Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2005. Die Welt fragt sich, warum die Anstöße in der historischen Forschung fast nur noch von Außenseitern der Zunft kommen. Die NZZ hilft Flamen und Wallonen beim Auffinden von Gemeinsamkeiten. Die SZ sieht sich im Museum zu den Atombombenversuchen in Los Angeles um.

Welt, 11.04.2005

Im Feuilleton fragt sich Berthold Seewald warum Anstöße für zeitgeschichtliche Debatten eigentlich nur noch von "Außenseitern" der Zunft wie Jörg Friedrich oder Götz Aly kommen. "Zwar lebten noch nie so viele Akademiker in Deutschland wie heute. Aber sie haben höchstens noch die formalen Abschlüsse, nicht aber mehr auch nur annähernd ähnliche Standards und Erfahrungen gemein. Es verbindet sie höchstens noch die Nivellierung historischer Grundkenntnisse auf die Fähigkeit des naiven Staunens. Aus dieser Perspektive ist es gänzlich unbefriedigend, wenn ein Professor ein ganzes Buch braucht, um zu erklären, warum Hitler für den Holocaust verantwortlich ist, obwohl sich kein schriftlicher Befehl erhalten hat. Schlichte Antworten, klare, oder wie bei Aly, prägnante Antworten sind dagegen gefragt. Und wer sie gibt, erhält den Vertrauensvorschuss, den eine Gesellschaft jenen vorenthält, die sie mit ihren Steuergeldern finanziert. Was kann das Ende gesellschaftlicher Diskursfähigkeit besser illustrieren als der Unmut über ihre zentralen Institutionen. So dürfen wir geradezu dankbar sein, dass uns mit Götz Aly jetzt ein grundsolider, hochorigineller und kompetenter Außenseiter die Geschichte erklärt. Die nächsten Goldhagens werden schon noch kommen."

Auf den Forumsseiten erklärt Mark Leonard, Direktor für Internationale Politik am Centre for European Reform in London, warum Europa im 21. Jahrhundert mächtiger sein wird als die USA: "Die einsame Supermacht kann bestechen, überreden, einschüchtern oder ihren Willen fast überall in der Welt durchboxen - aber sobald sie sich wieder abwendet, verschwindet die Wirkung. Die Stärke der EU hingegen ist breit und tief: Geraten Länder in ihre Einflusssphäre, verändern sie sich für immer. Im Verlauf der letzten 50 Jahre hat Europa unter dem Schutz Amerikas eine Gemeinschaft der Demokratie begründet und die Macht des Marktes wie der Visionen genutzt, um Gesellschaften von innen zu erneuern. So wie Indien, Brasilien, Südafrika und selbst China sich wirtschaftlich entwickeln und politisch reifen, so wird das Modell Europas eine unwiderstehliche Anziehungskraft entwickeln; der Raum der Prosperität und Sicherheit wird sich vergrößern. Die von der EU angezogenen Staaten werden mit uns gemeinsam ein neues europäisches Jahrhundert begründen."

FR, 11.04.2005

Im Geburtstagsartikel für den Jazzmusiker Emil Mangelsdorff, der achtzig Jahre alt wird, gibt Hans-Jürgen Linke auch einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Frankfurter Jazzszene. "Das dritte Kapitel des Frankfurter Jazz nach dem Hot Club und der Ami-Club-Phase war zugleich ein erster Schritt in die organisatorische Selbständigkeit der regionalen Szene, der eine sich entwickelnde stilistische Selbständigkeit gegenüber den amerikanischen Vorbildern entsprach. Diese Phase begann wieder mit einem Club, der nach Pariser Vorbild ein Domicile du Jazz ins Leben rief; aus dieser Initiative entstand der Jazzkeller in der Kleinen Bockenheimer Straße, der für mehrere Jahrzehnte das Zentrum der Frankfurter Szene war."

Ulrich Clewing hat bei Vanessa Beecrofts Performance mit hundert nackten Frauen in der Berliner Neuen Nationalgalerie überraschenderweise Eindruckvolles erlebt, wie er in Times mager notiert. "Aus dem Nackten wurde das Kreatürliche, aus dem Voyeurismus die Selbstbeobachtung." Auf der Medienseite unterhält sich Antje Hildebrandt mit Oliver Kalkofe, der sein Lieblingsmedium Fernsehen immer mehr zu verachten scheint. Nicht nur die Privaten. "ARD und ZDF - das ist eine Mischung aus Altersheim und Finanzamt." Besprochen wird James L. Brooks' "Spanglish", eine Komödie über die Grenzen der Sprache voll "Wahnwitz, Melancholie und diesem Sitcom-Gefühlschaos" sowie Helga Grebings' "materialreiche" Familiengeschichte "Die Worringers".

NZZ, 11.04.2005

Vor 175 Jahren wurde Belgien gegründet, seit 175 Jahren wird Wallonen und Flamen die gemeinsame nationale Identität abgesprochen. Marc Zitzmann hilft beim Finden von Gemeinsamkeiten: "Typisch belgische Eigenheiten sind ein stark ausgeprägter Sinn für (faule) Kompromisse, das mit der Muttermilch eingesogene Misstrauen gegenüber jeder Obrigkeit, eine Versessenheit aufs Bauen von Einfamilienhäusern (oder, staatlicherseits, von Schnellstrassen), die einhergeht mit einer weitgehenden Blindheit in städtebaulichen Belangen, die Fähigkeit zum Durchwursteln noch durch den tiefsten Schlamassel und eine nicht selten mit Denkfaulheit gepaarte Impulsivität - dem ersten Regierungschef der Nachkriegszeit, Achille Van Acker, gebührt diesbezüglich das Verdienst, die Vorgehensweise unzähliger Politiker und/oder Landsleute auf den Punkt gebracht zu haben: 'D'abord j'agis et puis je reflechis': erst handeln, dann denken."

Zum hundertsten Geburtstag des unglücklichen ungarischen Dichters Attila Jozsef schreibt Karl-Markus Gauß: "Aus der Armut, die über seine Kindheit verhängt war, konnte sich Attila Jozsef zeitlebens nicht herausarbeiten - und das, obwohl sich die maßgeblichen Literaten seiner Zeit völlig im Klaren waren, es bei ihm, der mit siebzehn seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, mit einem der bedeutendsten Dichter ihrer Sprache zu tun zu haben. Auch Attila Jozsef selbst war sich durchaus bewusst, dass er zwar von ganz unten, aus dem Absud der ungarischen Gesellschaft kam, aber zum Sänger der ganzen Nation berufen war und sein Lied vom Rand her sang, aber mit ihm ans Herz der Epoche rührte. Er, der sich mit so vielem quälte, war frei von dem Selbstzweifel, als Dichter Bedeutendes zu schaffen, ja er wusste, dass er gewissermassen die Stimme der Dinge selber war. 'Ob's grauenvoll, ob es großartig ist: / Nicht ich bin es, der schreit, die Erde dröhnt.'"

Besprochen werden die letzte von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung "La Belgique visionnaire" in Brüssel und die Diane-Arbus-Werkschau des Metropolitan Museum in New York, deren Bilder auf Andrea Köhler wie ein Zauberstab wirkten: "Es ist der Stab einer Fee, die beides - Sujet und Betrachter - in den Bann eines bösen Märchens schlägt."

TAZ, 11.04.2005

Der amerikanische Publizist und Sprachforscher Noam Chomsky, der lapidar als einer der "wichtigsten Intellektuellen" vorgestellt wird, redet sich im Interview mit Eric Chauvistre seine Wut über den Filz aus Regierung, Wirtschaft und Intellektuellen von der Brust. "Wüssten die Leute von all diesen Dinge, sie würden es nicht zulassen. Hier stimme ich übrigens völlig mit denjenigen überein, die in der Wirtschaftswelt und in den Regierungen an der Macht sind. Das ist der Zweck der Propaganda. Darin sehen auch die Intellektuellen ihre Aufgabe. Jedes Machtsystem ist darauf ausgerichtet, zu verwirren - egal ob es um die Industrie, die Regierung oder auch um die intellektuellen Communities geht. Wenn die Leute die Wahrheit wüssten, würden diese Machtsysteme nicht mehr funktionieren.

Robin Detjes Klage über den wachsenden Einfluss der Werbekunden und den Rückzug des Journalismus in den Qualitätszeitungen ist nach dem Perlentaucher (hier) nun auch in der taz zu lesen. "Einmal, in uralten Zeiten, die vielleicht aus anderen Gründen keine besseren Zeiten waren, saßen die unberechenbaren und kreativen Redakteure des innovativen Printprodukts ZEIT-magazin auf dem Redaktionsflurteppich und kifften. Da kam ein mürrischer, kleiner Mann des Wegs, in einem Staubmantel, mit einem Honeckerhütchen, und stieg über sie hinweg. 'Wer ist denn dieser Spießer?', rief ein voll gedröhnter Redakteur. Es war Gerd Bucerius, dem der ganze Laden gehörte und der nun in seinem Büro verschwand."

Auf der Meinungsseite hält Thomas Schäfer einen Werteunterricht, wie er von der Berliner SPD geplant wird, für toleranzfördernd und fanatismusmindernd. Dietmar Kammerer schildert im Feuilleton den Streit um den jetzt von der Branche selbst vergebenen Deutschen Filmpreis, der an den alten Fronten Kunst und Kommerz ausgetragen wird.

In der zweiten taz gibt Ariel Magnus einen Überblick über die Fortschritte in der Entwicklung von Sexpuppen. Angefangen hat wie immer alles bei den Nazis, nach einem kurzen Zwischenspiel der Real Dolls aus Kalifornien ist die Avantgarde mit dem Androiden Andy aus Nürnberg nun wieder in Deutschland zu Hause. Jürgen Gottschlich berichtet, dass der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk nach Kritik am Umgang mit der Armenierfrage erst einmal untertauchen musste. "Der Schaum meines Latte Macchiato fällt langsam in sich zusammen." Susanne Lang mag Alexander von Schönburgs ("Die Kunst des stilvollen Verarmens") Plädoyer für Konsumverzicht bei ihrem Treffen in einem Berliner Cafe nicht lange folgen.

Besprochen werden Istvan Szabos Film "Being Julia", in dem Darstellerin Anette Benning "leuchten" darf, und Katja Blombergs Buch "Wie Kunstwerte entstehen" über die Wertschöpfungskette im Kunstbetrieb.

Und nicht vergessen: Tom.

FAZ, 11.04.2005

Im Aufmacher kommentiert Hubert Spiegel die Empfehlung des Rats für Rechtschreibung, zu den alten Regeln der Zusammen- und Getrenntschreibung zurückzukehren, als einen Sieg der beharrenden Kräfte in den Medien. In der Leitglosse berichtet Jürg Altwegg über die jüngsten Schülerproteste in Frankreich ("Seit dem Verschwinden der Arbeiterklasse bündelt die Schule das Unbehagen in der Gesellschaft"). Wolfgang Sandner gratuliert dem Saxofonisten Emil Mangelsdorff zum Achtzigsten. Martin Kämpchen beschreibt das Verhältnis Indiens zu Papst Johannes Paul II. Felicitas von Lovenberg schreibt zum Tod des Filialbuchhändlers Heinrich Hugendubel. Oliver Tolmein erwägt juristische Konsequenzen aus dem Fall Terri Schiavo. Gina Thomas berichtet von einer Veranstaltung zur Wiederauflage von Sebastian Haffners Buch "Deutschland - Jekyll and Hyde" im Deutschen Historischen Institut von London. Heinrich Wefing meldet, dass das Berliner Landhaus am Rupenhorn der Architekten Luckhardt und Anker, ein Monument der klassischen Moderne, restauriert wurde.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass Niedersachens Ministerpräsident Christian Wulff seinem Land ein größeres Gewicht im NDR geben will. Robert von Lucius skizziert den immer größeren Einfluss der Sozialdemokraten auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (SVT) in Schweden. Gemeldet wird, dass nach einem kalifornischen Urteil Blogger in den USA, anders als Journalisten, keinen Anspruch auf Quellenschutz erheben dürfen.

Auf der letzten Seite erinnert Dietmar Dath an den katholischen Geologen und Mystiker Teilhard de Chardin. Katja Gelinsky schreibt, dass in Colorado ein Todesurteil zurückgenommen wurde, weil sich die Geschworenen auf die Bibel berufen hatten. Und Stefanie Schramm meldet, dass Wissenschaftler am Beispiel der Hefe die Vorteile der sexuellen Vermehrung nachgewisen hätten.

Besprochern werden zwei Adolph-Menzel-Ausstellungen in Berlin und eine Ausstellung über Elias Canetti in Zürich sowie Sachbücher, darunter Neuerscheinungen über europäische Kultur- und Sprachenpolitik.

SZ, 11.04.2005

In Las Vegas besucht Andrian Kreye das Museum zu den Atombombenversuchen auf dem erstaunlich nahe gelegenen Testgelände. "Die großen Kasinos wie das Sands und das Sahara veranstalteten damals Parties, bei denen Cocktails mit Namen wie Rocket Man und Cognac Zoom serviert wurden. Höhepunkt des Abends war das mächtige Aufflammen des Nachthimmels und das Aufsteigen der pilzförmigen Wolken am Horizont." Im Museum kann man auch die Einstellung zu Atomkraft wie Atombombe nachvollziehen, die zunächst verspielt bis optimistisch war. "In einer Glasvitrine sind kitschige Artefakte zu sehen -- eine Schachtel Frühstücksflocken, der ein bunter Atombombenring beigelegt ist, ein 'atomares Nähset' und ein Weinkorken mit einer Miniatur der Nagasakibombe. Ähnlich makabren Kitsch kann man später auch im Souvenirladen erwerben, obwohl dort den Schlüsselanhängern mit Miniaturen der Bomben von Hiroshima und Nagasaki der Ironiefaktor fehlt."

Weitere Artikel: Das religiöse Wissen sollte von denen vermittelt werden, die sich damit auskennen, meint Johan Schloeman zum Plan der Berliner SPD, staatlichen Werteunterricht einzuführen. "Das Paradoxe daran ist, dass eben jene weltanschauliche Neutralität des Staates, mit der man diese Zurückdrängung des konfessionellen Unterrichts begründet, in einem obligatorischen 'Werteunterricht', den behördliche Lehrplankommissionen nun zu gestalten haben, viel eher mit Füßen getreten wird." Henning Klüver hofft, dass sich das Orchester der Mailander Scala nach der erfolgreichen Vertreibung von Riccardo Muti nicht auch hinter dem neuen Dirigenten verstecken wird. Frankreich redet sich die Kolonialzeit schön, meint Clemens Pornschlegel, der unter anderem von staatlich verordneter Geschichtsschreibung berichten kann. Die Streicher hören sich noch etwas diffus an im neuen "auf pompöse Art verspielten" Palast der Künste in Budapest, urteilt Gerhard Persche mit Kennerohr. "Die Feinabstimmung braucht Zeit."

Markus Zehentbauer sorgt sich um "Entry", die Weltausstellung für Design und Architektur, die 2006 auf dem Gelände der Essener Zeche Zollverein stattfinden soll (mehr). Noch ist aber nicht mal die Nutzung der historischen Räumlichkeiten gesichert. Christian Kortmann hat bei einer Diskussion der Nürnberger Akademie für Fußballkultur (mehr) erlebt, wie wenig ergiebig es ist, einfach nur über Fußball zu plaudern. Christoph Wiedemann hat sich mit der Kunstakademie München in Wildbad Kreuth auf das 200. Gründungsjahr vorbereitet, mit einer Tagung über jene Tage, als das Institut noch "Weltgeltung" besaß. Auf der Medienseite schildert Ben Bucerius die große Freude, die die sauerländische Gemeinde Olpe überfiel, als Fernsehpfarrrer Fliege für eine Woche ihr Hirte wurde.

Rezensionen gelten der "bemerkenswerten, hellen und schön präsentierten" Ausstellung über das "Romanische Frankreich" im Pariser Louvre, einem Konzert des Pianisten Ivo Pogorelich in München, James L. Brooks' Filmkomödie "Spanglish", und Büchern, darunter die von Dieter Lamping betreute Werkausgabe von Alfred Andersch im Diogenes Verlag sowie der letzte Band des "Historischen Wörterbuchs für Philosophie" aus dem Baseler Schwabe Verlag.