Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2005. Die FR findet: Seit Siegfried Unselds Tod hat kein Verleger mehr Charme als Alexander Fest. Die taz entdeckt mit Wolfgang Kraushaar, dass es Rudi Dutschke war, der das Konzept der Stadtguerilla theoretisch vorbereitet hat. Die NZZ schildert die Eheprobleme rüstiger Rentner in Japan. Die FAZ findet die Gerhard-Richter-Ausstellung in Düsseldorf etwas mutlos, den neuen Berliner Drei-Opern-Intendanten dagegen sehr mutig. Die SZ befasst sich mit den Auswirkungen der ukrainischen Revolution auf Weißrussland.

TAZ, 23.02.2005

Einfach vorbildlich findet Dirk Knipphals Wolfgang Kraushaars Studie "Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf", die in dem vom Hamburger Instituts für Sozialforschung herausgegebenen Band "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF" erschienen ist. "Wolfgang Kraushaar geht streng philologisch vor. Textstellen, Zeitzeugen, Zitate. Nenn es buchhalterisch, nenn es kristallklar, jedenfalls legt er ohne Ober- oder Untertöne dar, dass es eben Rudi Dutschke war, der das Konzept der Stadtguerilla theoretisch vorbereitet hat, und zwar schon im Februar 1966. Bis zu diesem Zeitpunkt zurück hat Kraushaar in Dutschkes Aufzeichnungen Belegstellen gefunden. Das Stadtguerilla-Konzept - unverzichtbar für die mentale Innenausstattung der RAF - kann also nicht 'einfach als Verfalls- und Verzweiflungsprodukt der 68er-Bewegung' (Kraushaar) gedeutet werden, wie viele das tun." Wirklich großartig werde das aber durch den Tonfall Kraushaars. Denn: "Diese Studie ist keine Anklageschrift. Ebenso überzeugend, wie er Dutschkes vermeintliche Gewaltfreiheit widerlegt, macht Kraushaar klar, dass sich Dutschke in den Siebzigerjahren entschieden von der dann realen RAF distanziert hat." Das "Augenmaß" und die "Sachlichkeit", mit der Kraushaar schreibe, sei bei der Beschäftigung mit 68 die absolute Ausnahme, findet Knipphals und skizziert den Umgang der 78er, der Generation Golf und der Kinder der 68er wie Sophie Dannenberg mit dem Phänomen.

Weiteres: Jan-Hendrik Wulf liest Zeitschriften, die sich mit dem "neuen Marktliberalismus und dem alten Hunger" beschäftigen. Besprochen wird Adrian Tomines neuer Comicband "Sommerblond". Hingewiesen sei noch auf eine Reportage auf den Tagesthemenseiten: Georg Blume erzählt dort die die Geschichte des Bauern Jiang, der mit seiner Pulloverfabrik zum reichen Mann wurde, aber seinen Beschäftigten etwas abgibt.

Schließlich Tom.

NZZ, 23.02.2005

In Japan steigt die Zahl der Scheidungen im Rentenalter schneller als in anderen Altersgruppen, berichtet Florian Coulmas. Schuld daran sind all die Männer, die nach einem harten Arbeitsleben nichts mit sich und ihrer Freizeit anzufangen wissen. Für diese Zielgruppe haben japanische Verlage nun anspruchsvolle, großformatige Magazine für den "rüstigen Dandy" herausgebracht, etwa die Zeitschrift Rentier, "was sich auf Japanisch so fein anhört wie eine teure Champagnermarke. Im Untertitel nennt sich das 170-seitige Monatsjournal 'a cool magazine for the intelligent' und verkündet für diejenigen, die das nicht verstehen, auf Japanisch noch, dass es 'für Männer auf der Suche nach einem nicht langweiligen Leben' ist. Von Aufmachung und Inhalt elegant und anspruchsvoll; etwas Nostalgie...; Porträts von Größen vergangener Zeiten, an die man sich aber noch erinnert, wenn man nur alt genug ist; diskrete Anspielungen auf eben dieses fortgeschrittene Lebensalter: ein Artikel über das Einzelbett."

Weiteres: Karin Hellwig bewundert im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthallen die Ausstellung "Hasta... Goya", die die größte Sammlung spanischer Zeichnungen außerhalb Spaniens beherbergt. Kersten Knipp schreibt zum Tod des kubanischen Schriftstellers und Filmkritikers Guillermo Cabrera Infante.

Besprochen werden die Strauss-Oper "Elektra", die das Publikum im neu eröffneten Opernhaus in Kopenhagen enthusiastisch feierte, und Bücher, darunter ein Gedichtband von Kurt Marti und Henric L. Wuermelings Buch über die Rolle Adam von Trotts im deutschen Widerstand gegen Hitler (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 23.02.2005

Ina Hartwig kommentiert den Wechsel Imre Kertesz' vom Suhrkamp zum Rowohlt Verlag. Für Suhrkamp sei dies "ein herber Verlust - und keineswegs der einzige, den das Haus seit Unselds Tod verkraften musste. Um es deutlich zu sagen: Kertesz' Wechsel zu Rowohlt ist im Grunde eine Causa Suhrkamp. Siegfried Unseld erhielt noch die Nachricht vom Nobelpreis für seinen Autor, verstarb jedoch vor der Zeremonie in Stockholm. Unseld war es, der Kertesz in Budapest aufgesucht und ihn mit seinem rugbyhaften Charme umworben hatte, er war es ganz allein, dem die Abwerbung damals gelungen war. Ihm konnte und wollte Kertesz nicht widerstehen. Und offensichtlich ist es im Hause Suhrkamp nicht gelungen, die durch Unselds Tod gerissene Lücke zu füllen. Selbst wenn die Position des allein verantwortlichen Verlegers rein formell gar nicht gefüllt werden konnte, weder von der Witwe Ulla Unseld-Berkewicz noch von deren Programmdirektor Rainer Weiss, so ist doch leider evident, dass sie Imre Kertesz nicht zu halten vermochten. Ein Mann wie Kertesz, wer kann es ihm verdenken, ist empfänglich dafür, umworben zu werden. Das hat seinerzeit Unseld gespürt, und nun hat es eben Alexander Fest gespürt - und nicht nur gespürt. Da ist auch Können im Spiel."

Oliver Tepel berichtet hingerissen über seine Begegnung mit Francoise Hardy, deren neues Album "Tant De Belles Choses" ein "nachdenkliches Werk" sei, "das in der Sprache des Chansons dennoch unentwegt von Schönheit" erzähle. "Auch kein einsam am Firmament strahlender Udo Jürgens vermag darüber hinwegzutäuschen, dass die deutschsprachige Pop-Musik keinen originären Stil kennt, der ein Altern zulässt, der Worte und Töne für ein Leben weit jenseits der Jugend findet. Doch welche populäre Musik leistet das überhaupt? Die Liste ist kurz: Samba, Bossa Nova und Chanson, eben jene Stile, die sich neben den angloamerikanischen Vorgaben entwickeln und weltweit etablieren konnten, transzendieren die Jugendfixierung rockistischer Instantfrische. So begleiten sie jene, die auch nach der schönsten Blüte noch Worte suchen und nicht zur Ruhe kommen mögen."

Weitere Artikel: Harry Nutt denkt anlässlich der Wahlen in Schleswig-Holstein und des Bush-Besuchs über Verschiebungen in der politischen Inszenierung nach. Peter B. Schumann schreibt zum Tod des exilkubanischen Schriftstellers Guillermo Cabrera Infante. In Times Mager erzählt Hilal Sezgin von einer Nachbarin. Auf der Medienseite berichtet Gerd Höhler von einer radikalen Neugestaltung der türkischen Medienlandschaft: Der Staat will die ihm durch Pleiten zugefallenen Sender und Zeitschriften - 17 Fernsehstationen, zehn Radiosender sowie mehrere Tageszeitungen und Zeitschriften - versteigern

Besprochen werden Bücher, darunter Veronique Olmis Roman "Eine so schöne Zukunft", John Updikes Roman "Sucht mein Angesicht" und ein Fotoband von Eva Leitolf, der "in haarsträubender Weise ein deutsches Erbe ausleuchtet, nämlich Südwest-Afrika" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 23.02.2005

Für Anke Westphal ist "Sophie Scholl" kein "neuer deutscher Denkmalsfilm". Das liegt zum einen daran, dass Regisseur Marc Rothemund "die tiefe Religiosität der Hauptfigur herausstellt und andererseits ihren Widerstand gegen das Nazi-Regime in jenen klassisch-romantischen Zweig deutscher Ideengeschichte einbindet, der nach 1945 mit unter Generalverdacht geriet. Rothemunds Sophie ist ein aufrechter und aufopfernder Mensch mit kleinen Vorlieben; sie hört 'Sugar' und Schubert, doch sie spricht auch von einer europäischen Idee, und sie träumt dem Himmel hinterher, wenn sie betet. Der Bezugsrahmen dieser Heldin heißt Gott", und damit vertrete der Film "eine ganz unpopuläre geistige Haltung. Im Sinne Siegfried Kracauers soll der Film womöglich sogar zur 'Errettung der äußeren Wirklichkeit beitragen' - einfach nur gut gemeint, und weiter nichts, ist er gewiss nicht. Jugendliche, die mit dem 'Gewissen' und mit 'Gott' argumentieren und mit ihrem Leben für Ideen einstehen wie die des 'freien Geistes', kann man schwerlich als coole Modelle verwerten."

Außerdem heute: "Unterwegs" mit Arno Widmann - in einer Ausstellung über "Die nackte Wahrheit", im Kino mit Liu Jiayin und im Kino mit der Tschetschenin Zainap Gaschajewa.

SZ, 23.02.2005

Ingo Petz schildert, wie Weißrussland auf die Revolution in Orange in der Ukraine reagiert: Die Opposition streitet über neue Symbole (Kornblumen?) und Diktator Aleksander Lukaschenko wappnet sich: "Während er dem ukrainischen Präsidenten Juschtschenko gratulierte, wurden Demonstranten verhaftet, der Oppositionspolitiker Michail Marynitsch zu fünf Jahren Haft verurteilt, ausländische Models von den Billboards entfernt. Straffrei kann man keine Witze mehr über den Autokraten machen. Zudem ist laut Gesetz den Truppen künftig untersagt, sich bei einem 'verbrecherischen Befehl' dem Präsidenten zu verweigern: Auf Befehl müssen sie auf Demonstranten schießen. 'Väterchen' Lukaschenko scheint sich auf seinen Sturz vorzubereiten."

Stefan Koldehoff stellt fest, "dass die Raubkunstpolitik der Bundesregierung, der Umgang mit Kunstwerken von nazibedingt ungeklärter Herkunft in deutschem Besitz, gescheitert ist. Von der völkerrechtswidrig in Russland festgehaltenen Beutekunst aus deutschen Sammlungen spricht indes ohnehin kaum noch jemand." Verantwortlich macht er dafür vor allem die "Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste" in Magdeburg, deren Datenbank "Lost Art" zudem voller Fehler sei.

Florian Welle berichtet von einer "famosen" Tagung über die Evidenz in München. Kristina Maidt-Zinke verabschiedet den kubanischen Autor Guillermo Cabrera Infante ("Drei traurige Tiger"), dem es nicht vergönnt war, in ein freies Kuba zurückzukehren. Abgedruckt wird auch ein Brief von Harry Belafonte, der die Bundesanwaltschaft auffordert, die Ermittlungen gegen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld doch bitte wieder aufzunehmen.

Besprochen werden noch einmal Marc Rothemunds Film "Sophie Scholl", der jetzt in die Kinos kommt, Doris Dörries Operndebüt mit einem auf den Planet der Affen verlegten "Rigoletto", die aus Kuweit bestückte Ausstellung "Gold und Juwelen im Indien der Moghul-Zeit" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Daniel Mursas Stück "Dreitagefieber" in Tübingen", Andras Schiffs drittes Beethoven-Konzert und Bücher, darunter Martin Heideggers Schrift über Ernst Jünger und Fanny Müllers "Keks Frau K. und Katastrophen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.02.2005

Thomas Wagner besucht die große Gerhard-Richter-Ausstellung in der Düsseldorfer Kunstsammlung K 20, findet sie aber etwas mutlos: "Den Mut, gezielt das Spätwerk auszuleuchten und Richters Produktion von diesem her gleichsam im Krebsgang noch einmal durchzugehen, hat man nicht aufgebracht. Ein solches Vorgehen aber hätte dem Werk Richters eine Frische zurückgewinnen können, die der an Leitmotiven orientierte Überblick vermissen lässt. So wirken einige Räume nostalgisch, und die zuletzt entstandenen Arbeiten runden das Werk scheinbar routiniert ab."

Berlin ist die einzige Stadt der Welt mit drei subventionierten Opern, aber auch die einzige Stadt, die darauf nicht stolz ist und sie einer unablässigen Magerkur unterwirft. Gestern wurde der erste Drei-Opern-Intendant Michael Schindhelm installiert, und Eleonore Büning berichtet: "Schindhelm selbst hat in den letzten Wochen zwar ein halbes Dutzend Interviews gegeben, in denen er seine Opernliebe sowie den künstlerischen Zustand der drei Berliner Opernhäuser in teils wolkigen, teils faktenschwachen, auch widersprüchlichen Aussagen beschrieb. Doch dazu, wie er seine Hauptaufgabe bewältigen will, kann er nichts Konkretes sagen. Sie lautet: Spare bis 2009 insgesamt 17,2 Millionen Euro ein."

Weitere Artikel: Ganzseitig unterhalten sich Frank Schirrmacher und Dieter Bartetzko mit dem Stadtplaner Albert Speer, der über explodierende Metropolen in der Dritten Welt und schrumpfende Städte in Deutschland nachdenkt. Für den Aufmacher sammelten Karen Krüger und Melanie Mühl Stimmen von Passanten, die sich über den Bush-Besuch in Mainz äußern. Hubert Spiegel kommentiert die Rückkehr Imre Kertesz' zu Rowohlt und das muntere Verlag-wechsle-dich zahlreicher deutscher Autoren. Gemeldet wird, das sich Paul Spiegel empört über Rolf Hochhuths Interview in der Jungen Freiheit äußert, wo der Autor den Holocaustleugner David Irving verteidigte - bestürzend sei vor allem der fehlende Widerspruch aus Kultur und Gesellschaft. Der Bevölkerungsforscher Herwig Birg (mehr hier) setzt seinen "Grundkurs Demografie" unter dem Titel "Die Logik der Trägheit" fort. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des kubanischen Autors und Castro-Kritikers Guillermo Cabrera Infante. Paul Ingendaay berichtet auch über die Verdienste des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez um das Sammeln und Ziehen von Bonsai-Bäumen, welche jetzt einen ständigen Ausstellungsort erhalten. Susanne Klingenstein berichtet indigniert, doch ausführlich über ein Klatschbuch (Auszug), dass der Reporter Richard Bradley über den Harvard-Präsidenten Lawrence Summers geschrieben hat.

Auf der Medienseite berichtet Volker Lilienthal, dass sich der Nachrichtensender NTV seine wohlwollende Berichterstattung über christliche Wohlfahrtswerke am liebsten von diesen selbst produzieren lässt. Und Michael Hanfeld wagt die Vermutung, dass sich die ARD wegen schierer Unabänderlichkeit jahrhundertelang eingespielter Schemata nun doch entschließen wird, die Tagesthemen nicht um 22.15 Uhr beginnen zu lassen.

Auf der letzten Seite porträtiert Karen Krüger eine Überlebende des Völkermords an den Tutsi, die sich in jenem "Hotel des mille collines" versteckt hielt, in dem auch Raoul Pecks Berlinale-Film "Sometimes In April" spielte. Dirk Schümer meldet, dass Carlo Federsoli, alias Bud Spencer, für Silvio Berlusconis Partei Forza Italia ins italienische Parlament einziehen will. Und Dietmar Dath zitiert aus einem "Treaty of Peace and Friendship between the United States of America an the Bey and Subjects of Tripoli, or Barbary" von 1797, der jüngst in The Nation präsentiert wurde.

Besprochen werden ein Theaterauftritt Claudia Cardinales in Tennnessee Williams' "Süßer Vogel Jugend" in Paris, Doris Dörries Inszenierung von Verdis "Rigoletto" in München und Oliver Schwabes Film "Egoshooter".