Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2005. In der FAZ begeistert sich Peter von Matt für die Leidenschaft, mit der bei Seneca gemordet wurde. Die Welt beobachtet, wie die Berliner Volksbühne in "Autismus, Mobbing und Selbstgerechtigkeit" versinkt. Die FR traf aufgeklärte deutsche und islamische Denker in einer ägyptischen Wüstenoase. Die NZZ kennt drastische Mittel gegen Leute, die ausgeliehene Bücher nicht zurückbringen. Welt und taz rühmen Walter Kempowskis Echolot-Abschluss "Abgesang 45".

Welt, 05.03.2005

In der Literarischen Welt stellt Jan Philipp Reemstma den Abschlussband "Abgesang '45" von Walter Kempowskis gigantischem Echolot-Projekt vor. Drei letzte Tage im Frühjar 1945, Jubeln und Heulen zu gleicher Zeit: "Es gibt keinen Blick, der alle diese Geschichten umfasste, keine Geschichte, die alle diese Geschichten erzählte. Nicht einmal das Mitgefühl kann das. Bei einem Schreienden könne man, hat Arno Schmidt irgendwo geschrieben, keine Nationalität mehr erkennen. Nur wissen die, die einen schreien machen, wen und warum. Die Mörder haben immer gute Gründe, und wenn es der ist, mit dem Mord am Mitmenschen die Zeit totzuschlagen. Nicht einmal das Absurde ist schlechthin absurd, sondern es ist die Einheit der Unterscheidung von Sinnlosigkeit und Sinn."

Jetzt hat also auch der Regisseur Stefan Bachmann die Arbeit an der Berliner Volksbühne hingeschmissen. Reinhard Wengierek sieht das Theater mittlerweile in einem Sumpf von "Autismus, Mobbing und Selbstgerechtigkeit" versinken: "Christoph Marthaler kommt und wird sofort krank; Johan Simons kommt und scheitert, ebenso Dimiter Gotscheff und Josef Bierbichler. Thomas Bischoff kommt gleich gar nicht mehr, und Stefan Pucher und Rene Pollesch schaffen es nicht auf die große Bühne. Und Stefan Bachmeier wird weggemobbt. Denn die Castorf-Truppe ist mittlerweile derart autistisch, dass sie keinen anderen an sich heranlässt. Abgesehen davon, daß im aktuellen Fall Castorfs Ex-Geliebte Kathrin Angerer die Bachmann-Vorbeißerin gab. Familienbande."

In einem gemeinsamen Beitrag für das Forum hegen der SPD-Politiker Markus Meckel und der CDU-Politiker Matthias Wissmann Bedenken gegen die in Moskau geplanten Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn bei allem Leiden, dass Deutschland über die Völker der Sowjetunion gebracht hat: "Es kann nicht davon abgesehen werden, dass die Völker der Sowjetunion und die Hälfte Europas auch nach dem Sieg über den Nationalsozialismus unter der kommunistischen Diktatur Unterdrückung und Unfreiheit erleiden mussten. Polens Ex-Außenminister Geremek brachte es auf den Punkt: 'Wenn am 9. Mai nicht die ganze historische Wahrheit zur Sprache kommt, kann das Gedenken zu nichts Gutem führen.'"

NZZ, 05.03.2005

Wieviele Leser ein Buch findet, ist eine völlig unbekannte Größe, staunt Ludwig Muth fest und schreibt deshalb eine kleine Kulturgeschichte des Bücherausleihens. Das Unbehagen des Verleihers, seine Schätze nie wieder zu sehen, scheint es schon lange zu geben. "In der mittelalterlichen Welt der Klöster war diese Angst nur allzu begründet. Man lieh einen Codex zum Abschreiben aus. Es konnte Jahre dauern, bis der Schreibermönch des befreundeten Ordens die letzte Initiale setzte. Wer erinnerte sich dann noch an die Herkunft der Vorlage? So findet man in alten Handschriften immer wieder die Drohung, der Teufel werde den säumigen Leiher holen und alles Böse solle über ihn hereinbrechen. 'Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Totenwurm, der niemals stirbt.'"

In der Beilage Literatur und Kunst besucht Naomi Bubis den israelischen Schriftsteller Etgar Keret, der Kurzgeschichten als Urlaub von den Anforderungen des Alltagswahnsinns betrachtet. "Kerets Schreiben trifft den Nerv der jungen Israeli, er ist der beste Chronist ihres Alltags. Der Autor vermag es, die kleinen Dinge, das Banale zu erfassen. Seine literarische Karriere begann mit einer Strafversetzung beim Militär. Um bei der Schichtarbeit in einem fensterlosen Keller nicht verrückt zu werden, begann er Geschichten zu schreiben." Außerdem wird eine kleines Prosastück des omanischen Literaten Saif ar-Rahbi abgedruckt. "Das ist keine Erinnerung an einen sommerlichen Kuss es ist ein Hammer, der ins Goldbergwerk fährt um in den Tiefen dessen glühenden Speichel zu schlürfen."

Als "Gewissen des weißen Südafrika" stellt Christina Stucky im Feuilleton die unbequeme und politische Journalistin und Autorin Antjie Krog vor, deren Buch "Country of My Skull" nun verfilmt worden ist.

Besprochen werden eine Ausstellung über den flämischen Stilllebenmaler Cornelius Gijsbrechts im Mauritshuis Den Haag, und natürlich etliche Bücher, darunter David Grossmanns Novellenband "Das Gedächtnis der Haut", Pawel Huelles Roman "Castorp" sowie Amos Oz' Erzählung der "Geschichte von Liebe und Finsternis" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 05.03.2005

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage untersucht Peter von Matt das komplexe Phänomen von literarischen Paaren, die zu Tätern werden. Bei Senecas furioser Beschreibung des Mords an Agamemnon gerät von Matt ins Schwärmen. "Aigisth sticht mit dem Dolch zu, aber nur zaghaft, nur so ein bisschen zwischen die Rippen. Agamemnon tobt. Jetzt greift Klytaimnestra zur Doppelaxt. Das beflügelt wiederum Aigisth. Er geht nun seinerseits mit der Axt ans Werk, während Klytaimnestra den Dolch übernimmt. Das ist altrömischer Grand Guignol. Über Senecas Spektakeln schwebt bereits eine Ahnung von Cinecitta."

Zum Auftakt einer Dokumentation über Deutschland sprechen Stefan Aust und Frank Schirrmacher mit Richard von Weizsäcker. Der ehemalige Bundespräsident redet über den Untergang des Deutschen Reichs, die Machtlosigkeit der Aufklärung und verteidigt noch einmal die Rolle seines Vaters als Diplomat im Dritten Reich. "Was mein Vater versucht hat mit seinen bescheidenen Mitteln, um insbesondere im Kontakt mit Diplomaten anderer Länder zu einer Verhinderung von Gewaltausbrüchen beizutragen, war, juristisch gesprochen, an der Grenze des Landesverrats. Beim Reichssicherheitshauptamt wurde denn auch ein Papier gefunden, in dem es hieß, mein Vater müsse aus dem Amt entfernt und angeklagt werden. Als er dann später von den Alliierten in Nürnberg angeklagt wurde, empfand er, dass er vor dem falschen Gericht stünde.

Dieter Bartetzko bestaunt das Kunstmuseum Stuttgart, ein Neubau für die Sammlung der Galerie der Stadt Stuttgart. Beim Anblick des Glaswürfels für 67 Millionen Euro preist Bartetzko dessen "entwaffnende Schlichtheit und Noblesse". Thomas Wagner lobt Direktorin Marion Ackermann, die das Besondere der Sammlung betont habe, ohne dabei den Anschluss an die Gegenwart zu verpassen. Eva Hesse erzählt, wie sie Ezra Pound in der "Staatlichen Anstalt für kriminelle Wahnsinnige" besucht hat. "malt" schreibt zum sechzigsten Geburtstag des Regisseurs Rob Reiner, dem wir unter anderem "Harry und Sally" zu verdanken haben. "baz" sieht das Deutsche Theater Berlin gestärkt aus der Intendanten-Krise hervorgehen. Auf der Medienseite ärgert sich Michael Hanfeld über den von ARD und ZDF verordneten Zwang, 16:9 Fernseher zu kaufen.

Die erste Seite des Feuilletonbuchs ist beinahe zur Gänze dem Abdruck von Schillers "Glocke" gewidmet. Damit ist die Grundlage geschaffen für Wulf Segebrechts Untersuchung der Wirkungsgeschichte des "meistparodierten deutschen Gedichts". Der Vorabdruck beginnt in der heutigen Ausgabe.

Besprochen werden Michael Winterbottoms "faszinierender" Science-fiction-Film "Code 46", die Uraufführung von Steffen Schleiermachers "Singspiel" in Bonn, zwei Romane Peter Esterhazys in der Hörfassung von Hörbuch Hamburg, die "erste große" Anthologie der griechischen Volksmusik Rembetiko sowie neue Bücher von und über Elias Canetti, darunter Sven Hanuscheks neue Biografie des Schriftstellers (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 05.03.2005

Das Goethe-Institut lud aufgeklärte deutsche und nicht-fundamentalistisch islamische Denker zur Diskussion in einer ägyptischen Wüsten-Oase. Es zeigten sich, das wird in Markus Messlings Bericht deutlich, dennoch gewaltige Differenzen: "Dabei wurde deutlich, dass dem Begriff des Verstehens auf beiden Seiten fundamental verschiedene Konzepte zu Grunde liegen. Während aus einer europäisch-philologischen Sicht Lesen immer schon einen aktiven Prozess darstellt, dem auch die Bibel sich nicht entziehen kann, bedeutet für die ägyptische Seite die Koran-Lektüre den passiven Nachvollzug einer offenbarten Wahrheit." Zudem gilt für die Vertreter des Islam: "Die massive und totale Zurückweisung westlicher Kultur im islamistischen Denken aber auch in den arabischen Gesellschaften insgesamt, das machte auch eine extrem gut besuchte öffentliche Podiumsdiskussion in Kairo deutlich, mit der das Treffen beendet wurde, hat wesentlich mit dem traumatischen Erleben politischer Ohnmacht auch nach der Kolonialzeit zu tun."

Weitere Artikel: Christian Thomas informiert über das "Bauen mit Membranen", das an den "Grundfesten des Massivbaus" rüttelt. Silke Hohmann stellt ohne erkennbaren Anlass den Künstler Willi Baumeister und seine Schrift "Das Unbekannte in der Kunst" vor. Christian Schlüter glossiert in times mager die neue politische Briefkultur. Besprochen wird eine "Woyzeck"-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus.

Das dank e-paper schwer zu handhabende Magazin widmet sich heute ganz dem leidigen Thema Putzen und Ordnunghalten. Vorgestellt wird unter anderem der Schweizer Ordnungs-Künstler Urs Wehrli.

TAZ, 05.03.2005

Im Kultur-Aufmacher feiert nun auch Gerrit Bartels den Abschluss von Walter Kempowskis großem Echolot-Projekt: "Das Tolle an diesem 'Abgesang 45' ist, wie beim 'Echolot' überhaupt, dass Kempowski aus diesem scheinbar nicht zu bändigenden Material große und auch kleinere Motive herauszuschälen versteht. Souverän, gewissermaßen mit heißem Herzen, aber kühlem Kopf arrangiert er seine Themenkomplexe und macht so aus jedem Teil des 'Echolots' auch einen eigenständigen, in sich abgeschlossenen. 'Abgesang 45' ist Schlussakkord, Höllenfahrt und strukturiertes Chaos."

Weitere Artikel: Harald Fricke verkündet den mit der großen Einzelausstellung im New Yorker "Museum of Modern Art" vollzogenen Aufstieg des Fotografen Thomas Demand in die "Champions League" der Kunst. Besprochen wird das bei uns im Kino gezeigte italienische Sechsstunden-TV-Epos "Die besten Jahre". Über scharfen Gegenwind von amerikanischen Behindertenverbänden für Clint Eastwoods Oscar-Gewinner "Million Dollar Baby" berichtet Oliver Tolmein.

In der zweiten taz berichtet Paul Stinson, wie er beinahe der neue Sänger der neu sich formierenden Band "INXS" geworden wäre. Arno Frank erklärt, warum der JuLi-Vorsitzende Jan Dittrich den Löffel abgeben musste. Eine kurze Glosse widmet sich der Werbung für Klingeltöne.

Im taz mag erzählt die Autorin Else Buschheuer eine "Desillusionierungsgeschichte" über ihr Engagement als Praktikantin in einem Mutter-Teresa-Heim in Kalkutta: "Die meisten Praktikanten sind Christen. Aber steht Christentum (Nächstenliebe praktizieren, um in den Himmel zu kommen) nicht im Gegensatz zu Altruismus (Aufopferung Einzelner, um den Fortbestand anderer zu sichern, etwa bei Ameisen oder Schimpansen)? Schon am nächsten Tag fängt die Morgenmesse an, mich zu ärgern. Dieses geheimbündlerische Aufstehen, Hinsetzen, Hinknien, Hinsetzen, Aufstehen. Der Gastpriester, ein Amerikaner, sagt in seiner Predigt ungefähr dreißigmal 'United States of America'. Nachher legt er allen einen Keks auf die Zunge - nur mir nicht." Christian Knoop informiert über "Sex unter Männern in muslimisch geprägten Ländern", der, wie er feststellt, "kein Problem ist, solange einer 'nur aktiv' sein kann und der andere 'kein richtiger Mann' ist." Jan Feddersen porträtiert den schwedischen Krimi-Autor Arne Dahl.

Besprochen werden unter anderem Necla Kelek aufrüttelnde Studie "Die fremde Braut" und Corinne Maiers Polemik "Die Entdeckung der Faulheit". Außerdem "Verwoben", der zweite Roman derAutorin Uzma Aslam Khan, diverse Serienmörder-Romane in der Kolumne "crime scene" und Geschichten von Brigitte Kronauer. (Mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

Und Tom.

SZ, 05.03.2005

Einen veritablen "Kulturbruch" sieht Heribert Prantl in der vom Berliner Rechtsprofessor Günther Jakobs (mehr) ins Spiel gebrachten Idee eines "Feindstrafrechts". Was damit gemeint ist, wird sofort erklärt: "Das normale Strafrecht mit seinen rechtsstaatlichen Regeln sei nur für den normalen Bürger da. Das andere, das radikale Strafrecht, für alle Feinde des Staates; Jakobs nennt sie "Unpersonen" und er meint damit Terroristen, organisierte Kriminelle, Sexualstraftäter - kurz alle,"die sich dauerhaft vom Recht abgewandt haben". Die sollen von den Rechtsgarantien des normalen Strafrechts nicht mehr profitieren. Die Feinde müssen, formuliert Jakobs, außerhalb des Rechtsstaates "kaltgestellt" werden." Prantls Kommentar ist bündig: "Wenn der Staat Menschen, die sich vom Recht abgewandt haben, nicht nach dem Recht behandelt, ist er kein Rechtsstaat mehr. Dann stirbt er an seiner vermeintlichen Verteidigung."

Weitere Artikel: In einem recht ausführlichen Artikel verteidigt Ijoma Mangold den absurderweise in den Ruf eines Holocaust-Leugners geratenen Schriftsteller Rolf Hochhuth, und zwar vor allem gegen sich selbst und auch gegen Gedichte, die so schlecht sind, "dass es einen förmlich aus den Latschen haut". Abgedruckt wird die Rede des Schriftstellers Martin Mosebach zur Wiederöffnung des Münchner Lyrik Kabinetts (Website). Über virtuelle Existenzen und ihren Preis, kurz gesagt: über das "Online Role Playing Game" "World of Warcraft", berichtet Jürgen Schmieder. Was es mit einem angekündigten Buch über Hitlers Atombombe auf sich hat, versuchen Jürgen Kühne und Alex Rühle zu klären. Über von der türkischen Zeitung "Vakit" betriebene Hetzen gegen Otto Schily informiert Christiane Schlötzer. Das neue Kunstmuseum Stuttgart hat Gottfried Knapp besucht. Tim B. Müller war dabei, als am Potsdamer Einsteinforum Intellektuelle über die Rolle der Intellektuellen stritten.

Besprochen werden eine Londoner Inszenierung von Winsome Pinnocks U-Bahn-Drama "One Under", ein "Woyzeck" am Hamburger Schauspielhaus, eine Aufführung von Massenets "Werther" an der Wiener Staatsoper, Nuri Bilge Ceylans Film "Uzak" und das neue Buch des Papstes (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende erzählt Michaela Moritz zum fünfzigsten Jahrestag des Besatzungsendes in Österreich eine Geschichte: "Meine Heimatstadt war in zwei Teile geteilt: Im Norden waren die Russen, im Süden die Amerikaner. Die Donau war die Grenze. Immer, wenn man über die Brücke wollte, musste man einen Passierschein haben. Manchmal wurde man trotzdem nicht durchgelassen. Familien waren geteilt, Liebespaare getrennt, Freundschaften zerrissen."

Weitere Artikel: Der irakische Autor Najem Wali erzählt von dem "Tag, an dem ich meinen Karibikanzug gegen eine Marineuniform tauschte". Kurt Kister entwirft aus eigener Erfahrung das Porträt des "Homo fluctuans", des ständig umziehenden Menschen. Zum fünfzigsten Geburtstag von Bambi hat Rebecca Casati den Disney-Chefzeichner Andreas Deja getroffen. Von Freimaurern in Frankreich berichtet Johannes Willms. Im Interview zum Thema "Freundinnen" stellt Alice Schwarzer unter anderem fest: "Wir Frauen können nicht immer die Guten, Reinen, Feinen bleiben, wenn wir uns hineinbegeben in die Männerwelt."