerografische Monografie zu "Porträt Hans van Manen" im Münchner Nationaltheater,
Gounods "Faust" in Frankfurt, das Stück "A Minute Too Late" am Londoner National Theatre, Jacqueline Kornmüllers Inszenierung von
Horvaths "Himmelwärts" in Stuttgart und
Bücher, darunter
Alice Schmidts "Tagebuch aus dem Jahr 1954" (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
Berliner Zeitung, 09.02.2005
"Vergesst das Jazzfest und die MaerzMusik. Der
Club Transmediale ist die
aufregendste musikalische Reihe der Stadt",
ruft Jens Balzer: "Schon das Wochenende war ein Vergnügen: in der Breakcore-Stroboskopkammer konnte man zum allerneuesten elektronischen
Laptop-Speed-Metal mit pogen, während nebenan im Großen Saal Drew Daniel alias The Soft Pink Truth schwulen HouseFalsettgesang und Videobildern
strippender israelischer Soldaten kombinierte. Seit dem Sonntag ist der Saal klassisch bestuhlt, doch was man dort nun erleben kann (noch bis einschließlich morgen), ist ebenso erstaunlich wie der Auftakt: denn mit seinem diesjährigen
Skandinavien-Schwerpunkt hat der Club Transmediale, der einmal als reines Festival für elektronische Musik begann, nichts anderes als das
interessanteste Jazzfest auf die Beine gestellt, das in Berlin seit langem zu sehen war."
FR, 09.02.2005
Warum ist
Tariq Ramadan ein Star,
fragt sich Martina Meister. "Keine andere Figur hat so viel Einfluss auf die
muslimischen Jugendlichen in Frankreich wie er. Sie verehren ihn wie einen Popstar und nehmen dankbar seine Botschaft an, dass die Zeit der Minderwertigkeitskomplexe endgültig vorbei sei. Dass sie Moslems sein können und Franzosen. Aber dass sie
bessere Menschen vor allem als Moslems sind." Aber nicht nur die Jugendlichen lassen sich verführen. So
zählt ihn das amerikanische Magazin
Time neben Sigmund Freud und Jürgen Habermas zu den
100 einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. "Ramadan, so darf man vermuten, bedient und befriedigt ganz bestimmte Erwartungen der
westlichen Medienöffentlichkeit."
Peter Michalzik
erinnert an den
ersten Auftritt Gustav Gründgens nach dessen Entnazifizierung. Gründgens sollte "
der Snob von Carl Sternheim sein, er wollte die Geschichte des berechnenden und eiskalten Möchtegern-Aristokraten Christian Maske spielen. Der Vorhang hob sich, Gründgens stand allein hinter einem Sekretär. Der sofort einsetzende
Begrüßungsapplaus geriet zu einer Demonstration, minutenlang wurde geklatscht. Dann sprach Christian Maske, der in diesem Moment nicht von Gustaf Gründgens zu unterscheiden war, die Worte:
'Das ist grotesk!' Wieder brandete Applaus auf."
Besprochen werden die
Ausstellung "Munch Revisited" im Dortmunder
Museum am Ostwall und Bücher, darunter
Per Olov Enquists Roman "Das Buch von Blanche und Marie" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 09.02.2005
Ingeborg Harms ist beim
"Walberberg-Seminar für zeitgenössische Literatur" des British Council einer "Gruppe von
Außenseitern" begegnet, die sich durch "ethnische Vielfalt, unorthodoxe sexuelle Orientierungen, regionale Dialekte und von Reiselust kündenden Lebensläufe" auszeichnet. "Mit
Jackie Kay nimmt der müde Weltüberdruss endgültig ein Ende. Die schwarze Adoptivtochter schottischer Kommunisten hat ihre Kindheit auf
Friedensmärschen verbracht und einen ansteckenden Optimismus ins Erwachsenenleben herübergerettet. Es ist ihr gelungen, die eigene Biografie nicht als Schicksal, sondern als üppigen Fundus
literarischer Möglichkeitswelten anzunehmen. Kays Sprache ist getränkt von der Plastizität und Bildkraft schottischer Dialekte. Denn im Kern ihrer literarischen Arbeit steht eine sehr produktive
Verwunderung, die den Außenseiterposten zur existentiellen Haltung macht."
Alle beteuern, wie wichtig
Bildungspolitik ist, aber keiner will sie machen.
Peter Glotz ahnt, warum: "weil niemand in die Ideologisierung der alten Zeit zurückfallen will. Die
Sehne des Reformbogens war überspannt worden. Jetzt hängt sie schlaff herunter, und das wird so bleiben, bis das entwertete Pathos sich regeneriert hat. Das kann dauern."
Weitere Artikel: Monika Osberghaus
blättert unglücklich durch die
Kinderbücher des Frühjahrs: "In ihnen wimmelt es - wie auch schon in denen der vergangenen Jahre - von
unzurechnungsfähigen, depressiven Müttern und
verantwortungslosen, alkoholkranken oder
komplett abwesenden Vätern." Heinrich Wefing berichtet über Pläne von
Christina Weiss, "das Holocaust-Mahnmal, die Topografie des Terrors, das Haus der Wannsee-Konferenz und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in eine öffentlich-rechtliche
Bundesstiftung zu überführen". Bevor es dazu kommt, hofft die Kulturstaatsministerin auf "eine 'breite öffentliche Diskussion'". Jordan Mejias
beschreibt den "Endspurt" von
Christo und
Jeanne-Claude, die im New Yorker
Central Park "siebeneinhalbtausend stoffumwehte
Tore" aufstellen. Katja Gelinsky informiert uns über die bevorstehende Reform des
amerikanischen Schadensersatzrechts. "malt."
gratuliert Mia Farrow zum Sechzigsten. Und zwei kurze Meldungen: "
Pedro Almodovar ist aus Protest gegen das schlechte Abschneiden seiner Werke bei spanischen Festivals aus der
Filmakademie seines Landes
ausgetreten. Er fühle sich 'nicht geliebt', gab der zweifache Oscar-Preisträger als Grund an." Und
Horst Burbulla erhält am Samstag für den von ihm erfundenen
Kamerakran einen
Technik-Oscar!
Am Donnerstag "begeht Italien zum ersten Mal den umstrittenen 'Tag der Erinnerung', an dem der
italienischen Opfer der Vertreibungen und des kommunistischen Terrors gedacht wird", berichtet Karl-Peter Schwarz auf der Medienseite. Aus diesem Anlass wurde am Wochenende der von der
RAI produzierte Fernsehfilm
"Il cuore nel pozzo" über die Opfer des
"jugoslawischen Terrors" ausgestrahlt. Es war "eine der erfolgreichsten Sendungen des öffentlichen italienischen Fernsehens", obwohl Schwarz sich angesichts des "von
Unwahrscheinlichkeiten strotzenden Drehbuchs" schüttelt. Michael Krüger gratuliert
Hubert Burda zum Fünfundsechzigsten. Michael Hanfeld ärgert sich über das
"Empörungskartell" gegen Stoiber in den Öffentlich-Rechtlichen. Knapp gemeldet wird die
Ermordung von zwei
pakistanischen Journalisten kurz vor der afghanischen Grenze.
Auf der letzten Seite porträtiert Wolfgang Sandner
David Gockley, der gestern zum sechsten
Generaldirektor des War Memorial Opernhauses in San Francisco gewählt wurde. Und Peter Jochen Winters meldet erfreut, dass die
Landesverfassung der Freien Hansestadt
Bremen nun auch
"up platt" vorliegt.
Besprochen werden Marc Forsters
Peter-Pan-Film
"Wenn Träume fliegen lernen" ("Barrie war nicht
halb so ansehnlich, wie
Johnny Depp es ist; eher im Gegenteil. Aber das spielt keine Rolle, weil es Depp wieder einmal gelingt, an seinem phänomenalen Aussehen quasi vorbeizuspielen", findet Michael Althen), eine Ausstellung des Antwerpener Malers
Gillis Mostaert im Kölner
Wallraf-Richartz-Museum und
Nestroys "Zu ebener Erde und erster Stock" im Wiener Burgtheater.