Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2005. Die FAZ hat einen Radiokommentar Golo Manns zur Bombardierung Dresdens ausgegraben. In der taz behauptet der chinesische Filmregisseur Lu Chuan, dass ihm die Zensur keine Kopfschmerzen bereitet. Die SZ feiert Tsai Ming-Liang als den womöglich "erotischsten Filmemacher unserer Zeit", während die FAZ den neuen Film von Jacques Audiard als Berlinale-Höhepunkt empfindet. Die NZZ stellt den Rupert Murdoch des Nahen Ostens vor: Al-Walid bin Talal.

FAZ, 18.02.2005

Die FAZ hat einen alten Kommentar ausgedruckt, den Golo Mann für die "American Broadcasting Station in Europe" vor genau sechzig Jahren gehalten hat und wo er auch über die Bombardierung von Dresden spricht: "Die anglo-amerikanischen Luftangriffe gegen Sachsen sind ein erstes Beispiel der neuen militärischen Zusammenarbeit zwischen Osten und Westen. Marschall Konjews Truppen stehen nur noch achtzig Kilometer von Dresden entfernt. Dresden ist der Mittelpunkt des deutschen Verteidigungssystems, des deutschen Nachschubs westlich von Schlesien. Durch Dresden führen die Straßen und Eisenbahnen, von Ost nach West, von Süd nach Nord. Dresden ist zur Frontstadt geworden, genau wie Berlin, genau wie Köln. Und genau wie diese Städte muss es behandelt werden." Tilmann Lampe erklärt in einem beistehenden Artikel den Zusammenhang und dass Mann die Bombardierung Dresdens insgeheim als schockierend empfand.

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Dirigenten Marcello Viotti im Alter von nur 50 Jahren. Der Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz erklärt, dass das Schrumpfen der Bevölkerung in Deutschland keineswegs durch die Modernität des Landes zu erklären sei - im Gegenteil: In moderneren Ländern wie Island oder Irland mit höherem Anteil berufstätiger Frauen ist auch die Geburtsquote höher ("Und es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass die kleinen Isländer oder Franzosen depraviert aufwachsen würden", mehr zu Klingholz' These hier). Andreas Rossmann meldet, dass die Düsseldorfer Kunstakademie eine eigene Galerie enthält. Timo John berichtet, dass die Stuttgarter Villa Berg saniert wird.

Auf der Berlinaleseite feiert Michael Althen Jacques Audiards Film "Der Schlag, der mein Herz verspielte" als vielleicht bisher besten Film des Wettbewerbs: endlich ein Film, "der Ernst macht mit seinen Figuren und ihren Sehnsüchten, der nicht in Ironie flüchtet, sondern mit einer Dringlichkeit erzählt, die ganz und gar von dieser Welt ist". Außerdem interviewen Althen und Andreas Kilb den Produzenten Steven Bach, der über sein Unglück mit "Heaven's Gate" erzählt. Verena Lueken schreibt recht wohlwollend über "Willenbrock", den neuen Film von Andreas Dresen. Und Peter Körte meldet, dass das Grundgesetz als Episodenfilm mit 19 Episoden verfilmt werden soll.

Auf der Medienseite kommentiert Michael Hanfeld die schnöde Verabschiedung Marc Conrads und die Installation Anke Schäferkordts an der Spitze des Fernsehsenders RTL.

Auf der letzten Seite blickt Ursula Gehring-Münzel zurück auf hundert Jahre deutsch-äthiopische Freundschaft. Christian Schwägerl meditiert über "Patientenverfügungen zwischen Grundsatz und Einzelfall". Und Jürgen Kaube nimmt Max Planck vor dem Vorwurf in Schutz, uneingeschränkt auf das Nazi-Regime eingschwenkt zu sein, da er noch 1933 in einer Rede die Vedienste jüdischer Forscher für das Vaterland erwähnte.

Besprochen werden Christopher Nolans Film "The Following", ein interessantes Konzertexperiment unter Sylvain Cambreling mit Musik von Haydn und Messiaen und einem Text von Martin Mosebach in Baden-Baden, eine Ausstellung der Erotica-Sammlung von Gerard Nordmann mit dem legendären Manuskript der "120 Tage von Sodom", die de Sade in der Pariser Bastille verfasste, in Genf, eine Ausstellung mit Video- und Soundinstallationen von Susan Hiller in Basel und neue Sachbücher, darunter ein Lexikon der antiken Architektur.

TAZ, 18.02.2005

Drei interessante Interviews heute in der taz. Der 34-jährige chinesische Filmregisseur Lu Chuan ("Kekexili - Mountain Patrol", mehr hier) spricht auf der Meinungsseite über Geld und Zensur: "Ich möchte keine Filme für die großen staatseigenen Filmfirmen machen, und ich bin gegen die so genannten Undergroundfilme, die allein von ausländischen Festivals leben. Mit dem Rest kann ich leben." Das gelte auch für die Zensur der Kommunistischen Partei. "Da denke ich anders als die meisten Filmemacher in China. Meine beiden ersten Filme habe ich ohne Schaden durch die Zensur bekommen, auch wenn ich beim ersten Mal eineinhalb Jahre auf die Genehmigung warten musste. Man muss bei den Zensurbehörden so lange mit den Kopf gegen die Tür stoßen, bis sich die Tür öffnet."

Im Kulturteil findet der kurdische Sänger Sivan Perwer die Reformen in der Türkei noch längst nicht ausreichend. Die kurdische Kultur werde nach wie vor unterdrückt. "Was ist heute denn besser geworden? Wenn die Leute jetzt ein bisschen Musik hören oder ihre Sprache sprechen können, ist das noch nicht die Lösung. Eine halbe Stunde Nachrichten auf Kurdisch im staatlichen Fernsehen, das ist doch nicht genug!"

Auf den Berlinaleseiten begrüßt Susanne Messmer den Hongkonger Filmregisseur Fruit Chan mit den Worten: "Herr Chan, Sie haben einen großartigen Film gemacht. Mir ist ganz übel geworden, als ich ihn sah!" Chan erzählt in seinem Film "Dumplings" die Geschichte zweier Frauen, die Gerichte mit Föten zubereiten und essen, um jung zu bleiben. In China isst man tatsächlich Föten, behauptet Chan. "Ja, und es ist kein neues Phänomen. Außerdem werden in ganz Asien, also auch auf den Philippinen und in Vietnam, angebrütete Eier, ungeschlüpfte Küken oder früh geborene Mäusebabys verzehrt - und in manchen Naturvölkern essen Frauen ja auch ihre Nachgeburten ..." In China ist der Film verboten, das Publikum in Hongkong ließ ihn durchfallen: "Die Zuschauer haben einen Horrorfilm erwartet und fanden meinen Film nicht gruselig genug."

Besprochen werden CDs mit "Homo-Pop" und Berlinalefilme: Dominic Johnson vergleicht die beiden Wettbewerbsfilme über den Völkermord in Ruanda, "Hotel Rwanda" und "Sometimes in April". Detlef Kuhlbrodt gibt einen Überblick über die schwul-lesbisch-transidentischen Filme quer durch alle Sektionen des Festivals. Cristina Nord schwärmt von der "atemberaubenden Verbindung von Theater und Kino" in Uchida Tomus "The Mad Fox".

Schließlich Tom.

SZ, 18.02.2005

Tobias Kniebe ist bei Tsai Ming-Liangs "Tian Bian Yi Duo Yun" aus dem Berlinale-Schlaf erwacht: Der Film erfordere mühelos alle Schock-Anforderungen, meint Kniebe, allein schon dadurch, dass er sich in die Nähe einer Pornoproduktion begibt: "Die kleinen Missgeschicke, die den Sexdreh von 'Tian Bian Yi Duo Yun' zur Tortur werden lassen, machen den Film für kurze Momente fast zum Publikumsliebling, und manche der keuscheren Szenen entfalten eine atemberaubende, nie gesehene Sinnlichkeit: Etwa wenn der Junge dem Mädchen eine Zigarette zwischen die Zehen steckt, tiefe Züge daraus nimmt und den Rauch sanft gegen ihre Fußsohlen bläst. In diesem Augenblick könnte Tsai Ming-Liang tatsächlich, wie das Presseheft behauptet, der 'erotischste Filmemacher unserer Zeit' sein - aber schon im nächsten Moment muss man einige hochsentimentale, ultrageschmacklose Musical-Sequenzen durchstehen, die mit dem Rest der Geschichte scheinbar nicht das Geringste zu tun haben, und dann wiederum eine symbolträchtige Brutalität verkraften, wie sie wohl nur Asiaten zustande bringen."

"Französisches Kino ist Körperkino", schreibt Rainer Gansera, womit es quer zum übrigen Festivalbetrieb liegt, "in dem immer wieder Botschaft und Kamerarhetorik dominieren". Lothar Müller schreibt zum Streit um die Übernahme der Berliner Akademie der Künste durch den Bund. Dagegen will jetzt das Land Baden-Württemberg klagen, wobei das Land nicht, wie Müller anmerkt, nicht die finanzielle, sondern nur die rechtliche Kompetenz des Bundes bestreitet. Johan Schloemann wird ganz weh bei dem Gedanken, was alles noch in der verfallenden Villa die Papiri in Herculaeneum schlummern könnte: unbekannte Texte von Aristoteles, die fehlende Passagen von Livius, Tragödien des Aischylos!

Jürgen Schmieder meldet den Start der ersten Serie fürs Handy: "24 Conspiracy" heißt sie und stammt von den Machern der TV-Serie "24". Eine Folge dauert eine Minute und kann für einen Dollar aufs Handy geladen werden. Siggi Weidemann berichtet, dass die Niederlande jetzt auch Sterbehilfe bei "sozialen Leiden" erlauben wollen. Es gebe, zitiert er ein Statement der amtlichen Kommission, "keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Mensch an Krebs oder am Leben leide". Jörg Königsdorf spricht mit dem Dirigenten und Grammy-Preisträger Rene Jacobs über Barockmusik, das Verschwinden der Knabenchöre und die Vorliebe von Dirigenten für Countertenöre. Egbert Tholl schreibt einen Nachruf auf den im Alter von 50 Jahren verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti.

Besprochen werden eine Ausstellungen der Zeichnungen von Johann Georg Bergmüller, Jens Roselts Produktion "Dreier" am Berliner Renaissance-Theater und Bücher, darunter Felix Vallotons Roman "Das mörderische Leben" und Ingo Metzmachers "Keine Angst vor neuen Tönen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 18.02.2005

Eine spannende Geschichte findet sich auf der Medienseite. Hier berichtet "ber" von schweren Verwerfungen im Musik- und Filmgeschäft des Nahen Ostens: "Ägypten war bis vor wenigen Jahren der wichtigste Musik- und Filmproduzent der Region. Schauspieler und Sänger aus der ganzen arabischen Welt kamen nach Kairo, um ihrer Karriere Profil zu verleihen. Das galt gerade auch für die talentierten Musiker aus Libanon. Die scheinbar unumstößliche Regel wird nun Tag für Tag erschüttert. Der Drahtzieher des Erdbebens ist der saudische Multimilliardär Prinz al-Walid bin Talal, der Enkel des Gründers von Saudiarabien, König Abdelaziz, und des ersten libanesischen Ministerpräsidenten, Riad Solh. 1995 kaufte der Prinz 25 Prozent der unbedeutenden saudischen Rotana Audiovisual Company auf; 2003 wurde er zu ihrem Besitzer." Und jetzt baut er darauf ein Medienimperium, das Rupert Murdoch bald wie Waisenknaben aussehen lassen könnte.

Viel zu tun für die EU-Kommission, meldet außerdem"ras": Sie muss derzeit prüfen, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Gelder für aufgeblähte Internet-Auftritte missbräuchlich verwendet. Weiterhin prüft sie die Finanzierung des französischen Projektes eines internationalen Nachrichtenkanals.

Im Feuilleton spaziert Roman Hollenstein durch die Gaetano Pesce -Retrospektive auf der Mailänder Triennale und muss verwundert feststellen, dass der Design-Künstler den Palazzo dell'Arte in eine Art Gruselkabinett verwandelt hat. Tino Köhler stellt eine Ausstellung in der Nieuwe Kerk in Amsterdam vor, die 5000 Jahre marokkanische Kulturgeschichte behandelt. Derek Weber schreibt einen Nachruf auf den italienischen Dirigenten Marcello Viotti. Und Anders Aman schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Rudolf Zeitler.

Auf den Filmseiten befindet Marli Feldvoss in einer ersten Berlinale-Bilanz, dass das Internationale Forum seinem Ruf als Filmlabor gerecht geworden sei. Auch Clemens Füsers freut sich: Das Team des Kinderfilmfestivals hat mit seiner Auswahl eine "glückliche Hand" bewiesen und auf "Hochglanzmärchen und Harry-Potter-Derivate" verzichtet. Claudia Schwartz blickt auf das Programm des Panoramas zurück.

Besprochen werden außerdem Riccardo Signorells Beziehungsdrama "Nocturne" um einen angekündigten Selbstmord, der Film "Die Blindgänger" von Bernd Sahling, den der Regisseur mit drei sehbehinderten Jugendlichen gedreht hat, sowie der schweizer Film "Tout un hiver sans feu" von Greg Zglinski.

FR, 18.02.2005

Christian Thomas berichtet über die Initiative des Architekten Christoph Mäckler und des Unternehmers Carlo Giersch, die der Stadt Frankfurt ihre Alte Brücke zurückgeben wollen - in der "Tradition einer interpretierenden Neuerschaffung". Hier der Entwurf.

In Times Mager erlebt Daland Segler bei der Berlinale diverse Deja vus. Besprochen wird Wilhelm Genazinos neuer Roman "Die Liebesblödigkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).