Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2005. In der FR kämpft György Dalos für die Büchersammlung von Werner Schweikert. In der taz erklärt Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus, wie die Menschen die Schönheitswahl abschafften - und wieder einführten. Die FAZ greift den Bestseller "Dschungelkind" von Sabine Kuegler an. In der Welt schildert Bernd Eichinger, wie Parsifal ihn an seine Grenzen trieb. Der Tagesspiegel deckt neue russische Zensurfälle auf.

FR, 14.03.2005

"Ist die deutsche Kultur in der Tat so arm, dass sie nicht einmal imstande ist, ein derart reiches Erbe anzutreten?" Der Schriftsteller György Dalos sorgt sich um die Sammlung von Werner Schweikert, der an die 50.000 Bände von ins Deutsche übersetzter Weltliteratur des 20. Jahrhunderts und 20.000 Ausgaben deutscher Autoren hinterlassen hat. "Es mangelt in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs an Institutionen, die bereit und fast dazu prädestiniert wären, einer derartigen Sammlung ein würdiges Zuhause zu bieten. Was aber fehlt, sind offensichtlich der Wille und die Einsicht, sowohl auf Landes- als auch Bundesebene, dass die damit verbundenen Kosten getragen werden müssen."

Weiteres: Burkhard Müller-Ulrich erregt sich in Times mager, die derzeit nur als E-Paper im Feuilleton zu lesen ist, über den "Müllskandal von Rouen". Dort können Bürger ihre Ängste auf vorformulierte Zettel notieren, in eigens aufgestellte Behälter werfen und sich später ein darauf basierendes Theaterstück anschauen . Auf der Medienseite lotet Tilmann P. Gangloff die Telenovela-Welle in Deutschland aus. Besprechungen widmen sich Armin Petras' Inszenierung von Victor Hugos "Lucretia Borgia" am Schauspiel Frankfurt ("Kein gewohnt beherztes Zupacken, kein Überschuss an Fantasie und Spielwut aus der plötzlich Ernst wird", klagt Florian Malzacher) sowie Roberto Ciullis Montage verschiedener Horvath-Dramen in Mülheim, die er als als "Tanzvergnügen" unter dem Titel "Es geht immer besser, besser - immer besser" präsentiert.

TAZ, 14.03.2005

Im Gespräch mit Brigitte Werneburg sinniert der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus über den Zusammenhang von Schönheit, Biologie und Kultur. "Menschliche Kultur hat, wie schon Darwin bemerkt hat, über den größten Zeitraum hinweg vor allen Dingen für die Entmachtung der (animalischen) Schönheitswahl gesorgt. Erst mit dem 19. und mehr noch mit dem 20. Jahrhundert kommt das Moment der persönlichen 'Wahl' verstärkt auf - und zwar korrelativ zur Schwächung traditioneller sozialer Überlieferungen und Mechanismen. Ausgerechnet das uralte vormenschliche Modell der Schönheitswahl wird (wieder) zum Lösungsmodell. In historischer Betrachtung hat das etwas geradezu Unheimliches. Im Zeichen des postmodernen Schönheitskults werden wir wieder vormoderne Urwesen."

Anlässlich der Berliner Werkschau über Günther Uecker sowie seines 75. Geburtstags gibt Gloria Zein eine kleine Einführung in Leben und Wirken (hier einige Beispiele) des Düsseldorfer Künstlers mit der Sympathie für Nägel. In der zweiten taz zieht Henning Kober eine dramatische Zwischenbilanz des Jackson-Prozesses. "Der Wahnsinn geht weiter. Heute." Susanne Lang trifft kolumnenbedingt einen zitateschleudernden Olaf Henkel. Niklaus Hablützel streut einige Neugkeiten von der Cebit, der "Bikershow der Silikonwelt". Jan Feddersen sieht die deutsche Grand-Prix-Entscheidung als Demonstration gegen Ralph Siegel. Wilfried Urbe berichtet im Medienteil von Vorwürfen gegen ARD und ZDF, sie würden ihre assoziierte Produktionsfirmen quersubventionieren.

Und Tom.

NZZ, 14.03.2005

Hubertus Adam hat eine Ausstellung über Architektinnen der Moderne in Hannover besucht und dort eindrucksvolle Exponate entdeckt, die "Schlaglichter auf bis heute von der Architekturhistoriographie weitgehend ignorierte Karrieren werfen. Beispielsweise auf jene von Paula Marie Canthal, die mit ihrem Kommilitonen und Mann Dirk Gascard Ende der zwanziger Jahre in Berlin als Shootingstar der Architekturszene galt und sogar in den Illustrierten gefeiert wurde. Wettbewerbserfolg reihte sich an Wettbewerbserfolg; nach 1933 ermöglichte der Auftrag des Maharadschas von Indore für einen Luxuszug Canthal die Emigration nach England."

Österreich hat 2005 zum Jubeljahr erklärt und feiert: "Sechzig Jahre Kriegsende, fünfzig Jahre Staatsvertrag und zehn Jahre EU-Mitgliedschaft sind unter anderem würdig zu begehen. Werden Sie mitjubeln", fragt Paul Jandl den Wiener Essayisten Franz Schuh als Auftakt zu einem langen Interview. "Ich werde jubeln, wenngleich nicht mit. Da der Druck zu jubeln ziemlich groß ist und mich als Einzelnen sozusagen auf dem linken Fuß erwischt, habe ich beschlossen, das Ereignis zu privatisieren: Ich werde das Jahr 2005 für mich feiern und es gleichstellen mit dem Schillerjahr."

Weiteres: Gabriele Hoffmann stellt das neue Kunstmuseum Stuttgart vor. Jan-Werner Müller schreibt zum hundertsten Geburtstag des Soziologen Raymond Aron. Besprochen werden eine Ausstellung mit moderner römischer Keramik im Museo comunale d"arte in Ascona und eine Uraufführung eines Werks von Hans Ulrich Lehmann in der Zürcher Tonhalle.

FAZ, 14.03.2005

Einen seltsamen Widerspruch zwischen ergreifend inszeniertem Gedenken und Versagen vor dem islamistischen Terror im Vorfeld , aber auch nach dem Attentat vom 11. März konstatiert Paul Ingendaay in einem Bericht aus Madrid: "Den vierzig, fünfzig oder siebzig Seiten Reportagen, Chronologien, den Geschichten der Todesopfer und Verletzten, die jede spanische Zeitung in diesen Tagen gestemmt hat, entspricht kein vergleichbares Gewicht an Analyse, Beleuchtung des ideologischen Hintergrunds der Täter oder einer Bewertung der neuen Problemlage. Es könnte so aussehen, als brauchte Spanien nur das zu tun, was es seit je gut konnte - zusammenstehen, das Herz öffnen, Kerzen anzünden -, um sich den islamistischen Terror vom Hals zu schaffen. Oder noch naiver: Vielleicht glauben die Menschen ja, mit 191 Toten und dem Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak sei die Rechnung bezahlt, und jetzt seien andere an der Reihe."

Im Aufmacher prangert Eberhard Rathgeb unter Rückgriff auf Informationen der "Gesellschaft für bedrohte Völker" das Buch "Dschungelkind" der "Geschäftsführerin Sabine Kuegler" (mehr hier) an: Der Bestseller, der von der Kindheit der Autorin in Westpapua erzählt, verschweige, dass ihr Vater im Auftrag der Wycliff-Bibelgesellschaft unterwegs gewesen sei und dass die Ureinwohner von Westpapua von der indonesischen Zentralregierung verfolgt wurden: "Da lachen die Deutschen. Die Ureinwohner verstehen Spaß." Weitere Informationen ("Ein Buch, das nicht beschönigt und die Zerrissenheit nicht ausspart") finden Sie auch im FAZ-Buchshop.

Weitere Artikel: Ulf von Rauchhaupt meldet Zweifel an den Beweisführungen Rainer Karlschs in seinem heute erscheinenden Buch über Hitlers angebliche Atombombe ("Hitlers Bombe") an. In einer Meldung wird nachgewiesen, dass es in der taz einen Verriss des Buchs "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly gegeben hat. Edo Reents schildert in der Leitglosse, wie er an Bahnschaltern, am Telefon und auf den Frühling wartet. Hanser-Verleger Michael Krüger schreibt den Nachruf auf seinen Kollegen Karl Blessing. Malte Herwig hat in Weimar eine Tagung über den Begriff des "Deutschen Buchs" verfolgt.

Auf der letzten Seite legt Peter Jochen Winters dar, dass dem im KZ inhaftierten Verleger Peter Suhrkamp möglicher Weise nicht nur von Arno Breker, sondern auch vom SS-Journalisten Giselher Wirsing geholfen worden war. Und Andreas Rossmann porträtiert den Verleger Stefan Weidle (mehr hier), der in Leipzig den Kurt-Wolff-Preis erhalten wird.

Besprochen werden Hiner Saleems Film "Wodka Lemon", Victor Hugos Stück "Lucrezia Borgia" in Armin Petras' Frankfurter Inszenierung, ein "Eingebildeter Kranker" in Thomas Langhoffs Deutung im Münchner Reisdenztheater und eine neue Oper von Michael Nyman in Karslruhe.

Welt, 14.03.2005

Produzent Bernd Eichinger erzählt im Interview mit Holger Kreitling und Kai Luehrs-Kaiser , wie sehr ihn seine erste Opern-Regie, Wagners "Parsifal" an der Deutschen Oper, mitgenommen hat: "Es geht bis an die Grenze meiner Schaffenskraft, dieses eine Stück in den Griff zu bekommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das mit dem 'Ring' funktioniert. Ich habe mich eineinhalb Jahre auf 'Parsifal' vorbereitet, nicht ausschließlich und exklusiv, versteht sich, aber dennoch. Wie viel Wagner wollen Sie am Tag hören? Spätestens nach sieben, acht Stunden sind Sie geschafft."

Vor hundert Jahren wurde Raymond Aron geboren, der Soziologe Wolf Lepenies erinnert an den großen französischen Denker, der sich immer wieder sein "deutsches Denken" hatte vorwerfen lassen müssen: "Viele Franzosen sahen in Deutschland ein Reservat des Irrationalismus; dort konnten sich die geborenen Cartesianer von den Anstrengungen der Vernunft erholen. Aron aber fand durch Kant zum Skeptizismus und durch Max Weber zu politischer Nüchternheit. Diese Nüchternheit und eine starke innere Unabhängigkeit haben ihn letztlich daran gehindert, die französische Politik stärker zu beeinflussen. De Gaulle war zu autoritär, Giscard d'Estaing zu eitel, um auf ihn zu hören. Henry Kissinger war Arons Schüler, aber Aron wurde kein französischer Kissinger... Sein Skeptizismus bewahrte ihn vor den Illusionen seines Klassenkameraden und Konkurrenten im Kampf um die intellektuelle Vorherrschaft in Frankreich: Jean-Paul Sartre. Sartre wurde verehrt oder gehasst; Aron wurde geachtet und kritisiert. Sartre engagierte sich ununterbrochen und irrte sich oft; Aron blieb meist distanziert und behielt fast immer recht."

Tagesspiegel, 14.03.2005

Jens Mühling berichtet aus Moskau von neuen Fällen kaum verhohlener Zensur gegen russische Künstler, die sich immer häufiger mit der Sorge um religiöse Gefühle verschleiert: "Rechtsanwalt Michail Woronin reichte beim Samoskworezker Bezirksgericht Klage gegen Wassilij Bytschkow und Marat Guelman ein. Bytschkow leitet das Zentrale Haus des Künstlers, für das Guelman die Ausstellung 'Rossija 2' konzipiert hatte - eine zeitgenössische Kunstschau, die sich explizit als Gegenentwurf zum offiziösen Russland Wladimir Putins definiert. Die Anklageschrift legt Bytschkow und Guelman die 'Erregung religiösen Hasses' sowie 'politischen Extremismus' zur Last. 'Zur Kompensierung des moralischen Schadens' fordert Woronin eine Entschädigung in Höhe von fünf Millionen Rubel (rund 140.000 Euro). Der Anwalt nennt die Ausstellung eine 'von schwer kranken Menschen initiierte Provokation'. Avantgardistische Kunst müsse ihren Platz haben, 'aber wenn Künstler ihre inneren Probleme ausbreiten', sei das 'keine Kunst, sondern Pathologie'.

SZ, 14.03.2005

Recht angetan ist Gustav Seibt von zwei Berliner Kabinettausstellungen über den Maler Adolph Menzel. "Die Künstlichkeit und Kostümhaftigkeit der von ihm geschilderten Welt findet ihre Wahrheit im blitzartig erfassten Moment. Der lässig auf einen Stuhl gefläzte Friedrich der Große wird durch Geste und raschen Blick in ein plötzliches Heute gerissen, das die akribische historische Darstellung der Kleidung aufhebt. Menzel, der Geschichtsmaler, zerreißt in seinen besten Moment das Kontinuum der Zeit zugunsten einer psychologischen Unmittelbarkeit, die alles Illustrative des Accessoires sowohl exponiert wie entwertet. Historismus und Modernität fallen so bei ihm zusammen."

Heute erscheint Rainer Karlschs Untersuchung zu "Hitlers Bombe". Jeanne Rubner hält die darin aufgeführten Beweise für Nuklearwaffentests im Dritten Reich für "äußerst dürftig". Allerdings "belegt Karlsch durchaus seriös, dass die Kernforscher über bislang unbekanntes Know-how verfügten. Carl Friedrich von Weizsäcker etwa meldete 1941 ein Patent an, in dem erstmals das Prinzip einer Plutoniumbombe beschrieben war."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff erzählt die Geschichte von Wassily Kandinskys wieder entdecktem Bild "Zwei Reiter und liegende Gestalt", das nach einem fast hundertjährigen "Dornröschenschlaf" demnächst bei Sotheby's versteigert wird. Tobias Timm beklagt, dass die intelligenten Häuser in Berlin und auf der Cebit an ihrer "dummen Architektur" scheitern. "Die neue Technik steckt meist in spießigen Einfamilienbehältern." Burkhard Müller hat weniger Probleme mit dem Gehalt von Managern als mit der fehlenden Haftung derselben für ihre Entscheidungen. Ira Mazzoni lobt die mustergültige Instandsetzung des "Biblischen Hauses" in Görlitz. Thomas Steinfeld schreibt zum Tod des Münchner Verlegers Karl H. Blessing, der im vergangenen Jahr zum "Verleger des Jahres" gewählt wurde. Auf der Medienseite resümieren Hans-Jürgen Jakobs und Juan Moreno den Vorentscheid beim Grandprix d'Eurovision, bei dem es mal wieder nicht um die Musik ging.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Version von Molieres Komödie "Der eingebildet Kranke" (Thomas Thieringer vermisst die Ernsthaftigkeit), Roland Schimmelpfennigs Drama "Die Frau von früher" in der Fassung von Antoine Uitdehaag im Theater im Haus der Kunst in München, Klaus Sterns Film "Weltmarktführer", eine Aufführung der von Robert Levin vervollständigten c-Moll-Messe Mozarts unter Leitung von Helmut Rilling in Baden-Baden, das fünfte Musica-Viva-Konzert im Münchner Herkulessaal, und Bücher, darunter Richard Swartz' Reportagensammlung aus den Schattenzonen Europas (Swartz berichtet "mit einer Eindringlichkeit, wie seit den Tagen von Joseph Roth nicht mehr geschrieben wurde", staunt Volker Breidecker), die gesammelten Hörspiele von Heinz Rühmann sowie der dritte Band der Erinnerungen von Willy Brandt der Jahre 1947 bis 1966 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).