Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2005. Bei der FR und anderen Zeitungen hinterlässt die Leipziger Buchmesse eine "freundlich gelaunte Gelangweiltheit". Die taz begegnete immerhin einem neuen literarischen Heiland (zumindest wenn man seinen Jüngern glaubt). In der FAZ erklärt Gerhard Stadelmaier, warum er viele "Wilhelm Tells" gesehen hat, aber den Tell, den sieht er nirgends. Und für die SZ läutet die große Bernhard Heisig-Ausstellung in Leipzig eine neue Epoche ein.

FR, 21.03.2005

Christoph Schröder resümiert die Leipziger Buchmesse und berichtet von "freundlich gelaunter Gelangweiltheit" allerorten. Und von den großen Problemen der vielbestaunten Klein- und Neuverlage. "Nicht hauptsächlich die Konkurrenz untereinander dreht an der Finanzschraube und bringt die Kleinverlage in Schwierigkeiten, sondern, so erzählt es Daniela Seel, die wachsende Macht der Barsortimenter, die ihren Neukunden Konditionen anböten, die inakzeptabel seien. Wer das Spiel nicht mitspielt, liegt nicht nur nicht in den Buchhandlungen aus - er existiert für die Buchhändler schlichtweg nicht."

In Times mager spottet sich Michael Rudolf über "gefühlte Temperaturen" und all ihre "gefühlten" Schwestern. Auf der Medienseite enttarnt Sebastian Moll den verdeckten Frontmann Armstrong Williams (hier entschuldigt er sich für die Interessensverquickung im Zusammenhang mit Bushs Kinderbildungsprogramm) und die immer dreisteren Bemühungen der amerikanischen Regierung, "Propaganda" und Journalismus zu vermengen. Stephan Hilpold protokolliert Nicolas Stemanns bilderreiche Uraufführung von Elfriede Jelineks "Babel" in Wien. Am Ende meint Hilpold "Quaquaqua". Zu Beginn fühlt er sich wie auf der eigenen Fernsehcouch. "Es war noch ziemlich am Anfang, noch bevor sich die Jungs ganz splitternackt, frech und schamlos vor das Publikum stellten und 'hinschauen!' riefen, da lief die Sitcom Die Jelineks. Aus dem Off wurde geklatscht und gejohlt, wie das eben so ist bei diesem Fernsehformat, und auf der Bühne machten sich die Darsteller gegenseitig fertig. Besprochen wird außerdem Sam Shepards Stück "Fool for Love" in Corinna von Rads Inszenierung am Schauspiel Frankfurt.

TAZ, 21.03.2005

Gerrit Bartels wird von dieser "unspektakulären, nicht wirklich zwingenden" Ausgabe der Leipziger Buchmesse vor allem die fanatischen Kritikerjünger des Uwe Tellkamp im Gedächtnis behalten, die ihm mit Pathos jeglicher Coleur das Fürchten lehren. "Ein neuer literarischer Heiland ist uns geboren! Und nicht nur ein literarischer, sondern ein ordentlich nationalbewusster dazu, und mit diesem können wir sie endlich hinwegfegen, die Spaßguerilla, die Ironiker, die alten 68er mit ihren 'Wohlstandshintern'!"

"Unwirklich, sinnlos, aber berauschend schön wie ein Akkord von Richard Wagner." Niklaus Hablützel kann aus Bernd Eichingers Fassung des "Parsifal" an der Berliner Staatsoper zur eigenen Verwunderung keine Bedeutung herauspressen und gibt sich schließlich Musik und Bildern hin. "Barenboim hat keine Hemmungen, jeden noch so trivialen Reiz dieser Partitur auszukosten, und Bernd Eichinger hat zumindest den Kern der Sache ebenso gut verstanden. Er sucht keinen tieferen Sinn in dem Gefasel der Gralsritter, er sucht Einstellungen für die richtigen Bilder zu dieser Endlosmusik. Und er findet sie dort, wo er herkommt. In Hollywood, im großen Kino aus den großen Studios. Das ist sehr gut, enttäuscht jedoch systematisch alle Erwartungen der Wagner-Gemeinde, und zwar sowohl der Anhänger wie der Feinde. Kein Skandal, nirgends, keine Nazis und keine Schwulen, nicht mal ein bisschen kritische Dekonstruktion".

In der zweiten taz kommentiert Bettina Röhl das geplante Anti-Diskriminierungsgesetz (hier der Gesetzesentwurf als pdf). Jan Feddersen registriert, dass nicht mal das "alternative Milieu" dem angezählten rot-grünen Parteienbündnis eine Träne nachweint. Außerdem meldet er, dass der Libanon nicht am Eurovision Song Contest teilnehmen darf, weil er Israels Beitrag ignorieren wollte. Peter Unfried denkt über den Beitritt zu den weinschlürfenden "Gastro-Linken" nach. Im Medienteil schildert Jenni Zylka den Abend der Grimme-Preis-Verleihung in Marl, das so überhaupt nicht Hollywood ist. "Statt angesäuselte Filmstars in schummerigen Ecken knutschen zu sehen, diskutiert man hier auch nach drei Uhr noch lieber über Qualitätsfernsehen."

Und Tom.

FAZ, 21.03.2005

Gerhard Stadelmaier, der große Theaterkritiker, ist mal wieder verzweifelt. 2005 ist Schillerjahr, und das deutsche Theater bringt nur unernste Aktualisierungen. Doch den Tell zum Beispiel, den würde Stadelmaier gern mal sehen: "Diese große, einsame, mit sich, seiner Wut, seiner Ohnmacht, seiner Welt völlig allein gelassene Figur, diesen Tell, der auf das eigene Kind schießen muss, der nirgends mitmachen will, aber zum Meuchelmörder werden muss, damit andere, die ihm herzlich egal sind, ihre Freiheitsschäfchen ins trockene bringen, diesen Eigenbrötler, diesen Mann, der sich seine Welt, seine Berge, seine Existenz zusammendichtet wie ein Bauernlyriker, der aus dem schönsten Versmaß heraus den Pfeil zum Tyrannenmord zieht, diesen Kerl, durch den plötzlich ein Riss geht: zwischen Fühlen und Müssen, Geschichte und Subjekt, diesen zerrissenen Modernen..."

Weitere Artikel: Christian Geyer verfasst der Buchmesse erbauliche Betrachtungen zum Abschluss der Leipziger Buchmesse. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, die sich mit der restrikiven Informationspolitik der amerikanischen Regierung befassen. (Er zitiert hier unter anderem einen Artikel von Lori Robertson in der American Journalism Review).

Auf der Medienseite porträtiert Karen Krüger Annette Ernst, einst Wetterfee beim Hessischen Rundfunk, die jetzt für "Kiss and Run", ihren ersten Spielfilm, den Grimme-Preis erhielt. Michael Seewald stellt die junge Schauspielerin Pauline Knof vor, die heute Abend im ZDF-Film "Durch Liebe erlöst" mitspielt. Und Michael Stabenow berichtet, dass deutschsprachige Medien in Belgien an Terrain verlieren.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann daran, dass der spätere bosnische Nobelpreisträger und Künder der Harmonie Jugoslawiens Ivo Andric zur Zeit des Zweiten Weltkrieg Botschafter in Berlin war und auch Beziehungen zu Carl Schmitt unterhielt. Dieter Bartetzko meditiert über Donald Trump, den heraufziehenden Manchesterkapitalismus und Hochhausbauten in Frankfurt am Main. Und Peter Brosche stellt richtig, dass Johann Sebastian Bach nicht am 21. März, sondern - nach heutiger Rechnung - am 31. März geboren wurde, denn seinerzeit galt noch der julianische Kalender.

Besprochen werden die Uraufführung der Choreografie "Frank Bridge Variations" von Hans van Manen in Amsterdam, ein Auftritt des Autors Tad Williams auf der lit.Cologne, Bernd Eichingers "Parsifal"-Inszenierung unter Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper ("Fast alle Partien sind aus dem Hausensemble besetzt. Es wird, bis in die Nebenrollen hinein, hinreißend klangschön und sauber gesungen, dazu genau artikuliert", versichert Eleonore Büning und auch, dass Eichinger als Opernregisseur nicht geeignet sei), Elfriede Jelineks neue "Textfläche" (so Erna Lackner) "Babel" in Wien, die Ausstellung "Jüdische Identität in der zeitgenössischen Architektur" im Jüdischen Museum Berlin und Sachbücher, darunter ein Buch über den Vatikan und die Juden.

NZZ, 21.03.2005

Lilo Weber unterhält sich mit Regisseur Woody Allen über seinen neuen Film "Melinda und Melinda" und die Tragik des Lebens: "Es gibt nicht so etwas wie das Tragische und das Komische - alles ist tragisch. Die einen Menschen sehen das Leben als Tragödie und halten Tragödien aus, andere sehen das Leben so tragisch, dass sie darüber Witze machen - weil sie nichts anderes zu tun wissen. Das Leben ist tragisch für beide. Dasselbe gilt für Filme. Man kann sich 'Ladri di biciclette' von Vittorio De Sica oder 'Das siebte Siegel' von Ingmar Bergman anschauen und sieht einen traurigen Film über Leben und Tod, dann schaue ich mir einen Fred-Astaire-Film an und sehe eine wunderbare Flucht davor. Beide sind tragisch. Einer versucht der Tragödie zu entfliehen, aber das gelingt nur für kurze Zeit. Der andere flieht nicht, sondern entwickelt das Drama aus der Tragödie heraus. Im Endeffekt ist alles Tragödie."

Weiteres: Trotz aller Wachstumszahlen hat Roman Bucheli auf der Leipziger Buchmesse "viele lange Gesichter und hängende Mundwinkel" erblickt, was er sich mit der generellen "Gemütslage in Deutschland im Jahr sechzehn nach der Wende" erklärt. Und für Roman Hollenstein geht die Verleihung des Pritzker-Preises, des Nobelpreis für Architektur, an den Amerikaner Thom Mayne vom Büro Morphosis völlig in Ordnung.

Besprochen wreden die Ereignisse vom Wochenende: "Speziell lustig ist es nicht. Intelligent und - bei aller Drastik - subtil schon", schreibt Barbara Villiger Heilig über Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks "Babel" in Wien, die sie als brillantes Moralkunstwerk erlebt hat. "Endlich wieder einmal Oper, wie man sie sich erträumt, aber so selten mehr bekommt", seufzt Peter Hagmann behaglich nach der Aufführung von Benjamin Brittens "Peter Grimes" bei den Osterfestspielen Salzburg. Außerdem besprochen wird Samuel Schwarz' "Andorra"-Inszenierung in Basel.

Tagesspiegel, 21.03.2005

Auch Christine Lemke-Matwey hat Bernd Eichingers "Parsifal" an der Berliner Staatsoper gesehen - und fand ihn fürchterlich: "Wo Leute vom Fach wie Wieland Wagner, Ruth Berghaus oder Peter Konwitschny im Angesicht des 'Parsifal' noch Weltpakete schnürten und mit roten Backen nach verborgenen Botschaften buddelten, da gibt sich der Kinomensch Eichinger schlicht naiv. Man kann das ehrlich nennen oder feige oder dumm. In jedem Fall führt dieser andere, vermeintlich unbescholtene und freie, ja gleichsam 'erlösende' Blick, der Blick des Dilettanten nämlich - und das ist eine sich wiederholende Beobachtung zum Thema 'Filmemacher in der Oper' -, schnurstracks dorthin zurück, wo die Opernregie vor gut einem halben Jahrhundert begonnen hat, ihr sprichwörtliches Bärenfell abzuschütteln. Das wiederum interessiert alle selbsternannten Opern-Piraten herzlich wenig. Die Welt, sagt Eichinger, und das scheint für das Musiktheater ebenso zu gelten wie fürs Kino, für den 'Untergang' wie für Richard Wagner, sie bedeutet nichts, sondern sie ist. Weg also mit dem rezeptionsgeschichtlichen Müll und Schmus! Back to the facts!"

SZ, 21.03.2005

Jens Bisky freut sich über die differenzierte Auseinandersetzung mit dem als Staatskünstler der DDR verrufenen Bernhard Heisig im Leipziger Museum der bildenden Künste. "Mit dieser Ausstellung kann eine neue Epoche im Umgang mit Kunst aus der DDR beginnen. 1999 wurde sie in Weimar als Ramsch der Geschichte denunziert, im gleichen Jahr in Apolda nach Spuren des 'Westlichen' durchsucht. Die Ausstellung der Berliner Nationalgalerie 'Kunst in der DDR' wählte den Ausweg in Historismus und Ästhetizismus. Politische Verdammung wie Lob durch das Kunstsiegel scheinen zwei verwandte Möglichkeiten des Ausweichens, beide recht schulmeisterlich . In Leipzig, bald auch in Düsseldorf und Berlin, sind die Widersprüche zu besichtigen, das Ineinander von Größe und Kleinheit. Es war an der Zeit."

Johan Schloemann blickt zurück auf eine ebenso unspektakuläre wie stimmungsvolle Buchmesse in Leipzig. "Je mehr man sich umschaut, desto flüchtiger wird der bestimmende Trend, den die Kritik ebenso gerne ausmachen will wie - siehe oben - eine hin und her geschüttelte, aber im ganzen recht rüstige Buchbranche. Wer alle 2142 Ausstellerstände gesehen hat, wird vielleicht nur einen einzigen ganz unbestreitbaren Trend dieser Buchmesse ausmachen können: den, dass sich der milchkaffeefarbene Cord-Anzug bei jüngeren Freunden des geschriebenen Wortes ungebrochener Beliebtheit erfreut."

"Im leeren Raum zaubert er Welt, meist ohne Möbel, ohne Requisiten, selbst das Licht spielt eine untergeordnete Rolle." C. Bernd sucher gratuliert dem verehrten Theaterregisseur Peter Brook zum achzigsten Geburtstag. Alex Rühle besichtigt verschiedene Arten der Kunst der Abdankung. Arno Orzessek ist sich nach der Abschlusstagung der Kommission zur Mittäterschaft deutscher Wissenschaftler im Nationalsozialismus sicher, dass bald eine "denkbar umfassende Materialsammlung zur wechselseitigen Befruchtung von Wissenschaft und Verbrechen" vorliegen wird. Dank Stefan Raab ist die Grimme-Preis-Verleihung nicht zur reinen Familienfeier ausgeartet, meint Hans Hoff in seinem Report auf der Medienseite. Und auf der Literaturseite berichtet Gerald Schmickl von der wenig beachteten fünften Lit.Cologne.

Besprechungen gelten Bernd Eichingers Inszenierung von Richard Wagners "Parsifal" an der Berliner Staatsoper ("Beobachtungen, wonach Intendant Peter Mussbach und sein Haus bei dieser Aufführung künstlerisch 'baden' gegangen seien, wie die Deutsche Presseagentur gestern meldete, können nicht bestätigt werden, meint Wolfgang Schreiber), Nicolas Stemanns Uraufführung von Elfriede Jelineks "Babel" am Wiener Burgtheater ("die B-Seite der ewigen Jelinek-Leier", ächzt ein genervter Christopher Schmidt), Lasse Spang Olsenders Gangsterkomödie "Old Men in New Cars", der Auftritt John Fogertys von "Creedence Clearwater Revival" in Köln, und Bücher, darunter Jens Baumgartens Untersuchung zur katholischen Bildpropaganda "Konfession, Bild und Macht" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).